3. Berichterstattung und Einschätzungen zu den Ereignissen in Genua

"Ein außergewöhnlicher Tag"

Artikel von Cyrus Salimi-Asl, Genua, aus 'junge Welt' vom 21.07.2001 - Zehntausende Menschen demonstrierten in Genua am Vorabend des G-8-Treffens

Über 50 000 Menschen waren am Donnerstag abend bei der Demonstration der Migranten in Genua auf der Straße. Ein "außergewöhnlicher Tag", erklärte Vittoria Agnoletto, Sprecher des Netzwerks Genoa Social Forum, das die Gegenveranstaltungen zum G-8-Gipfel organisiert hat. "Wir hatten vorher gesagt, daß 15 000 Teilnehmer ein Erfolg wären. Jetzt waren es gleich viermal soviel." Die Teilnehmer der Demonstration protestierten gegen das Treffen der G 8 und insbesondere gegen die Politik der US- Regierung gegenüber den Entwicklungsländern.

Die Protestkundgebung in der italienischen Hafenstadt verlief äußerst ruhig, bisweilen sogar langweilig. Nur einige Gruppen hatten sich mehr als die üblichen Spruchbänder einfallen lassen. Eine Gruppe aus Großbritannien hatte sich verkleidet wie zum Gay Pride und tanzte in bunt-neckischen Kostümen vor den Polizisten. Aus Wien war die sogenannte Volxtheaterkarawane angerückt, die sich ähnlich ausstaffiert hatte wie die Polizisten. Vittoria Agnoletto zeigte sich vor allem darüber zufrieden, daß es zu keinen Ausschreitungen gekommen war. "Ein Journalist hat mir gesagt, daß fünf Leute Steine geworfen haben. Ich habe ihm gesagt, es waren 50 000 Demonstranten. Schreiben Sie eine Zeile über die Steine und 1 000 Zeilen über die friedliche Demonstration."

Unter den Demonstranten waren verschiedene Attac- Gruppen, vor allem aus Frankreich und auch Vertreter aus Rußland. Nur an Migranten mangelte es. Auch wenn ihnen die Demonstration gewidmet war, ist es den Organisationen nicht gelungen, eine große Anzahl von ihnen auf die Straße nach Genua zu bringen. Migrantengruppen aus Deutschland forderten die Abschaffung der Residenzpflicht. Eine iranische Delegation wandte sich gegen das islamische Regime in Teheran. Palästinenser, Kurden, Afrikaner und Inder waren zwar gekommen, gingen aber im Meer der vielen europäischen Demonstranten unter.

Unterdessen versuchte die Polizei mit allen Mitteln, die Ankunft weiterer Demonstranten zu verhindern. Ein Schiff aus Griechenland, daß in Ancona mit über 1 000 griechischen Demonstranten anlegte, wurde von den Behörden mit weiteren 150 unliebsamen Demonstranten wieder zurückgeschickt. Die Polizei trieb die Demonstranten mit Gewalt aufs Schiff zurück, darunter auch drei italienische Politiker der Rifondazione Comunista und der Grünen aus der Region Marche. Ein Autobus aus der Tschechischen Republik wurde am Brenner angehalten, die Demonstranten von der Polizei festgehalten. Am Mittwoch im Morgengrauen wurde das Camp Carlini von über 260 Polizisten umstellt. Unter dem Vorwand der Suche nach Waffen durchsuchte die Polizei das Camp.

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Direkte Aktion

Artikel von Cyrus Salimi-Asl, Genua, aus 'junge Welt' vom 21.07.2001 - G-8-Politiker bekommen angesichts des Widerstandes kalte Füße

Den hohen Herren im Dogenpalast zu Genua blieb der Anblick erspart: Demonstranten und Polizisten wurden bei wütenden Protesten am Freitag in der norditalienischen Hafenstadt verletzt, während sich die Staats- und Regierungschefs der sieben wichtigsten westlichen Industriestaaten und Rußlands zusammensetzten. Noch nie war der Protest gegen die G 8 so stark wie im italienischen Genua - und wohl noch nie die staatliche Repression dagegen so gewalttätig. Während sich die Politiker, abgeschirmt von mehr als 16 000 Polizisten, Carabineri und Soldaten, am Freitag um den Mittagstisch versammelten, kreisten die Aufklärungshubschrauber über der verwaisten Stadt, heulten die Sirenen, schossen die "Ordnungshüter" Tränengas in die Demonstranten und prügelten auch Fotografen blutig. Das Kräfteverhältnis war eindeutig: Zwecklos versuchten die Demonstranten, die Absperrungen zur "roten Zone", dem Tagungsbereich, zu durchbrechen. An einigen Stellen gelang den Demonstranten der Durchbruch, doch wurden sie sogleich unter massivem Einsatz zurückgedrängt.

Die Polizei umstellte den riesigen Platz am Hafen, wo sich die Globalisierungsgegner vom Netzwerk "Genoa Social Forum" versammelt haben, um Schutz zu suchen. Nach Augenzeugenberichten hatten die Einsatzkräfte offenbar Order erhalten, alle Demonstrationsgruppen willkürlich anzugreifen, unabhängig davon, ob von ihnen Aktionen ausgingen oder nicht. Von zahlreichen Festnahmen wurde berichtet.

Der gestrige Protesttag stand unter dem Motto "direkte Aktionen" und sollte mit gezielten Maßnahmen den G-8- Gipfel stören. Wegen der Ausschreitungen wurde die "rote Zone" tagsüber vollkommen geschlossen. Die akkreditierten Journalisten wurden so massiv an ihrer Arbeit gehindert, sofern sie sich nicht bereits in der Tabuzone befanden.

Angesichts der massiven Proteste gerieten offenbar auch die Staats- und Regierungschefs in eine Sinnkrise. Gastgeber Silvio Berlusconi meinte, die Formel der vor einem Vierteljahrhundert gestarteten G-8-Treffen müsse überdacht werden. Dieser Gipfel sei vielleicht der letzte, so der italienische Regierungschef vor Gewerkschaftsführern. Und wenn es überhaupt ein nächstes Mal gebe, solle dies offener sein für Gewerkschaften und andere soziale Gruppen.

Bei den Demonstranten in Genua stieß der Rechtskonservative damit auf Begeisterung: "Wir haben schon gewonnen, es gibt keinen G-8-Gipfel mehr", freute sich der 29jährige Arturo Beretti, der sich "Gipfel verhindern" auf die Fahne geschrieben hat.

Die Macht des Protestes räumte auch EU- Kommissionschef Romano Prodi ein: Das Gefühl von Belagerung und Spannungen helfe den G 8 jedenfalls nicht, die Probleme der Menschheit angemessen anzugehen, erklärte er. Italiens Außenminister Renato Ruggiero träumte offen von einem "G-22-Gipfel" mit Vertretern auch der armen Staaten. Eine solche Formel könnte schon im nächsten Jahr greifen, wenn Kanada die G-8-Präsidentschaft übernimmt.

Globalisierungsgegner sehen auch das als Anmaßung an: Ein solches Forum seien schließlich die Vereinten Nationen, hieß es beim Gegengipfel des Genoa Social Forum.

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Zauberlehrlinge

Artikel von Klaus Fischer aus 'junge Welt' vom 21.07.2001 - Genua und die Probleme der Welt

In Genua treffen sich Staats- und Regierungschef von sieben reichen Ländern und einem großen Land. Hinter Beton, Stacheldraht und Containerbarrikaden wird so getan, als beschäftige man sich dort mit den Problemen der Welt. Dabei haben die Versammelten zwar einige Kompetenz als Problemverursacher, jedoch nicht die geringste als Problemlöser.

Ein kurzer Blick auf die Tagesordnung macht deutlich, daß der G-8-Gipfel allerhöchstens ein Medienspektakel werden kann: Bekämpfung von Armut und AIDS, Entschuldung, Klima, Reform von IWF und Weltbank, US- Raketenabwehrschild und vor allem die Lage der Weltwirtschaft gehören zu den Themen des Treffens. Zumindest auf dem Papier sind sie fast alle versammelt, die Geister, die sie gerufen haben. Mit dem Modewort Globalisierung wird seit Jahren verbrämt, was an hemmungsloser Ausbeutung großer Teile der Welt den Reichtum weniger und die relative Wohlhabenheit Westeuropas, Japans und der USA bewirkt. Die von Konzernen und Regierungen durchgepeitschten internationalen Austauschbeziehungen - die sogenannten terms of trade - sorgen in der Tat dafür, daß die Armen immer ärmer und die Reichen reicher werden. Jenseits jeder billigen Polemik ist dies das größte Problem der Welt überhaupt, denn davon leiten sich alle anderen ab.

Entwicklungspolitik findet nur statt, um neue Absatzmärkte für eine überbordende Produktion an Waren und Dienstleistungen zu schaffen. Volkswirtschaftliche Strukturen und Proportionen sind dabei eine zu vernachlässigende Größe. Bereits vor Jahren kollabierte deshalb der gesamte ostasiatische Wirtschaftsraum, die sogenannten Tigerstaaten. Selbst Japan hat sich bis jetzt von diesem Crash nicht erholt. Gegenwärtig wackelt - zum wiederholten Male - Südamerika.

Noch vor zwei Jahren sah alles danach aus, als sei die Börse der große Wachstumsmotor der Zukunft. Milliarden wurden während des Aktienbooms der sogenannten Neuen Ökonomie in Unternehmen gepumpt, die für den schnellen weltweiten Austausch von Geld, Daten, Waren und Leistungen standen. Heute ist der Katzenjammer groß, und die Gewinner der globalen Abzocke bunkern ihr Geld in konservativen Anlagen oder auf Bankkonten. Investitionen sind nicht gewinnversprechend, wenn es keinen Bedarf gibt. Die vorhandenen Produktionsbetriebe können die kauffähige Nachfrage spielend bedienen. Was der Wirtschaft fehlt, ist eine neue Schimäre à la Neuer Markt. Etwas, worin man mit Aussicht auf extreme Profite investieren kann. Solange sie das nicht haben, sitzen die Finanziers lieber auf ihren Milliarden. Da können die Herren in Genua beschließen, was sie wollen. Es sei denn, George W. Bush setzt sich mit seinem Raketenprogramm durch. Da würde ein mögliches neues Wettrüsten immerhin die Rüstungsindustrie bedienen.

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Erschossen in Genua: Carlo Giuliani

Artikel von Cyrus Salimi-Asl, Genua, aus 'junge Welt' vom 23.07.2001 - Die Fensterläden blieben zu. Ein Toter und 500 Verletzte bei G-8-Gipfel-Protesten. Berlusconi stolz

Die Bilanz des G-8-Gipfels in Genua ist blutig: ein Toter, zwei Schwerstverletzte (eine Demonstrantin und ein Carabiniere) sowie 500 zum Teil schwer Verletzte. Während der Gipfelproteste wurden mehr als 200 Demonstranten festgenommen. Zurück bleibt eine in Teilen zerstörte Stadt mit zahlreichen eingeschlagenen Fensterscheiben, vor allem bei Banken, und Hunderten von verbrannten Autos. Durch Genua zieht sich eine Spur von Gewalt, auf die der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi stolz ist. In der Abschlußpressekonferenz am Sonntag dankte der Premier ausdrücklich den sogenannten "Ordnungskräften, die Mut und Großzügigkeit gezeigt" hätten.

Großzügig im Einsatz der Gewalt waren die Polizisten mit Sicherheit. Zahlreiche Beweisfotos und Filmaufnahmen belegen, wie brutal die Einsatzkräfte gegen die Demonstranten vorgegangen sind. 200 000 Globalisierungsgegner kamen am Sonnabend in der italienischen Hafenstadt zusammen. Ihr Protest wurde mit Tränengas, Nebelgranaten und Gummigeschossen erstickt. Selbst vor Menschen, die bereits am Boden lagen oder sich mit erhobenen Armen den Schlagstöcken stellten, machten die wild gewordenen Beamten nicht Halt. Schläge mitten ins Gesicht waren keine Seltenheit, Jagdszenen mußte man den ganzen Tag beobachten.

In der Nacht zum Sonntag kam es zu weiteren Ausschreitungen in der Stadt. Dutzende Polizisten stürmten schließlich am Sonntag morgen zwei Schulen, in denen sowohl das Pressezentrum als auch der Hörfunksender Radio Media des Genoa Social Forum (GSF) untergebracht waren. 92 Aktivisten, unter ihnen 40 Deutsche, wurden verhaftet. Gegen sie werde wegen "krimineller Vereinigung zum Zwecke des Zerstörens und Plünderns" sowie wegen Besitzes von Brandsätzen ermittelt, rechtfertigte die Polizeipräfektur ihren brutalen Überfall vor der Presse.

GSF-Sprecher Vittorio Agnoletto verurteilte indes die Durchsuchung aufs Schärfste und sprach von einer Operation, die gegen die Verfassung verstoße. Tatsächlich wäre eine Durchsuchung ohne richterliche Genehmigung nur möglich, wenn nach Waffen im Zusammenhang des Verdachts einer terroristischen Vereinigung gesucht würde. Es ist offensichtlich der Versuch der italienischen Regierung, das GSF in die Nähe von Terroristen zu rücken. Silvio Berlusconi erklärte am Sonntag mittag nach Ende des G-8-Gipfels, daß es keinen Unterschied zwischen den Mitgliedern des GSF-Netzwerks und den Gewalttätern gebe. Mit letzteren meinte er freilich nicht seine eigenen Totschläger: Am Freitag war der 23jährige Carlo Giuliani von einem Carabiniere erschossen worden, als er auf dessen Polizeiwagen zugestürmt war und dabei einen Feuerlöscher geschwungen hatte. Dem Todesschützen droht nun eine Anklage wegen Totschlages; Ermittlungen laufen auch gegen den Fahrer eines Polizeifahrzeuges, der Giulianis Leiche überfahren hatte.

Doch Genua war nicht nur der bisherige Gipfel der Gewalt, es war vermutlich auch der letzte Mammutgipfel dieser Art. Die Spitzentreffen der G-8-Gruppe sollen deutlich verkleinert werden: Im kommenden Jahr wollen sich die Staats- und Regierungschefs der sieben wichtigsten Industrienationen (G 7) und Rußlands im dem kleinen Bergort Kananaskis unweit von Calgary in der Provinz Alberta im Westen Kanadas treffen. Berlusconi meinte, dies würde Möglichkeiten zu Protestkundgebungen verringert. Außerdem vergaß er nicht auf die italienische Gastfreundschaft hinzuweisen, die zu einem Erfolg des Gipfels beigetragen habe.

Diese Gastfreundschaft galt aber nur wenigen Personen. Wer sich außerhalb der "roten Zone" bewegte, wohnte einem brutalen Schauspiel bei. "Der G-8-Gipfel ist doch nur eine Machtdemonstration", meint der Hobbyschauspieler Pino Pastorini (41). Er ist am Abend der Todesschüsse an den Tatort gekommen, wo sich Passanten und Anwohner des Viertels zusammengefunden haben, um Carlo Giulianis zu gedenken. "Genua ist eine linke Stadt, immer gewesen. Das durften sie uns nicht antun", sagt er und verweist auf die Verantwortlichen in der "roten Zone". "Die wollen ihre Muskeln zeigen", stimmt Arturo Benvenuto (64) zu. Genua ist eine verletzte Stadt, aber die Genuesen wollen ihre Verletzung nicht zeigen. Sie schweigen. Am Sonnabend während der Abschlußdemonstration blieben fast alle Fensterläden geschlossen.

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Geplanter Überfall auf Gipfelgegner in Genua?

Artikel aus 'junge Welt' vom 24.07.2001 - Gespräch von Harald Neuber mit Andrea Plöger

(Die Journalistin war in Genua für junge Welt vor Ort. Eine zweite, offiziell akkreditierte Kollegin, Kirsten Wagenschein, wurde bei dem Sturm auf das Pressezentrum festgenommen. Von ihrem Verbleib ist der Redaktion nach wie vor nichts bekannt)

F: Die letzte große Polizeiaktion in Genua war der Sturm auf das Lagezentrum des Sozialgipfels Sonntag früh. Wie ging die Polizei bei der Aktion vor?

Am frühen Morgen fuhren plötzlich Gruppenwagen vor, Polizisten stürmten heraus, richtig aggressiv mit Schreien. Sie riefen "Wir kriegen euch alle" und "Jetzt seid ihr dran". Ein britischer Journalist, der sich nicht mehr ins Gebäude retten konnte, wurde brutal zusammengeschlagen. Als er unter den Schlägen auf dem Boden zusammengesunken war, wurde er von anderen Polizisten wieder hochgezogen und erneut zusammengeschlagen.

F: Nach Polizeiangaben wurde nach Waffen gesucht. Standen noch andere Dinge im Visier der Beamten?

Das war ein Überfall, der, was sich aus dem gezielten Vorgehen schließen läßt, mit oberen Dienststellen abgesprochen war. Bei der Aktion ist im Kongreßbüro der Agentur Indymedia eine Videokassette gestohlen worden, auf der ausführlich Übergriffe dokumentiert waren. Die Einheiten hatten eine Genehmigung für die Durchsuchung eines Schulgebäudes, in dem Angereiste übernachteten. Etwa 20 konnten entkommen. Von den 60 Festgenommenen wurden etwa 50 ins Krankenhaus eingeliefert, was die Brutalität des Einsatzes verdeutlicht. Sie haben zum Teil gefährliche Schädelverletzungen, einer liegt im Koma und schwebt in Lebensgefahr.

F: Aber auch das zweite, gegenüberliegende Gebäude mit dem Lagezentrum des Sozialgipfels stand im Visier der Sicherheitskräfte?

Sie haben die Tür aufgetreten und sind in die Büroräume gestürmt. Sie hatten sich aber zum Glück schon etwas beruhigt. Wir mußten uns mit den Händen an die Wand lehnen. Leute, deren Handy klingelte und die abhoben, wurden abgeführt. Es war eine unbeschreibliche Atmosphäre von Angst und Terror, weil wir die Polizisten überhaupt nicht einschätzen konnten. Glücklicherweise wurden die Einheiten von einer anwesenden italienischen Parlamentsabgeordneten zur Räson gebracht.

F: Kann man von einem gezielten Schlag gegen den Sozialgipfel und unabhängig organisierte Mediendienste sprechen?

Unbestritten, denn nicht nur die Zentrale von Indymedia, auch das Büro der Anwälte des Sozialforums wurde durchsucht und teilweise verwüstet. Material wurde aus allen Räumen beschlagnahmt. Man kann durchaus von einer gezielten Aktion sprechen.

F: Welches Material wurde denn beschlagnahmt?

Das erwähnte Videomaterial und eine Reihe von Festplatten mit Dokumenten. Waffen wurden nicht gefunden, nur Gasmasken und Helme, die jeder Journalist bei diesen Demos benutzt hat. Es schien, als sollte im nachhinein eine Rechtfertigung für das brutale Vorgehen ausgemacht werden.

F: Wie viele Leute wurden inhaftiert?

Etwa 60 Leute aus dem gegenüberliegenden Schulgebäude. Wir konnten beobachten, wie der Großteil von ihnen auf Tragen herausgeschafft wurde. Uns liegen wenige Informationen vor. Einer hat aus dem Krankenhaus angerufen, das Gespräch wurde aber unterbrochen. Von den Leuten im Gefängnis gibt es unterschiedliche Informationen. Es hieß, daß sie nach Alexandria oder in andere Orte gebracht worden seien. Insgesamt sind es einige hundert Verhaftete.

F: Wie hat sich die deutsche Botschaft verhalten?

Wir haben noch Sonntag früh in der Botschaft angerufen. Der Konsul erklärte, daß keine Meldung von Festgenommenen vorliege. Sonst würde er immer benachrichtigt. Er erklärte sich deswegen für nicht zuständig. Auch als wir ihm schilderten, daß Leute vermißt werden, reagierte er mit Desinteresse. Mittlerweile kam die Meldung, daß dem Auswärtigen Amt anscheinend doch Listen vorliegen, denn Angehörige sind inzwischen selbst von den Landeskriminalämtern kontaktiert worden.

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Staatsterrorismus in Genua

Artikel aus 'junge Welt' vom 25.07.2001 - Wie die Polizei beim G-8-Gipfel die Demonstranten behandelte. Von Indymedia

Entgegen der Berichterstattung der bürgerlichen Medien war die Polizei in Genau hauptsächlich dazu da, die Gipfelgegner anzugreifen. Im folgenden dokumentieren wir Auszüge eines Lagebrichts der Internet-Nachrichtenagentur Indymedia vom Morgen des 22. Juli. (jW), Übersetzung: Mona Hülsen

Wir berichten aus dem Gebäude des Genoa Sozial Forum (GSF) und der Indymedia in Genua, nachdem wir Zeugen der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen in der kurzen Geschichte der jungen Bewegung gegen kapitalistische Globalisierung geworden sind.

Heute nacht haben sich Polizeikräfte gewaltsam den Zugang zur Diaz-Schule auf der anderen Straßenseite verschafft, einem der Unterbringungsplätze des GSF. Die dort zu diesem Zeitpunkt schlafenden Leute sind in solchem Ausmaß zusammengeprügelt worden, daß die meisten von ihnen nicht selber aus der Schule herausgehen konnten, sondern auf Tragbahren aus der Schule herausgebracht werden mußten.

Insgesamt wurden zirka 30 Krankenwagen für die Verletzten eingesetzt. Alle wurden entweder sofort verhaftet oder in ein Krankenhaus gebracht. Nach der Aussage einer Person, die der Verhaftung entgehen konnte, legten sich die Menschen im ersten Stock nach dem Einbruch der Polizei auf den Boden und riefen "Keine Gewalt!". Sie wurden jedoch so heftig zusammengeschlagen, daß einer der Polizeioffiziere einschreiten mußte, um das Blutbad zu beenden.

Die Polizeikräfte sind ebenso gewaltsam in das Gebäude des GSF und der Indymedia eingedrungen. Hier haben sie jedoch nur Material zerstört bzw. gestohlen. Sie haben niemanden angegriffen. Aber in Teilen des Hauses konnte man wegen des Tränengaseinsatzes keine Luft mehr bekommen. Beim Abtransport der Verletzten wurden italienische Parlamentarier von Polizisten verprügelt, als sie versuchten, in die Diaz-Schule zu gelangen.

Am 20. wurde ein junger Demonstrant aus Genua durch zwei Schüsse, zunächst in den Kopf und anschließend in die Brust, ermordet, bevor sein Körper von einem zurücksetzenden Polizeifahrzeug überrollt wurde.

Unterschiedslos wurden alle Gruppen, die sich an den Protesten beteiligten, von der Polizei u.a. mit Tränengas angegriffen. Aus Hubschraubern ist beispielsweis der Sammlungspunkt einer pazifistischen Demonstration des Tutte Bianche und des Global-Right-Network angegriffen worden, noch bevor sich der Zug in Bewegung setzen konnte. Dabei ist eine unbekannte Zahl von Menschen verletzt worden.

Am 21. Juli wurde ein Teil der Demonstration völlig grundlos attackiert. Das ganze Gelände einschließlich eines Parkplatzareals mit benachbartem Strandabschnitt, das als GSF-Treffpunkt vorgesehen war, wurde mit Tränengas eingedeckt. Einige Menschen flüchteten ins Meer, wo sie von Polizeibooten erwartet wurden. Sowohl am 20. als auch am 21. Juli gab es im gesamten Stadtbereich von der Polizei provozierten Aufruhr. Die verschiedenen Provokationsformen sind u.a. durch Fernsehbilder belegt, die eine Gruppe schwarzgekleideter Personen zeigen, die aus einem Polzeitransporter herauskommen und anschließend Fensterscheiben zerstören. Offensichtlich war der schwarze Block an diesen beiden Tagen tatsächlich von Provokateuren infiltriert. Mit allem nötigen Respekt fordern wir unsere Freunde vom schwarzen Block auf, nicht nur im eigenen Interesse, sondern zum Nutzen aller über diese Fakten nachzudenken. Diese Aufforderung ist nicht dazu gedacht, ihre zukünftige Präsenz bei großen gemeinsamen Aktionen zu beschränken, sondern als Ermutigung, die eigene Rolle und deren Möglichkeiten zu überdenken. Ein mögliches Ergebnis könnte sein, zukünftig eine solidarische Rolle bei der Verteidigung anderer Gruppen zu übernehmen.

Die in die Krankenhäuser gebrachten Leute wurden abgesehen von den Schwerstverletzten unmittelbar nach ärztlicher Erstversorgung verhaftet. Eine Person, Mitglied einer gewaltfreien Gruppe, saß mit erhobenen Händen auf dem Boden und wurde fürchterlich zusammengeschlagen. Im Polizeirevier wurde sie wie alle anderen auch fortwährend gequält und grundlos mißhandelt. Die Polizisten schlugen auf bereits verletzte Körperstellen. Ein anderer Inhaftierter berichtete nach der Freilassung, daß alle Verhafteten geschlagen und gezwungen worden wären, "Viva il Duce!" zu rufen.

Die letzten Wochen waren gekennzeichnet durch Polizeirazzien in Gesamtitalien, begleitet von einer Neuauflage der bekannten "Strategie der Spannung", die in den 70er Jahren vom italienischen Staat eingesetzt wurde, um soziale Bewegungen zu zerschlagen. Briefbomben wurden an Polizisten verschickt, ein Fahrzeug, das mehrere Tage am gleichen Platz im Stadtkern Genuas parkte, wurde von der Polizei gesprengt. Die Polizei behauptete über die Medien, daß verschiedene Bomben an unterschiedlichen Plätzen versteckt worden wären (dazu zählte auch einer der Unterbringungsorte des GSF). Diese Faktoren haben eine Atmosphäre der Paranoia, des sozialen Terrors und der Furcht vor den Demonstranten geschaffen. Vor den eigentlichen Protesten wurden bereits verschiedene Menschen inhaftiert. In einem besonders brutalen Fall wurde eine junge Frau vier Tage lang in Isolationshaft gesteckt. Ihr wurde vorgeworfen, daß sie mit ihrem Fahrzeug gewaltsam die Absperrung zur roten Zone durchbrechen wollte, weil man in dem Wagen ein Campingbeil gefunden hatte.

Wir rufen alle Gruppen, die bisher noch keine Aktionen geplant haben, dazu auf, kontinuierliche Aktionen vorzubereiten, damit die Verantwortlichen für diese groben Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden. Unser Vorschlag an alle Gruppen besteht darin, daß als Mindestforderung der Rücktritt der gesamten Berlusconi-Regierung gefordert werden sollte. Eine Adressenliste italienischer Botschaften ist unter www.ethoseurope.org/ethos/ embassies.nsf zu finden.

Die Brutalität beweist die aktuelle Furcht, mit der die Reichen und Mächtigen auf die einfache Tatsache reagieren, daß die Welt beginnt, uns zuzuhören. Sie lassen alle Masken äußeren Demokratiegebarens fallen und zeigen ihr wahres Gesicht - das der Unterdrückung, Gewalt und des Terrorismus.

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Drei Siege und eine Niederlage

Artikel von Angela Klein aus 'junge Welt' vom 26.07.2001 - Die Protestbewegung von Genua war ein Erfolg, die neue Stufe der Gewalt ein Rückschlag

"Genossen, Freunde, heute können wir sagen, trotz eines hohen, eines sehr hohen Preises, den wir bezahlt haben, haben wir gewonnen." Vittorio Agnoletto, der Sprecher des Genoa Social Forums, von Beruf Arzt und in der italienischen AIDS-Hilfe engagiert, hielt die Abschlußkundgebung der Großdemonstration am späten Nachmittag des vergangenen Samstags kurz. Die Spitze des Demozuges war bis zur vorgesehenen Piazza Ferraris vorgedrungen, und so vermittelte sich das Gefühl: "Wir haben es geschafft" - trotz des Toten vom Vortag und trotz aller Bemühungen der Polizei, die Demonstration in tausend Stücke zu schlagen. Sie konnte sie dennoch nicht verhindern; der große Sieg des Tages war die schiere Masse der Demonstrierenden - 200 000 bis 300 000, die sich allen Kriminalisierungs- und Behinderungsversuchen zum Trotz auf den Weg gemacht hatten, wohlwissend, daß es gegen den Versuch, die Gegner der Konzernherrschaft zu Terroristen zu stempeln, nur ein Mittel gibt: die große Breite der Bewegung.

Diese Rechnung ist aufgegangen, das war der erste Sieg von Genua.

Der zweite ist nicht weniger bedeutsam: Der offizielle Gipfeltourismus der letzten Jahre ist in Frage gestellt. Eine der Bewegungsformen der Kritiker der Konzernherrschaft war bisher, den Herrschenden nachzureisen und deren Treffen dazu zu nutzen, die Öffentlichkeit über ihre Vorhaben zu informieren und die Breite des Protestes zu demonstrieren. Diese ist von Gipfel zu Gipfel gestiegen, und die Demonstrationen werden den Regierenden immer lästiger. Sie sitzen ihnen wie ein Floh, der sich nicht abschütteln läßt, im Nacken. Die Bilder der Gewalt, die von Göteborg, Salzburg, Barcelona und Genua ausgingen, haben die Position der Regierenden nicht gestärkt, sie verstärken nur den Eindruck, daß diese immer unfähiger werden, mit der Bevölkerung politisch zu kommunizieren.

Die Rechnung der G 8, die Kriminalisierung der Kritiker werde diese unglaubwürdig machen und die Legitimität der Herrschenden wieder festigen, ist nicht aufgegangen. Nichts sagt das deutlicher als die Ankündigung, den nächsten G-8-Gipfel auf einer Hütte in den Rocky Mountains durchzuführen. Die WTO ist nach den Demonstrationen von Nizza in die Wüste von Qatar ausgewichen; die Weltbank hat ihr Treffen in Barcelona abgesagt; die G 8 fliehen in die Berge, und die Stadt Stockholm weigert sich, das Weltbanktreffen im kommenden Jahr auszurichten. Es gibt für die Herrschenden dieser Welt keinen Platz mehr, wo sie sich sicher fühlen können. Das ist der zweite Sieg von Genua.

Der dritte ist: Die Herrschenden verlieren weiter an Glaubwürdigkeit. Die Abschlußerklärung der G 8 enthält eine lange Passage über die Notwendigkeit, den Dialog mit den Kritikern zu führen und das Recht auf friedliche Demonstration zu verteidigen. Aber ihre Taten sprechen eine andere Sprache: Die italienische Regierung hat sich bis zum letzten Augenblick geweigert, vernünftige Bedingungen für die Durchführung der Proteste auszuhandeln, und die Polizei hat alles daran gesetzt, gerade die friedliche Demonstration anzugreifen, während sie die Tute Nere, den Schwarzen Block, gewähren ließ. Die Regierung Berlusconi will nun mit aller Kraft eine Komplizenschaft des Genoa Social Forum mit den Tute Nere beweisen, um der Öffentlichkeit nahezulegen, daß es "nicht mehr möglich ist, zwischen friedlichen und gewalttätigen Demonstranten zu unterscheiden", wie Berlusconi nach dem Tod des Demonstranten Carlo Giuliani erklärte. Das ist eine verhüllte Drohung, Demonstrationen auch zu verbieten. Die Doppelzüngigkeit ist kaum zu übersehen.

Hinzu kommen die den G 8 selbst innewohnenden Widersprüche. Der Gipfel hat nichts gebracht, nur Spesen und heiße Luft. Die Politik, Ratlosigkeit und Nichtstun hinter wohlfeilen Worten und schönen Kulissen zu verstecken, hat das Ende ihrer Fahnenstange erreicht. Sie behaupten immer wieder, ihre Ziele seien dieselben wie die ihrer Kritiker. Aber wenn das so ist, warum sind sie dann unfähig, die Probleme zu beheben? Warum sind sie nicht einmal in der Lage, das wenige, was sie versprechen, zu realisieren - z. B. in der Frage des Schuldenerlasses? Eine wachsende Öffentlichkeit fordert jetzt Taten, nicht nur Worte. Das ist, wie gesagt, der dritte Sieg von Genua.

Neben diesen Erfolgen gab es in Genua erstmals aber auch einen schweren Rückschlag: eine neue Stufe der Gewalt. Dabei spielt es keine Rolle, daß diese viel eindeutiger und massiver von der Polizei und ihren Provokateuren ausging als bei vorausgegangenen Gipfeln. Das Problem ist, daß es in Genua eine neue Kampfansage an die Bewegung gegeben hat: die Drohung mit der Außerkraftsetzung des Rechts auf Demonstrationsfreiheit, mit der Aufhebung der Rechtsstaatlichkeit, die Drohung mit dem Polizeistaat.

Sicherlich kann man der italienischen Polizei aufgrund ihrer Tradition eine besondere Affinität zu "chilenischen Verhältnissen" nachsagen, und sicher hat die Bewegung in Genua kosten dürfen, wie innere Sicherheit aussieht, wenn neofaschistische Parteien mit in der Regierung sitzen. Die europäische Innenministerkonferenz mit ihren Beschlüssen zur Einschränkung der Reisefreiheit tat allerdings das Ihre dazu, und in keinem Fall gibt es eine europäische oder internationale Institution, die die italienische Polizei für ihre Übergriffe zur Rechenschaft ziehen würde. Wie schon in den Anfängen der Arbeiterbewegung wird auch heute der Kampf um gesellschaftliche Veränderungen Hand in Hand gehen müssen mit dem Kampf um demokratische Rechte.

Erlasse sind eine Methode, das Demonstrationsrecht außer Kraft zu setzen, die Infiltration von Provokateuren und Faschisten und deren Zusammenarbeit mit paramilitärischen Polizeitruppen eine andere. Europäische Demonstrationen müssen künftig damit rechnen, daß sie sich davor aus eigenen Kräften schützen müssen.

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Abschied von Carlo Giuliani

Artikel von Cyrus Salimi-Asl aus 'junge Welt' vom 26.07.2001 - Getöteter G-8-Demonstrant in Genua beigesetzt. Proteste in ganz Italien

Carlo Giuliani, während des G-8-Gipfels von einem Carabiniere erschossener 23jähriger Demonstrant aus Genua, wurde am Mittwoch in seiner Heimatstadt beerdigt. Den Trauerfeierlichkeiten auf dem Friedhof Staglieno wohnten mehr als tausend Menschen bei, zum größten Teil Freunde des Erschossenen. Carlos Vater, der Gewerkschafter Giuliano Giuliani, sprach in seiner Trauerrede von den "hellen Herzen und den denkenden Köpfen" der jungen Menschen, die sich, wie sein ermordeter Sohn, politisch engagieren. Er rief die Anwesenden zur Einheit und zur Gewaltfreiheit auf. Auf Wunsch der Eltern waren bei der Beerdigung keine Fahnen von Parteien und Gewerkschaften oder Spruchbänder zu sehen.

Die Beisetzung Carlo Giulianis stand ganz unter dem Eindruck der Demonstrationen vom Dienstag, bei denen in verschiedenen Städten Italiens insgesamt weit über 100 000 Menschen auf die Straße gegangen waren, um gegen die Regierung und die Gewaltakte der Polizei während des G-8- Gipfels in Genua zu demonstrieren. Die größten Demonstrationen fanden in Rom und Mailand statt, wo jeweils mehrere zehntausend Menschen friedlich Straßen und Plätze füllten. In Rom marschierten mehrere Parlamentarier der Partei "Rifondazione comunista" mit, darunter Generalsekretär Fausto Bertinotti und Senator Giovanni Russo Spena. An der Spitze des Protestzuges war ein eindeutiges Spruchband zu sehen: "G-8-Mörder!" Die Slogans richteten sich gegen den italienischen Innenminister Claudio Scajola und gegen Premier Silvio Berlusconi.

In Mailand und Genua gingen Zehntausende Menschen auf die Straße, ohne daß überhaupt eine Kundgebung angemeldet war. Bürgermeister verschiedener Kommunen der Region Kampanien sowie der Präsident der Provinz Neapel nahmen an den Protesten gegen die Polizeibrutalität des vergangenen Wochenendes teil. Überall in Italien marschierten Gewerkschafter, Arbeitslose und Arbeiter Seite an Seite mit den zumeist jugendlichen Globalisierungsgegnern.

Die Mitte-Links-Opposition "Ulivo" (Olivenbaum) hat unterdessen im Senat einen Antrag auf Rücktritt von Innenminister Scajola eingebracht. Er hatte am Montag das brutale Vorgehen der Polizei sowie die Todesschüsse auf den 23jährigen Giuliani verteidigt.

Unterdessen mußte der Sprecher des "Genoa Social Forum" (GSF), Victorio Anjioletto, auf Anweisung von Wohlfahrtsminister Roberto Maroni (Lega Nord) eine von der Regierung eingesetzte Expertenkommission zur Drogenabhängigkeit verlassen. Anjioletto steht als Arzt der italienischen Liga für AIDS-Bekämpfung vor und gehörte der Kommission als wissenschaftlicher Berater an. Seine Aussagen gegen die Regierung im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz beim G-8-Gipfel hätten das Vertrauensverhältnis zerstört, rechtfertigte der Wohlfahrtsminister seine Entscheidung.

Weiterhin ist unklar, wie viele der bei den Protesten gegen den G-8-Gipfel Festgenommenen noch in Haft sind. Insgesamt wurden mehr als 300 zumeist jugendliche Demonstranten verhaftet. Die italienischen Anwälte stoßen auf Mauern des Schweigens, während die italienische Polizei weiter Jagd auf Deutsche macht, die als mutmaßliche Autonome dem sogenannten Schwarzen Block angehört haben sollen. Es häufen sich die Zeugenaussagen, die von schlimmsten Gewaltakten gegen die Globalisierungsgegner berichten. Im Genueser Krankenhaus San Martino liegen noch immer der Engländer Mark C. (Brustkorb gebrochen) und die Deutsche Lena Z. (Lungenflügel zerquetscht) auf der Intensivstation. Ein 21jähriger Berliner mit einer schweren Kopfverletzung ist mittlerweile operiert worden. Das Generalkonsulat hat eine Besuchserlaubnis für die Angehörigen erhalten.

Die Grünen-Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele und Annelie Buntenbach sind am Mittwoch nachmittag in Italien eingetroffen, um Inhaftierte und Verletzte zu treffen. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes in Berlin sitzen noch 58 Deutsche im Gefängnis, darunter auch jW-Mitarbeiterin Kirsten Wagenschein. Am Dienstag abend konnte sie erstmals ein Mitarbeiter des deutschen Generalkonsulats aus Mailand in der Haftanstalt Voghera besuchen und der Zeitung gegenüber berichten, daß es ihr "den Umständen entsprechend gut" geht.

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Filmszenen aus Genua

Artikel von Angela Klein aus 'junge Welt' vom 27.07.2001 - Über die Polizisten und Faschisten im Schwarzen Block

Genua, Samstag nachmittag. An den Straßenecken, die von der Seepromenade stadteinwärts führen, drängt der Schwarze Block die Demonstration ab. Auf der Kreuzung zu Corso Torino gehen Mülltonnen und Geschäfte in Flammen auf, die Demonstrierenden sind gezwungen, in Parallelstraßen auszuweichen, hinter den Schwarzen rücken die Carabinieri mit Tränengas vor. In einiger Entfernung, auf der Treppe, die in die Oberstadt führt, beobachtet der Filmregisseur Davide Ferrario, wie ein Polizist sein Moped an der Tankstelle abstellt. "Ich bin als Privatmann nach Genua gekommen", versichert er später der Presse. "Ich habe nicht im Auftrag gefilmt, ich habe ein Zeugnis gedreht." Er ist nicht im Genoa Social Forum, dem Bündnis der Demonstrierenden. Aber seine Aufnahmen werden zu einem der wichtigsten Zeugnisse für die Anklagen des Bündnisses gegen die Polizei werden.

Ferrario beobachtet, wie sich ein bulliger Demonstrant in der Aufmachung der Tute Nere, der schwarzen Overalls, wie der Schwarze Block in Italien genannt wird, dem Polizisten nähert. Gespannt eilt Ferrario die Treppe herunter, um aus der Nähe filmen zu können. Der Demonstrant macht ihm eine drohende Gebärde: "Hau ab hier!", und hält ihm eine Polizeiplakette unter die Nase. Die Kamera schwenkt einen Moment zur Seite, dann wieder drauf: Der angebliche Demonstrant unterhält sich angeregt mit dem Polizisten. Es kommen zwei Tute Nere auf einem Moped angefahren, eine Frau und ein Mann, sie erhalten Anweisungen und fahren wieder fort.

Die Zeugnisse über die Einschleusung von Provokateuren und die Zusammenarbeit zwischen Teilen des Schwarzen Blocks und der Polizei sind erdrückend. Ein Foto zeigt Tute Nere zusammen mit Carabinieri am Eingang zur Wache; der Senator Gigi Malabarba hat erlebt, wie sie in voller Montur und mit ihren Waffen im Polizeiquartier aus- und eingingen und sich mit den dortigen Polizisten wie mit alten Bekannten unterhielten.

Neben Provokateuren gab es übrigens auch Faschisten. Bekannt wurde "Doggy", ein junger Engländer aus Birmingham, 26 Jahre alt, den rechten Arm mit Runenzeichen tätowiert, gekleidet mit Tarnhosen und einem T-Shirt, das einen reißenden Hund zeigt. Er nennt sich Liam Stevens. Reporter, die für eine britische Zeitung arbeiten, fanden ihn am letzten Freitag vor einer Kulisse von Randalierern betrunken auf dem Boden sitzend, bereit zu reden. "Nazi, Nazi", sagte er und deutete mit dem Finger auf sich. "Mich interessiert der G 8 einen Dreck, ich bin hier, um alles kaputtzuschlagen, und amüsier mich riesig dabei." Seine "italienischen Brüder" hatten ihn und seine Gruppe, die Black Dogs, eingeladen.

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Aus der Haft entlassen

Artikel aus 'junge Welt' vom 27.07.2001 - Weitere Augenzeugenberichte aus Genua

Laura Jäger (20), Heidenheim:

Als die Polizei das Gebäude stürmte, bin ich als letzte Person noch aus dem Fenster gesprungen. Draußen war ein Gerüst, über das schon einige Leute vor mir raus sind. Wir wollten auf die Straße. Unten stand so eine Art Pförtnerhäuschen, unten aus Metall und ober komplett verglast. Darin haben wir uns versteckt. Die Polizisten sind auch zuerst an uns vorbeigerannt. Dann kamen sie zurück und begannen, gegen die Scheiben zu schlagen. Erst langsam, dann immer schneller und stärker. Wir kauerten uns auf dem Boden zusammen. Manchmal hörte das Schlagen auf, dann ging es plötzlich wieder los.

Auf einmal klirrte es, das ganze Glas prasselte auf uns herab und die Knüppel gingen auf uns nieder. Wir wurden so eine Weile geschlagen. Ich hatte Glück und lag etwas weiter hinten. Weiter vorne lagen zwei Männer. Die haben sie rausgezogen und in die Hofeinfahrt gelegt, Hände nach vorne. Mehrere Polizisten sind über ihre Hände gelaufen. Als ich in die Hofeinfahrt blickte, war alles voll Blut. Einer der beiden hat die ganze Zeit geschrieen. Er hat gar nicht mehr aufgehört. Die vermummten Polizisten haben Knüppel eingesetzt und mit ihren schweren Stiefeln zugetreten. Wir sind dann alle auf die Straße gebracht worden. Da waren nur Polizeiautos, kein einziger Krankenwagen. Sie haben uns dann auf den Boden geschmissen und einen Knüppel unters Kinn gehalten. So mußten wir auf dem Boden vor ihnen rumrobben, die Hände auf den Rücken. Das hat nicht so gut geklappt, wir waren ja auch verletzt. Wenn jemand nicht mehr konnte, haben sie mit dem Knüppel gegen das Kinn geschlagen. Dabei haben sie gelacht.

Auf dem Polizeirevier mußten wir einige Stunden kniend warten. Die Fesseln waren so fest gezogen, daß sich das Blut in unseren Händen staute. Nach einiger Zeit kam ein Kommandierender herein. Auf den Händen hatte er Hakenkreuze tätowiert. Als er einen Antifa-Sticker an meiner Jacke sah, fing er an zu schreien, riß ihn runter und schlug mir auf den Kopf. Er sagte, wenn er mich auf der Straße getroffen hätte, hätte er mich erschossen, zerhackt und an die Schweine verfüttert. Das hat mit jemand später übersetzt.

Mesut Duman (25), Schopfheim:

Kurz bevor der Angriff angefangen hat, bin ich in die Schule gekommen. Es war ganz ruhig. Plötzlich brach die Hölle aus. Einige Leute haben noch versucht, die Tür zuzuhalten. Die Polizei hat gegen die Tür getreten und die Scheiben eingeschlagen. Wir haben noch schnell versucht, uns anzuziehen. Wir haben unsere Hände hochgehalten und gewartet. Nach zwei, drei Tritten hatten sie die Tür eingetreten und sind reingestürmt. Sie haben uns angespuckt und als Hurensöhne beschimpft. Wir standen da und konnten nichts machen. Sie haben sofort angefangen zu prügeln, bis von den Leuten überhaupt keine Bewegung mehr kam. Ein Polizist ist im Laufschritt auf mich zugekommen und begann mich zu treten. Dann hat er ausgeholt und mit dem Schlagstock zugeschlagen. Ich hatte versucht, mich mit dem Arm zu schützen. Dann habe ich meinen Rucksack vor mein Gesicht gehalten. Er hat immer weiter geschlagen. Anschließend hat er versucht, mir den Rucksack wegzureißen und gezielt meinen Kopf zu treffen. Er hat solange auf meinen Arm geschlagen, bis der rot und blau war und überall geblutet hat. Mein linker Arm ist gebrochen. Ich habe am ganzen Körper Verletzungen. Meine Freundin wurde an den Haaren über zehn oder 15 Meter weggeschleift und geschlagen.

Ich habe trotz der Verletzungen versucht, meine Freundin zu mir zu holen. Wir haben uns nebeneinander gelegt. Die Polizei hat auf andere Leute weiter eingeschlagen. Das waren sehr, sehr viele Eindrücke in sehr kurzer Zeit. Man kann es nur schwer beschreiben. Die Leute, die sich in den oberen Etagen aufhielten, wurden die Treppe runtergeschmissen. Das habe ich gesehen. Dann wurde meine Freundin abtransportiert. Seitdem habe ich sie nicht gesehen und auch nicht gesprochen. Immer noch nicht. Ich habe keinen Kontakt zu ihr.

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"Presse, Presse, Presse - es wurde einfach ignoriert"

Artikel aus 'junge Welt' vom 27.07.2001 - jW-Mitarbeiterin Kirsten Wagenschein über den Polizeisturm auf die Diaz-Schule in Genua und ihre Verhaftung

Seit Mittwoch abend bin ich raus aus dem Knast Volghera. Endlich. Im Moment geht es mir psychisch ziemlich gut. Ich bin einfach froh, wieder raus zu sein. Physisch geht es mir sowieso gut. Ich war eine der ganz wenigen Verhafteten, die überhaupt keine Schläge abgekommen haben. Als die Polizei am vergangenen Wochenende die Diaz-Schule in Genua gestürmt hatte, bin ich, wie andere auch, in Todesangst in dem Gebäude hin und her gerannt. Ich konnte mich zunächst in einer Besenkammer verstecken und hatte gehofft, sie würden mich nicht finden. Ich war erst fünf Minuten vor dem Polizeisturm zu Recherchearbeiten über die Antiglobalisierungsbewegung in die Schule gekommen. Wäre ich eine Viertelstunde später gekommen, dann hätte ich gar nicht mehr in die Schule gehen können. Es war reiner Zufall, daß ich verhaftet wurde.

Tatsächlich haben mich Polizisten nach einer Weile aber doch gefunden. Zu diesem Zeitpunkt war die erste Welle des Sturmangriffs vorbei, und Polizisten waren dazu übergegangen, durch das gesamte Haus zu ziehen und alle Räume zu durchkämmen. Dabei haben sie mit ihren Knüppeln alles kurz und klein geschlagen.

Ich wurde nach unten in die Haupthalle geführt, ohne daß ich geschlagen wurde. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich dort noch etwa 70 Personen, von denen bestimmt 50 verletzt waren. Die Hälfte von ihnen war blutüberströmt und schwer verletzt. Von den vorausgegangenen Übergriffen hatte ich persönlich nichts direkt mitbekommen, harrte ich doch in meinem vermeintlichen Zufluchtsort aus. Ich habe unten in der Halle allerdings gesehen, wie Leute übel zusammengeschlagen wurden. Niemand hat sich gewehrt, weil die Polizeipräsenz und -brutalität zu massiv war. Ich sah eine Frau auf einer Treppe stehen. Jeder Polizist, der an ihr vorbeiging, hat mit seinem Knüppel auf sie eingeprügelt. Ein Schlag ins Gesicht hat den Kiefer der Frau gebrochen und die vorderen Zähne ausgeschlagen.

Von Anfang an hatte ich deutlich darauf hingewiesen, daß ich Journalistin bin. Ich hatte meine Akkreditierung umgehabt, meinen Presseausweis in der Hand und immer wieder gerufen: Presse, Presse, Presse. Doch das hat keine Rolle gespielt und wurde ignoriert. Ein Zivilpolizist hat schließlich die Ausweise angeschaut und durch die Zähne gepfiffen - frei nach dem Motto: Was haben wir denn da gefangen. Schließlich wurde mir alles abgenommen: Rucksack, Dokumente, alles. Die italienischen Behörden wußten von Anfang an: Die Verhaftete Kirsten Wagenschein ist eine akkreditierte Journalistin.

Im Anschluß wurde ich zusammen mit den anderen Festgenommenen in eine Kaserne gefahren. Hände über dem Kopf - so wurden wir alle durchsucht. Wir wurden an die Zellenwand gestellt, ungefähr 40 Frauen und Männer. Die meisten von ihnen in der einen oder anderen Form verletzt. Es gab ganz viele Kopfverletzungen und Nasenbeinbrüche. Die Polizisten hatten augenscheinlich gezielt auf die Köpfe geschlagen. Diejenigen, die versucht hatten, sich schützend Hände vors Gesicht zu halten, hatten neben den Verletzungen am Kopf eben auch noch einen Gipsarm. Und alle standen wir Gesicht zur Wand, Beine breit und Hände über dem Kopf. Ich weiß nicht, wie lange wir so stehen mußten. Man verliert dabei jegliches Zeitgefühl.

Immer wieder sind Polizisten reingekommen, haben uns die Beine auseinandergetreten und die Arme hochgeschlagen, damit wir möglichst unbequem stehen. Auch diejenigen, deren Arm oder Bein bei dem Polizeiangriff gebrochen worden war, mußten so stehen. Und immer wieder haben die Polizisten geflüstert: Tonfa, Tonfa. Es war ein stundenlanger totaler Psychoterror, und immer wieder wurden Leute auch geschlagen.

Ich habe dies nicht selbst gesehen, da ich wie alle anderen mit dem Gesicht zur Wand stehen mußte. Doch jeder von uns hat die Schläge und Schreie gehört.

Zwischendurch durften sich die Frauen einen Moment setzen, die Männer nicht. Schließlich durften sich die Frauen mit dem Rücken zur Wand setzen. Wer auf die Toilette wollte, mußte durch ein Spalier von Polizisten gehen. Auf dem Rückweg habe ich einmal mit eigenen Augen gesehen, wie in einer anderen Zelle ein Mann von einem Polizisten mit einem Tonfa auf den Bauch geschlagen wurde. Der Polizist hat ihn mit der einen Hand an der Schulter hochgehalten, mit der anderen geschlagen. Der Verprügelte hat geschrieen und geschrieen, doch er wurde weiter geschlagen.

Bis Montag früh waren wir in dieser ersten Gefangenensammelstelle. Und die ganze Zeit über wurden Festgenommene geschlagen. Wir saßen in 20 Quadratmeter großen Zellen auf kaltem Steinboden, hatten praktisch nichts zu essen und kaum Wasser bekommen. Ich wußte die ganze Zeit über nicht, was mir vorgeworfen wird. Niemand wußte es. Es gab keine Übersetzer, keinen Zugang zu Rechtsanwälten oder zur deutschen Botschaft. Nichts. Wir wußten ja noch nicht einmal, wo wir eigentlich waren. Am Montag wurden alle erkennungsdienstlich behandelt. Es wurden Fotos gemacht und Fingerabdrücke genommen. Schließlich gab es eine erste Untersuchung. Wir mußten uns nackt ausziehen, ein Arzt und zwei Polizistinnen untersuchten, ob wir Verletzungen, etwa Blutergüsse, haben und haben das dann notiert. Doch auch als wir aus den Zellen zur Untersuchung geholt wurden, wußten wir nicht, was mit uns passiert, ob wir weggebracht oder anderenorts verprügelt werden.

Erst im Frauengefängnis Volghera, wohin ich zusammen mit anderen Frauen Montag nachmittag gebracht wurde, behandelte man uns einigermaßen korrekt, und der Psychoterror und die Schläge hatten ein Ende. Die Tortur dauerte mithin 36 Stunden. Zu keinem Zeitpunkt hat es eine Rolle gespielt, daß ich Journalistin bin. Keiner hat darauf reagiert. Mir wurde auch nicht erlaubt, Kontakt zu einer Anwältin oder einem Anwalt aufzunehmen. Keinem wurde dies erlaubt. Uns wurde immer gesagt, ein Telefonat mit einem Anwalt sei erst möglich, wenn wir vor dem Richter stehen.

Dienstag abend erhielt ich schließlich erstmals Besuch von einem Mitarbeiter des deutschen Generalkonsulats, der mir sagte, man hätte mich ausgesucht für einen Gefangenenbesuch, weil ich eine Journalistin sei. Das war das erste Mal, daß ich das Gefühl hatte, es nimmt endlich jemand wahr, daß ich von der Presse bin. Tatsächlich hatte ich zwei Stunden vor diesem Besuch erstmals die Erlaubnis erhalten, eine Wahlverteidigerin zu benennen. Das war am dritten Tag meiner Festnahme, lange nach der gesetzlich vorgeschriebenen 48-Stunden-Frist.

Am Mittwoch wurde wir inhaftierten Frauen "endlich" dem Haftrichter vorgeführt. Das erste Mal gab es einen Dolmetscher und eine Gruppe von Anwälten und Pflichtverteidigern, die sich um uns kümmerten. Das erste Mal erfuhr ich, was mir vorgeworfen wird: Verdacht auf Mitgliedschaft in einer internationalen Vereinigung namens Black Block. Gegen 20 Uhr wurde ich freigelassen und konnte Volghera den Rücken kehren. Zusammen mit den anderen Haftentlassenen wurde ich über den Brenner abgeschoben. Italien darf ich einem vorläufigen Bescheid des Haftrichters zufolge die nächsten fünf Jahre nicht besuchen.

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Kriminalisierung und Bürgerkrieg

Artikel von Gerhard Klas aus 'junge Welt' vom 28.07.2001 - Momente der Antiglobalisierungsbewegung (*)

Die italienische Metropole an der ligurischen Küste wirkte in einigen Stadtteilen fast wie ausgestorben. Viele Genueser waren dem Aufruf des Polizeipräfekten gefolgt, für die Tage des G-8-Treffens ihre Stadt zu verlassen. Bei praller Sonne und 30 Grad im Schatten blieben die Liegestühle an den Stränden der Hafenstadt leer und die Sonnenschirme geschlossen. Außerhalb der "roten Zone", die die gesamte Altstadt umfaßte und mit Schiffscontainern und auf Beton montierten Drahtzäunen zum Sperrgebiet wurde, hatten die Geschäftsleute an den Hauptstraßen nahezu alle Fensterscheiben mit Holzlatten und Metallgittern verkleidet, um ihre Läden vor den von den Medien und Politikern angekündigten Randalen zu schützen. Die als linke Hochburg geltende Stadt wirkte schon ab Wochenbeginn geradezu gespenstisch, wären da nicht die mehreren zehntausend Gipfelgegner gewesen, die schon Tage zuvor nach Genua angereist waren. Die ließen sich nicht beirren - auch nicht durch die Bombendrohungen und -attentate.

Viele fühlten sich an die 70er Jahre erinnert, als rechte Organisationen in Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten Bomben auf Bahnhöfen detonieren ließen und die Roten Brigaden dafür verantwortlich machten. Das "Genoa Social Forum", unter dessen Dach sich tausend internationale Organisationen befanden, erklärte wiederholt, daß zwar einige Gruppen wie die "Tute bianche" Aktionen des zivilen Ungehorsams planten, aber alle es ablehnen würden, Gewalt gegen Personen anzuwenden.

Manchmal haben auch Unterhosen einen politischen Symbolwert. In Genua konnte man daran die Unterstützung für die Gipfelgegner ablesen: der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi hatte die Einwohner der Stadt angewiesen, ihre Wäsche, die in Italien oft an Wäscheleinen vor den Fenstern getrocknet wird, einzuholen. Dieser Anblick sei den Vertretern der G8 nicht zuzumuten, meinte Berlusconi. Als Zeichen des Protests schwenkten deshalb die daheimgebliebenen Genueser nicht nur Che- Guevara-Fahnen, sondern auch ihre Unterwäsche, während unter ihnen die Demonstrationen vorbeizogen. Die Anweisung Berlusconis hat eine historische Entsprechung: 1938, als Adolf Hitler seinen Gesinnungsgenossen Benito Mussolini in Rom besuchte, gab es dieselbe Anordnung.

Mit großen Erwartungen sahen viele dem Freitag entgegen. Würde es gelingen, mit Mitteln des zivilen Ungehorsams die Absperrungen zu überwinden? Einige waren dieser Ansicht und übten sich im Bauen von Menschentürmen. Doch die insgesamt sechs Demonstrationszüge des GSF - einige Gruppen hatten sich nicht daran beteiligt, weil sie das Konzept wegen mangelnder Radikalität kritisierten - waren gerade losgegangen, da gab es schon die ersten Zwischenfälle. Die unabhängigen Cobas-Basisgruppen, die in Italien stark verbreitet sind, sahen sich auf ihrem Kundgebungsplatz auf der Piazza del lavoro von einem schwarzen Block umringt, der ihre Veranstaltung kurzerhand vereinnahmte und die Konfrontation mit der Polizei suchte.

Von den tödlichen Kopfschüssen auf den 23jährigen Carlo Giuliani, Sohn eines bekannten Genueser Gewerkschafters, erfuhren die meisten erst am Abend. Der Polizeipräfekt hatte nach den Schüssen den absoluten Notstand verfügt. Selbst Anwohnern und Journalisten wurde der Zugang zur "roten Zone" verwehrt. Diejenigen, die sich darin befanden, kamen für Stunden nicht hinaus. "Assassini, Assassini", schrien viele der mehr als 200 000 Teilnehmer der Großdemonstration am Sonnabend den Polizisten an den Absperrungen entgegen. An der Piazza le Kennedy entwickelte sich die erste große Straßenschlacht. Das GSF hatte zwar den Ordnerdienst verstärkt, der aber angesichts der Übermacht empörter Demonstranten nur kurze Zeit standhalten konnte. Die Polizei reagierte mit ungeheurer Brutalität und Unmengen an Tränengas. Eine Stunde nach Beginn der Demonstration blockierte sie die Großdemonstration und schlug wahllos auf alle Teilnehmer ein.

Wer auf der Flucht vor der Polizei hinfiel, wurde von den Beamten geschlagen und zusammengetreten. Einige Demonstranten seien über Mauern in einen drei Meter tiefen Abgrund geworfen worden. Sanitäter berichteten auf der Abschlußveranstaltung des GSF, daß sogar ein Krankenwagen von der Polizei aufgebrochen und anschließend mit Tränengas beschossen worden sei.

Am Sonnabend abend verdichten sich die Informationen, daß zahlreiche Agents provocateurs unterwegs sind. Vor allem das Team von Indymedia hatte gute Arbeit geleistet und viel Bildmaterial gesammelt. Das ist möglicherweise der Grund, so vermuten einige, warum es Sonntag früh zum größten Gewaltexzeß kam. Mit dem Vorwurf, in den Gebäuden hätten Teile des schwarzen Blocks Unterschlupf gefunden, stürmte die Polizei das Medienzentrum und die gegenüberliegende Schule Diaz. Während es im Medienzentrum weitgehend bei Festnahmen, Zerstörung von Computern und Beschlagnahmung sämtlichen Bild- und Datenmaterials blieb, wüteten die Polizeibeamten 45 Minuten in der Schule, zu der auch viele Stunden später noch Journalisten, Abgeordneten und Anwälten der Zutritt verwehrt blieb. Viele der mehrheitlich jugendlichen Demonstranten hatten schon geschlafen und wurden dennoch auf brutale und sadistische Weise zusammengeschlagen, und anschließend von der Polizei hinausgeschleppt, darunter auch jW-Mitarbeiterin Kirsten Wagenschein.

"Wir sind eine friedliche Bewegung, sie wollen uns zerstören. Dies ist eine Operation wie in Chile unter Pinochet. Sollte die Polizei die Beweisfotos über ihre Kontakte mit dem schwarzen Block suchen, muß sie wissen, daß sie an einem sicheren Ort lagern und demnächst der Staatsanwaltschaft übergeben werden", erklärte ein Sprecher des GSF nach dem polizeilichen Sturmangriff.

Selbst ein Teil der Medien in Italien, die nicht zum Berlusconi-Medienimperium gehören, scheinen aufgeschreckt. Auch sie werfen die Frage auf, ob es sich bei der nächtlichen Aktion nicht um einen Racheakt der Polizei gehandelt hat. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Bewegung trotz aller Repression stärker geworden ist. Die Antwort der Herrschenden darauf, so scheint es, ist nicht Dialog, sondern Kriminalisierung und Bürgerkrieg.

(*) Text zu einer Bildreportage aus der Wochenend-Beilage

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Rom in der Klemme

Artikel von Rüdiger Göbel aus 'junge Welt' vom 28.07.2001 - Italiens Regierung will Polizeikrawalle in Genua untersuchen

Italiens Regierung gerät in Sachen Polizeibrutalität in Genua immer mehr unter Druck. Am Freitag sah sich der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi gezwungen, eine "gründliche interne Aufarbeitung" der Auseinandersetzungen im Zusammengang mit den Protesten gegen den G-8-Gipfel vor einer Woche anzukündigen. "Wir werden nichts verbergen", erklärte er vor dem Senat in Rom. "Wenn es Mißbrauch oder Exzesse gegeben haben sollte, dann werden sie durch eine interne Untersuchung und die Ermittlungen der Gerichte ans Tageslicht gebracht."

Die Erklärung klingt verharmlosend und abwiegelnd. Beim Vorgehen der Polizei gegen die Globalisierungskritiker waren am vergangenen Wochenende der Demonstrant Carlo Giuliani erschossen und hunderte verletzt und festgenommen worden. Noch immer liegen fünf Deutsche mit zum Teil schweren Verletzungen in Genueser Krankenhäusern. Sie wurden am vergangenen Sonntag beim Polizeisturm auf die Diaz-Schule von Polizeibeamten brutal verprügelt. jW vorliegenden Informationen zufolge ist Benjamin K. mit gebrochenem Bein, zerschlagenem Kiefer und Nasenbeinbruch mit Handschellen an sein Krankenbett gekettet. Ein Großteil der rund 70 verhafteten Deutschen ist inzwischen aus der Haft entlassen und aus Italien abgeschoben worden. Den noch immer Inhaftierten drohen mehrjährige Haftstrafen. Nach wie vor ist es für Anwälte in Italien schwer, einen genauen Überblick zu bekommen, wie viele Globalisierungsgegner wo und unter welchen Bedingungen inhaftiert sind.

Unterdessen mehren sich die Stimmen, die eine "unabhängige Untersuchung" fordern. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele und seine Fraktionskollegin Annelie Buntenbach hatten bereits Mitte der Woche die Einrichtung einer internationalen Kommission gefordert. Am Freitag zog die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) nach und sprach sich für die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungsgruppe aus. Angesichts der Schwere der polizeilichen Gewalttätigkeiten und der internationalen Reaktionen darauf müsse eine mit "unabhängigen Persönlichkeiten" besetzte Kommission die Vorfälle untersuchen, erklärte der Vorsitzende der italienischen ai-Sektion, Marco Bertotto.

In Berlin schilderte Kirsten Wagenschein am Freitag erstmals vor der nationalen und internationalen Presse die Umstände ihrer Verhaftung (siehe jW vom 27. 7.). Die junge-Welt-Mitarbeiterin hatte sich am vergangenen Sonntag zu Recherchezwecken in der Diaz-Schule aufgehalten und war - trotz offizieller Akkreditierung und Verweis auf ihre journalistische Tätigkeit - bis Mittwoch abend in Volghera inhaftiert.

Die innenpolitische Sprecherin der PDS- Bundestagsfraktion, Ulla Jelpke, reichte derweil am Freitag eine umfangreiche Anfrage an die Bundesregierung ein. "Berichte über gravierende Menschenrechtsverletzungen, über schwerste Mißhandlungen und Körperverletzungen, tagelange Mißhandlungen in der Polizeihaft bis hin zur Folter, naziähnliche Schmähungen und Beleidigungen von Festgenommenen durch Beamte, wie sie in der Öffentlichkeit jetzt Tag für Tag mehr und detaillierter bekannt werden, müssen restlos und in allen Punkten durch eine internationale Untersuchungskommission aufgeklärt werden", erklärte Jelpke. Die Opfer dieser Mißhandlungen dürften nicht alleingelassen werden. Im Gegensatz zu den Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen schloß Jelpke auch die Bundesregierung in ihre scharfe Kritik ein. Diese könne sich ihrer Verantwortung für die Vorgänge rund um den G-8-Gipfel nicht entziehen. "Ich erinnere an die verantwortungslose Scharfmacherei von Innenminister Schily im Vorfeld des Gipfels." Der gleiche Minister sei jetzt "völlig abgetaucht". Für Menschenrechtsverletzungen in EU-Staaten, zumal durch Sicherheitskräfte, fühle sich Schily offenbar nicht zuständig, monierte die PDS- Parlamentarierin.

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Zuckerbrot

Kommentar von Werner Pirker aus 'junge Welt' vom 28.07.2001 - Globalisierungsgegner sollen gezähmt werden

Die Globalisierungsgegner haben sich Respekt verschafft. Sie werden als Gefahr für die bestehende Weltordnung wahrgenommen. Der Neoliberalismus, der sich bereits als Endsieger der Geschichte wähnte, läßt, zumindest was seine Selbstdarstellung betrifft, erstmals Schwächen erkennen. Die mächtigen Acht, die in sich selbst legitimiert schienen, fühlten sich angesichts der Massenproteste in Genua bemüßigt, ihr Treffen als Benefizveranstaltung für die Armen darzustellen. Doch als barmherzige Brüder geben sie ein nicht unbedingt glaubhaftes Bild ab.

Der Kapitalismus in seiner neoliberalen Phase erzielte seinen Durchbruch nach dem Sieg in der Systemkonkurrenz. Der entfesselten Profitwirtschaft schienen keine Grenzen mehr gesetzt zu sein. Auch auf der Ebene der gesellschaftlichen Wahrnehmung widerspiegelte sich die brachiale Durchsetzungskraft des Marktes. Die korrupte Umverteilung korrumpierte auch fortschrittliches Bewußtsein. Das Ende des "totalitären Jahrhunderts" und der Aufbruch in die weltweite Zivilgesellschaft wurden verkündet. 68er feierten ihren späten Sieg. Es war ein Sieg kleinbürgerlicher Karrieristen. Die imperialistische Neuordnung der Welt präsentierte sich als internationalistisches und menschenrechtliches Projekt, die Mißachtung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen wurde als Vorherrschaft universeller Prinzipien über den Nationalismus gedeutet. Kritik an der Globalisierung erschien als "nationalkonservativ", was sie zum Teil auch war, während viele "Progressive" nicht wahrhaben wollten, daß mit der Zurückdrängung des Nationalstaates vor allem dessen sozialstaatliche Komponenten vor die Hunde gehen.

Doch das "Volk von Seattle" ließ sich nicht in die rechte Ecke drängen, die Bewegung gegen die Globalisierung ist eindeutig links besetzt. Die Linksliberalen der 68er Generation versuchen sich nun, dieser Entwicklung anzupassen. Um die Bewegung dorthin zu drängen, wo sie selbst nach langem Marsch durch die Institutionen gelandet sind, werden die Rebellen von heute - nicht ganz unrichtig - in die Tradition der Rebellen von 1968 gestellt. Der Globalisierung von oben müsse die Globalisierung von unten folgen. Die Gipfelstürmer seien im Grunde die wirklichen "Internationalisten". Denn sie befänden sich auf dem Weg in die - dreimal darf geratet werden - internationale Zivilgesellschaft. Es wäre das Ende dieser militanten Bewegung, würde sie sich in die Sackgasse des Liberalismus locken lassen. Sollte eine Globalisierung der gesellschaftlichen Basisströmungen tatsächlich möglich sein, dann nicht als zivilgesellschaftliches Brimborium der globalen Konzentration des Kapitals, sondern nur als dessen radikale Negation. Nur in der Antithese zum neoliberalen Imperialismus kann die Bewegung ihr gesellschaftsveränderndes Potential entfalten.

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"Massakerähnliche Übergriffe"

Artikel von Jochen Köhler aus 'junge Welt' vom 28.07.2001 - Grünen-Abgeordnete entsetzt nach Genua-Reise. Folterungen durch die Polizei bestätigt

"Es muß rechtliche Konsequenzen für die uniformierten Schläger geben", forderte Hans-Christian Ströbele am Freitag vor Pressevertretern in Berlin. Der Grünen- Abgeordnete hatte seit Mittwoch gemeinsam mit seiner Fraktionskollegin Annelie Buntenbach in Haftanstalten und Krankenhäusern in Genua internierte und teilweise schwerverletzte Globalisierungsgegner besucht. Ströbele zeigte sich entsetzt von den Erkenntnissen, die er vor Ort gewonnen hatte und sprach von "massakerähnlichen Übergriffen der Polizeieinheiten" während der Demonstrationen gegen den G-8-Gipfel am vergangenen Wochenende. Nach Ströbeles Bericht befinden sich noch fünf Deutsche in Genueser Krankenhäusern, darunter zwei Frauen. Alle Patienten, so Ströbele, wiesen Merkmale schwerster Mißhandlungen und massive Kopfverletzungen auf. Einem Patienten sei mit einer Notoperation gerade noch das Leben gerettet worden. Einem anderen wurde mit einem Knüppel der Unterkiefer erst rechts und dann links zertrümmert. Einer Frau hätte ein Polizist mit dem Stiefel den Brustkorb eingetreten. Insgesamt befänden sich immer noch 23 meist jugendliche Demonstranten mit deutscher Nationalität in Haft.

Ströbele erklärte die Berichte der Augenzeugen über die verbrecherischen Polizeiaktionen, die er gehört habe, für unbedingt glaubwürdig. Die Angaben verschiedener Personen hätten sich detailgetreu gedeckt, obwohl diese keine Gelegenheit gehabt hätten, sich vorher abzusprechen. Demnach wären bei dem Polizeiüberfall auf die Armando-Diaz-Schule teilweise im Schlaf überraschte und sofort die Hände hebende friedliche Demonstranten brutal zusammengeknüppelt worden. Festgenommene hätten stundenlang mit erhobenen Händen an einer Wand stehen müssen. Frauen, die entkräftet zusammenbrachen, wurden solange geschlagen, bis sie entweder wieder aufstanden oder abtransportiert werden mußten. Dies sei von den Polizisten mit "faschistischen und sexistischen Sprüchen" begleitet worden. Etwa 60 Opfer wurden auf Bahren aus der Schule getragen.

Zu massiven Folterungen sei es auch im Polizeigewahrsam gekommen. Mit Knüppelschlägen ins Gesicht wurden Globalisierungsgegner gezwungen, Polizeiprotokolle in italienischer Sprache zu unterschreiben. Zusammengeschlagene wurden stundenlang auf dem Fußboden in ihrem Blut vor den Zellen liegengelassen. Ströbele erklärte die Stellungnahme des Polizeipräsidenten von Genua, die Polizisten seien vor ihrer Aktion in der Schule von Demonstranten mit Flaschen und Messern angegriffen worden, als nicht zutreffend. Ströbele selbst hatte die Örtlichkeit besichtigt. Ein über fünf Meter hoher Zaun hätte die unterstellten Attacken unmöglich gemacht.

Ströbele betonte, die Grund- und Menschenrechte sowie die Genfer Konvention zur Behandlug von Gefangenen seien "im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten" worden. Er forderte nachdrücklich die Einrichtung einer internationalen Kommission zur Untersuchung der Vorfälle. Der Besuch der zwei Bundestagsabgeordneten sei für die Inhaftierten der erste Kontakt zur Außenwelt gewesen. Zuvor wären ihnen keinerlei Telefongespräche, beispielsweise mit einem Rechtsanwalt, ermöglicht worden. Vertreter des deutschen Konsulats und Familienangehörige wurden nicht zu den Gefangenen vorgelassen. Ströbele stellte fest, daß von Dutzenden Deutschen, die in der Diaz- Schule verhaftet worden waren, bis auf eine Person alle wieder freigelassen wurden. Mehrere Richter wären unabhängig voneinander zu der Auffassung gelangt, daß keine Haftgründe vorlägen. Somit wäre deutlich, betonte Ströbele, daß die gesamte Verhaftungsaktion durch die italienische Polizei unrechtmäßig gewesen sei.

Nach ihrer Haftentlassung wurden die teilweise fernab jeder Demonstration aus dem Auto oder auf der Straße verhafteten Globalisierungsgegner von Polizeikräften abgeschoben. Dabei seien viele "einfach am Brenner ausgesetzt" worden, schilderte Buntenbach. Diese Verfahrensweise sei "absurd" und müsse ebenfalls "rechtlich überprüft" werden. Da die Freigelassenen offensichtlich unschuldig sind, hätten sie nicht abgeschoben werden dürfen, sagte die Politikerin.

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Kolonialherren unter sich

Artikel von Wolfgang Pomrehn aus 'junge Welt' vom 28.07.2001 - In Genua stellten G-7-Staaten Weichen zur weiteren Ausbeutung der Entwicklungsländer

Nichts als heiße Luft sei beim G-7-Treffen in Genua herausgekommen, meint Philipp Hersel von Attac im jW- Interview. Sicher: Die Staats- und Regierungschefs der mächtigsten Staaten haben keinen Kurswechsel hin zu einer sozialeren Welt beschlossen. Insofern hat er also Recht. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die Erklärungen der Mächtigen, denn was sie vorhaben, ist wesentlich mehr als die Erhaltung des Status quo.

Zunächst ist da vor allem die Welthandelsorganisation WTO zu nennen. Die EU drängt, nicht zuletzt auf Veranlassung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, bereits seit langem auf eine neue Verhandlungsrunde. In Seattle war sie 1999 damit gescheitert; die USA hatten seinerzeit aus innenpolitischen Gründen das Ansinnen nur halbherzig unterstützt. In Genua wurde nun bekräftigt, was sich bereits seit längerem abzeichnet, nämlich daß das Vorhaben gemeinsam angegangen werden soll: "Verpflichten wir uns heute, uns auf der IV. WTO- Ministerkonferenz in Dohar, Qatar, im November persönlich und gemeinsam für die Einleitung einer neuen ehrgeizigen Runde weltweiter Handelsverhandlungen einzusetzen."

Den europäischen und amerikanischen Konzernen geht es bei dieser neuen Verhandlungsrunde nicht nur um verbesserten Marktzugang für ihre Exporte weltweit. Mehr noch sind sie daran interessiert, die Märkte für Dienstleistungen zu öffnen sowie alle etwa 140 WTO- Mitglieder zur Privatisierung der profitablen Teile des öffentlichen Dienstes zu zwingen. Der Dienstleistungsmarkt ist vor allem für Versicherer und Medienkonzerne von Interesse, die sich frühzeitig in den aufstrebenden Schwellenländern ein gehöriges Stück vom Kuchen sichern wollen. Auf die Privatisierungen sind hingegen vor allem die großen Versorgerkonzerne wie RWE und Vivendi scharf, die sich u.a. vom Zugriff auf das Trinkwasser Profite erhoffen. Damit diese auch langfristig gesichert bleiben, möchte die EU in den neuen WTO-Verträgen, die sie anstrebt, auch gleich eine möglichst weitgehende rechtliche Absicherung der Position ausländischer Investoren festgeschrieben haben. Es geht letztlich um die Wiederauferstehung des MAI (Multilaterales Abkommen über Investitionsschutz) im neuen Gewande.

In Seattle war ein entsprechender Vorstoß der Europäer am Widerstand der Entwicklungsländer gescheitert. Inzwischen hat Brüssels hartnäckige Diplomatie einige wichtige Staaten aus der Ablehnungsfront des Südens herausbrechen können. Namentlich Südafrika geht derweil unter seinen Nachbarn und anderen Entwicklungsländern für eine neue WTO-Verhandlungsrunde hausieren. Daraus zu schließen, daß vor allem die Entwicklungsländer Verhandlungen für eine weitere Liberalisierung des Welthandels wollen, wie es dieser Tage ein großes national- liberales Wochenmagazin tat, ist allerdings irreführend. Vermutlich hat der Autor einfach ein entsprechendes Propagandapamphlet der Bundesregierung abgeschrieben.

Die Gründe, weshalb die Entwicklungsländer in Seattle eine neue Runde ablehnten, sind vielfältig. Unter anderem beharrten sie darauf, daß erst die bestehenden Probleme aus den alten Verträgen gelöst werden müßten und vor allem auch die Industriestaaten endlich ihre Verpflichtungen erfüllen sollten. Die führen nämlich gerne den Freihandel auf den Lippen, finden aber dennoch tausend Wege, ihre heimischen Industrien vor Importen aus dem Süden zu schützen. Vor allem die afrikanischen Staaten forderten zudem Nachverhandlungen zum Abkommen über Handelsaspekte des Schutzes von Patenten und Urheberrechten (TRIPS). Wie den Regierungen im Nachhinein aufgegangen war, waren sie hier seinerzeit in der Uruguay-Runde schlicht weg über den Tisch gezogen worden, indem sie Privatunternehmen aus dem Norden weitgehende Rechte einräumten, die genetischen Ressourcen ihrer Länder zu patentieren.

Die Genua-Erklärung der G 7 - an der Rußland nicht beteiligt war - läßt indes keinen Zweifel daran, daß man nicht gedenkt, den Anliegen der Länder des Südens entgegenzukommen. Deren angebliche Prioritäten werden einfach umdefiniert, indem sie allein auf verbesserten Marktzugang im Norden reduziert werden. Hier gibt es die seit Seattle üblichen wohlfeilen Willensbekundungen, denen bisher wenig Taten gefolgt sind. Ansonsten gibt es nach wie vor nackte Erpressung: "Wir erkennen an, daß es bei der Umsetzung der Vereinbarungen der Uruguay-Runde (d.h. der bestehenden WTO-Verträge) legitime Anliegen gibt. Wir sind bereit, Wege zu prüfen, wie wir (in der Lösung dieser Frage) weitere Fortschritte im Zusammenhang mit der Einleitung einer neuen Runde erzielen können." Auf Deutsch: Wir sprechen nur über eure Probleme, wenn ihr zuvor grundsätzlich einer neuen Verhandlungsrunde zustimmt.

Bemerkenswert ist, daß die G-7-Chefs sich offensichtlich in der arabischen Wüste persönlich für den Startschuß zu einem neuen Verhandlungsmarathon starkmachen wollen. Soviel Engagement hätte man sich vielleicht auch einmal in Fragen wie dem weltweiten Klimaschutz erhofft. Doch bei den Klimakonferenzen handelt es sich ja um einen Prozeß im Rahmen der Vereinten Nationen, in dem jeder Staat zumindest formell das gleiche Gewicht hat. Anders in der WTO. Hier bestimmen die Mitglieder, wer zugelassen ist, und der Eintritt ist nicht umsonst zu haben. Derzeit kann man das an den Verhandlungen mit China ablesen. EU und USA haben Peking hohe Zugeständnisse bezüglich der Marktöffnung abverlangt, bevor es demnächst beitreten darf.

Bei den gleichzeitig zum Genua-Treffen in Bonn stattfindenden Klimaverhandlungen ließ sich jedoch kein Regierungschef blicken. Statt dessen verkündete man aus Italien: "Wir bekräftigen unsere Entschlossenheit, globale Lösungen für die unseren Planeten bedrohenden Gefahren zu finden." Nicht die fast 180 Mitgliedsländer der Klimarahmenkonvention, sondern die führenden Industrienationen werden also die Lösung finden. Da ist sie wieder, die Kolonialherrenmentalität. Dabei hatte man sich doch angesichts der Proteste mit so vielen schönen bunten Seifenblasen über die Einbeziehung der Zivilgesellschaft Mühe gegeben, um nicht zu deutlich zu werden. Während in Bonn auf der UN-Konferenz noch über einen schwindsüchtigen Kompromiß gestritten wurde, verkündeten die Herren in Genua, man wolle für 2003 eine "Konferenz über Klimawandel (einberufen) unter Beteiligung von Regierungen, Unternehmen, Wissenschaftlern und Vertretern der Zivilgesellschaft". Soll heißen: Was kümmern uns die Verhandlungen im Rahmen der UN-Konvention, was kümmert uns die große UN- Konferenz über Umwelt und Entwicklung 2002 in Südafrika ("Rio plus 10"), wir bestimmen selbst, wo es langgeht. Nachdem mit der WTO die UNO in Handelsfragen kastriert wurde, macht man sich wohl inzwischen Gedanken, wie man diesen Erfolg auf anderen Gebieten wiederholen könnte.

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Wenn alle einig sind

Artikel aus 'junge Welt' vom 28.07.2001 - Die Ereignisse von Genua im Spiegel der Presse oder noch einmal: Wie wichtig ist die junge Welt?

"Wie lassen sich 'die Guten' und 'die Bösen' unter den Gipfelgegnern unterscheiden, wenn mit zunehmender Wut die Grenzen zwischen zivilem Ungehorsam und Gewalt verwischen? Doch weder Randale noch ein vermeintlicher Moralanspruch verschaffen der Antiglobalisierungsbewegung eine Legitimation.
(Hamburger Abendblatt)

"Bilder und Berichte der Opfer des Polizeieinsatzes von Genua lassen kaum noch einen anderen Schluß zu: Die italienischen Sicherheitskräfte sind zumindest in der Nacht zum Sonntag bei dem Angriff auf eine Schule, in der Globalisierungsgegner untergebracht waren, überhart vorgegangen. Im Schlaf wurde die Mehrzahl von ihnen überrascht und ohne Gegenwehr zusammengeprügelt, bis einige krankenhausreif waren. Der empörte Aufruf, wie dies mitten in Europa heute noch geschehen konnte, führt jedoch in die Irre. Unter Druck, schlecht ausgebildet und nicht auf eine vergleichbare Situation vorbereitet, wären auch andernorts solche Übergriffe denkbar."
(Kölner Stadt-Anzeiger)

"Die G-8-Staaten sind entschlossen, den Agitatoren nicht nachzugeben. So haben sie sich entschlossen, im kommenden Jahr an einem stillen Platz in den Rocky Mountains zusammenzukommen. Das wird die Entschlossensten unter den Militanten nicht davon abhalten, als Störer aufzutreten. Die Tragödie von Genua kommt ihnen ganz recht. So können sie weiter die Polizeigewalt anprangern, um ihr eigenes Gewaltsystem zu rechtfertigen."
(La Tribune, Frankreich)

"Es wäre allerdings besser gewesen, die jetzt eingeleitete Verkleinerung wäre nicht unmittelbar im Gefolge der Gewalttaten von Genua verkündet worden. So kann der Eindruck entstehen, die Politiker würden vor dem Druck der Straße weichen. Um so wichtiger ist es daher, überführte Täter mit aller Härte des Gesetzes zu bestrafen. Jedem Krawalltouristen muß klar werden, daß er sich auf einem gefährlichen Irrweg befindet."
(Neue Osnabrücker Zeitung)

"Die Eskalation der Gewalt läßt sich erklären (und jedesmal halten sich sofort die gewohnten Experten bereit). Vielleicht sind die Erklärungen sogar ein wenig hilfreich, nicht etwa, weil sie wirklich etwas erklärten, sondern weil jeder Erklärungsversuch der Gewalt den Anschein von Ansprechbarkeit, von Rationalität und von Berechenbarkeit verleiht."
(Berliner Zeitung)

"Es gibt keinerlei Rechtfertigung für die Gewalt der Polit- Hooligans. Sie sind unter der Flagge der Globalisierungsgegner nach Genua gekommen und haben doch nur Krawall im Sinn. Dafür gehen sie sogar über Leichen. Sie diskreditieren die Anliegen der friedlichen Demonstranten. Nach dem Gipfel wird man klären müssen, wie es zu einer derart folgenschweren Gewaltorgie in den Straßen von Genua kommen konnte. Warum trotz beispielloser Vorbereitung so viel Blut floß."
(Lübecker Nachrichten)

"Den militanten Globalisierungsgegnern geht es auch längst nicht mehr darum, politische Überzeugungen an den Mann zu bringen. Für sie ist, wie bei ähnlichen Anlässen zuvor, die sogenannte >rote Zone< - das Sperrgebiet um den jeweiligen Tagungsort - das einzig verbliebene rote Tuch."
(Sächsische Zeitung)

"Riesen-Gipfel ziehen Gegner an wie das Licht die Motten. Man kann Licht ausknipsen und Gipfel entschärfen. Es müssen neue Formen der Verständigung her."
(Kieler Nachrichten)

"Alle Appelle, friedlich in Genua zu demonstrieren, waren zwecklos: Die internationale Liga der Krawallmacher lacht sich darüber nur kaputt. Feige vermummt treten diese Hirnis das legitime Recht auf Protest mit Füßen, predigen Haß und Zerstörung. Ihnen ist es dabei vollkommen gleichgültig, ob Menschen verletzt oder gar getötet werden. Nackte Gewalt als Spaßfaktor - wie lange wollen wir uns das eigentlich noch bieten lassen? Wenn ganze Städte immer wieder aufs Neue leer geräumt und mit Millionenaufwand in Festungen verwandelt werden, ist das schon eine Kapitulation. Schluß damit! Die einzige Sprache, die kriminelle Hooligans aller Art verstehen, sind harte Strafen - und zwar in jedem Land."
(Kölner Express)

"Allein eine ideologische, symbolische und praktische >Abrüstung< in beiden Lagern könnte die Rückkehr zum Dialog eröffnen."
(Frankfurter Rundschau)

"Dennoch wäre es klug, über das Legitimationsdefizit nachzudenken, das die Kritiker dem Klub der reichen Staaten vorwerfen. Und es könnte verringert werden: indem die Regierungschefs die Gipfelthemen vorher zu Hause in den Parlamenten diskutieren lassen. Oder indem Vertreter derjenigen, die in Genua friedlich demonstriert haben, zum Meinungsaustausch in die Präsidentenpaläste geladen werden. Die gewaltbereite Minderheit von ein bis zwei Prozent würde sich zwar nicht darauf einlassen - könnte so aber wirksamer isoliert werden."
(Die Tageszeitung)

"Ausgerechnet der türkische Menschenrechtsausschuß macht sich in diesen Tagen anheischig, Menschenrechtsvergehen statt im eigenen Lande in Zusammenhang mit dem Genua-Gipfel zu verfolgen - ein Bericht darüber in der liberalen Zeitung Milliyet trug die treffende Überschrift: 'Das ist kein Witz'."
(Hannoversche Allgemeine Zeitung)

"Brutalität, vor allem wenn sie unprovoziert war, braucht man nicht zu bemänteln, sie wäre auch das Gegenteil von Professionalität. Aber in Genua sah sich die Polizei dauernden Angriffen ausgesetzt. Der Abgeordnete Ströbele mag das anders sehen, aber sie war es nicht, die ein Protestwochenende im Zeichen brennender Autos, von Brandbomben und Plünderungen veranstaltet hat."
(Frankfurter Allgemeine Zeitung)

"Die Tribunalisierung der Politik aber, die Italien den Charakter eines Rechtsstaates absprechen will, dient nur dazu, die Wut und Trauer über die Gewalt von Genua parteipolitisch zu vereinnahmen und dadurch der weiteren Abstumpfung Vorschub zu leisten."
(Die Welt)

"Die Grünen erklären, daß das Recht der Bürger, sich friedlich und ohne Waffen frei zu versammeln, nicht durch Ausweisentzug und Meldeauflagen in Deutschland eingeschränkt werden dürfe. Völlig richtig. Einige Demonstranten waren aber nicht friedlich. Und Waffen hatten sie auch. Wie sollen Terror-Touristen denn daran gehindert werden, randalierend durch Gipfel-Städte zu ziehen, wenn nicht durch Reiseauflagen?"
(Westfälischer Anzeiger)

"Nicht nur die 'Mächtigen', auch deren Kritiker können nach Genua nicht weitermachen wie zuvor. (...) Nicht zuletzt, weil sie die Hooligans nicht mehr loswerden, denen sie einst - zur Erweckung globaler Aufmerksamkeit - bereitwillig Gastrecht eingeräumt hatten."
(Züricher Tages-Anzeiger)

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Von Trondheim bis Hongkong

Artikel von Wolfgang Pomrehn aus 'junge Welt' vom 30.07.2001 - Weltweite Proteste nach Polizeibrutalität in Genua

Nach den exzessiven Gewalttätigkeiten italienischer Polizisten gegen Demonstranten in Genua am 20. und 21. Juli kam es in der vergangenen Woche sowie am Wochenende weltweit zu Protesten. Das unabhängige Medienzentrum (www.indymedia.org) spricht von über 200 Solidaritätsdemonstrationen in etwa 120 Städten. Die meisten und größten Proteste gab es in West- und Nordwesteuropa, aber auch aus Osteuropa, Amerika, Australien und Asien wird von Kundgebungen und Demonstrationen berichtet. Die nördlichste Demonstration dürfte wohl die im norwegischen Trondheim gewesen sein. In den USA gab es Aktionen u.a. in New York, Portland, Detroit, Washington DC, San Francisco und San Diego. In Athen kam es am 24. Juli bei einer Demonstration von 3 500 Menschen zu Zusammenstößen mit der Polizei; Aktionen gab es auch in Thessaloniki. Aus Lateinamerika werden Proteste u. a. aus Buenos Aires, Mexiko-Stadt, Santiago de Chile, Belo Horizonte, Sao Paulo und Fortaleza gemeldet. In Argentinien gab es einen Boykottaufruf gegen italienische Produkte. Der brasilianische Gewerkschaftsdachverband CUT sowie verschiedene Einzelgewerkschaften, die Landlosenbewegung (MST) und Studentenorganisationen wandten sich in einem Schreiben an die italienische Botschaft und forderten den sofortigen Rücktritt des italienischen Innenministers Claudio Scajola.

Eine Gruppe Hongkonger Bürger fordert die italienische Regierung auf, sich zu entschuldigen. In einer in der chinesischen Stadt verteilten Erklärung, die auch über das Internet verbreitet wurde, greifen sie die Freihandelspolitik der G 8 an, "die die gewöhnlichen Menschen in immer tiefere Armut stürzt". Gleichzeitig erinnern sie an die Polizeigewalt gegen Demonstranten in Göteborg und Papua- Neuguinea bei ähnlichen Anlässen: "In Papua-Neuguinea hat die Polizei das Feuer auf Demonstranten eröffnet, die gegen Weltbank und Internationalen Währungsfonds demonstrierten. Drei Studenten wurden getötet und 17 weitere verletzt." "Alles deutet darauf hin", so die Gruppe, "daß eine derartige staatliche Gewalt eher zur Regel als zur Ausnahme wird und daß Staaten auf der ganzen Welt mit Unterdrückung versuchen, das Entstehen einer Massenbewegung gegen Globalisierung zu verhindern." Den arbeitenden Menschen Hongkongs habe der freie Markt vor allem Armut und Arbeitslosigkeit gebracht, während die Regierung gleichzeitig die Polizei einsetze, um friedliche Proteste zu zerschlagen.

Um das in Zukunft noch effektiver zu können, studiert die Polizei der Administrativen Sonderzone derzeit die Vorgänge in Genua und anderswo. Führende Polizeioffiziere berichteten gegenüber der örtlichen Presse am vergangenen Freitag, daß man besorgt wegen zweier Wirtschaftsforen sei, die demnächst in Hongkong stattfinden. Man stehe mit den Polizeibehörden Europas in Kontakt, um etwas über die Taktiken der Protestbewegung zu lernen.

Globalisierung des Widerstandes

Eine unvollständige Liste der Städte, in denen gegen die Polizeigewalt in Genua bisher protestiert wurde: Aachen, Alicante, Amsterdam, Ankara, Athen, Barcelona, Belo Horizonte, Bergen, Berkley, Berlin, Bern, Bielefeld, Bietigheim, Biesfeld/ Stuttgart, Bilbao, Bolluno, Bonn, Boston, Braunschweig, Bregenz, Bremen, Bristol, Brüssel, Buenos Aires, Calgary, Clermont Ferrand, Detroit, Dortmund, Dresden, Dublin, Düren, Erfurt, Erlangen, Florenz, Fortaleza, Freiburg, Gießen, Gijon (Spanien), Goslar, Görlitz, Göteborg, Göttingen, Graz, Grenoble, Hamburg, Hannover, Halifax, Hartford, Heidelberg, Helsinki, Herzogenrath, Hongkong, Innsbruck, Irun (Baskenland), Istanbul, Izmir, Jena, Jülich, Kassel, Kiel, Kiev (USA), Klagenfurt, Köln, Lausanne, Leipzig, Lindau, Linz, London, Los Angeles, Lublin, Lugano, Lüchow, Lüneburg, Luzern, Madrid, Magdeburg, Mailand, Mallorca, Malmö, Manchester, Mannheim, Marseilles, Melbourne, Montreal, München, Münster, Nancy, Naperville, New Haven, New York, Nürnberg, Padova, Pordenone, Portland, Potsdam, Prag, Oldenburg, Oregon, Oslo, Oviedo (Spanien), Quebec, Quotidiano, Rovigo, Saarbrücken, Saloniki, Salt Lake City, San Diego, Santiago de Chile, San Sebastian, Sao Paulo, Saskatoon (Kanada), Seattle, Seoul, Sheffield, Siena, Sofia, St. Louis, Stockholm, Strasbourg, Stuttgart, Sydney, Tampa (USA), Thessaloniki, Toronto, Treviso, Trieste, Trondheim, Tübingen, Turin, Ulm, Valencia, Vancouver, Venezia, Verona, Vicenca, Victoria (Kanada), Warschau, Wesel, Wroclaw, Zadar, Zaragoza, Zella-Mehlis, Zürich.

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"Wir machen weiter"

Artikel aus 'junge Welt' vom 30.07.2001 - Nach dem G-8-Gipfel - ein erstes Resümee des Genoa Social Forum. Von Vittorio Agnoletto (*)

Die Ereignisse der dramatischen Tage in Genua werden die politische und soziale Zukunft Italiens stark prägen. Die Bewegung gegen diese neoliberale Globalisierung hat in Genua einen sehr hohen Preis bezahlt. Der Tod eines Jungen und Hunderte Schwerverletzte, das sind Wunden, die eine tiefe Leidensspur hinterlassen und uns zum Nachdenken auffordern.

Es ist noch zu früh für eine Gesamtwertung. Zur Zeit ist nur ein vorläufiges Urteil möglich:

1. Der Bewegung ist es gelungen, sich als eigenständiges politisches Subjekt auf der italienischen Bühne durchzusetzen; es ist ihr gelungen, die eigenen Inhalte in den Mittelpunkt der politischen Debatte, der parlamentarischen Tagesordnung und der öffentlichen Meinung zu rücken, indem sie Protest mit kraftvoll und autoritativ vorgetragenen eigenen Vorschlägen verband. Themen wie die Schuldenstreichung, die Tobin Tax, das Abkommen von Kyoto, der Kampf gegen das Monopol der multinationalen Konzerne und gegen ihr zwanzigjähriges Patent auf Arzneimittel, das Engagement für den Zugang zu Trinkwasser für die Bevölkerung des Südens, die Konversion der Rüstungsproduktion - all diese Themen sind nicht mehr im Alleinbesitz einer kleinen Schar von Aktiven der Nichtregierungsorganisationen.

Das Genoa Social Forum hat das Wunder vollbracht, eine gemeinsame politische Vertretung und eine zusammenhängende Bewegung aufzubauen, es hat Initiativen, soziale Zentren, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und politische Kräfte zusammengebracht, die häufig im Alltag keine Zusammenarbeit pflegen. Es hat eine gemeinsame Handlungsfähigkeit hervorgebracht, die sich auf eine ausreichend solide programmatische Basis stützt, aber auch auf eine Übereinstimmung in den Kampfformen: Die Wahl friedlicher, nicht gewalttätiger Mittel und der zivile Ungehorsam waren ein wichtiges und kein ideologisches Ergebnis der kollektiven Arbeit.

Die Aktionen des Genoa Social Forum haben die Dürftigkeit und Zweideutigkeit der Positionen des Olivenbaums und die absolute Sackgasse, in die sich die Linksdemokraten (DS) manövriert haben, noch deutlicher hervorgehoben. Im Angesicht einer Massenbewegung wie der in Genua, der großen Demonstration der 300 000, haben taktische Abwägungen keinen Platz mehr. Diese Bewegung ist heute wahrscheinlich der interessanteste Teil der sozialen Opposition gegen die Rechtsregierung.

2. Die Regierung Berlusconi hat beim ersten Ereignis von wirklicher sozialer und politischer Bedeutung ihre ganze Unfähigkeit im Umgang mit einer Oppositionsbewegung gezeigt. Aufgetaucht ist wieder die echte alte Kultur der italienischen Rechten, eine Kultur, die sich auf die militärische Repression, auf die Gleichgültigkeit gegenüber der aus der Resistenza hervorgegangenen Verfassung, auf die Verachtung der Menschenrechte stützt. Diese Regierung kann es nicht dulden, daß es eine "friedliche und ungehorsame" Massenopposition gibt, wieder einmal hat sie zur Strategie der Spannung gegriffen und hat sich auch nicht gescheut, gewalttätige Gruppen zu instrumentalisieren. Das Ziel ist nur allzu klar: Die Bewegung soll unterdrückt, gespalten und ein Teil davon in Gewaltstrategien abgedrängt werden, die gegenüber der öffentlichen Meinung weitaus brutalere Unterdrückungen rechtfertigen als diejenigen, welche die italienischen Gesetze vorsehen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß wir einer Regierung gegenüberstehen, die die Atmosphäre geschaffen hat, in der der Mord an Carlo Giuliani möglich war.

Ich glaube, wir müssen die Reife und Besonnenheit hervorheben, mit der diese Bewegung reagiert hat, sie ist nicht in die Falle gelaufen und hat jede Provokation zurückgewiesen. Diese Bewegung wird sich in Zukunft mit schwierigen Fragen auseinandersetzen müssen, wie dem Selbstschutz ihrer Initiativen und der Präsenz gewalttätiger und häufig unpolitischer Gruppen, die ein Ergebnis des gesellschaftlichen und kulturellen Zerfalls sind und deshalb von den Sicherheitskräften durchsetzt und manipuliert werden können.

Das Genoa Social Forum wird seine Geschichte mit Genua nicht beenden; in diesen Tagen hat es sich umgebildet in das Forum Sociale Italiano, das sich als integraler Bestandteil des Weltsozialforums von Porto Alegre versteht. Es wird territorial agieren und seine Einheit aufrechterhalten - das ist das kostbarste Gut, das wir mühsam erkämpft haben.

(*) Der Autor ist Sprecher der Italienischen Liga zur Bekämpfung von AIDS und Sprecher des Genoa Social Forum. Sein Beitrag erschien zuerst in Il Manifesto (24. 7. 2001). Übersetzung: Angela Klein.

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Protest an der 'Innengrenze'

Artikel von Thomas Klein, Frankfurt am Main, aus 'junge Welt' vom 30.07.2001 - Grenzcamp in Frankfurt am Main: Demonstranten fordern Freilassung aller in Genua Verhafteten

Bei brütender Hitze fand am Samstag mittag auf dem Frankfurter Römerberg die Auftaktkundgebung zum vierten antirassistischen Grenzcamp statt. Nach Polizeiangaben hatten sich auf dem Platz 500, nach Mitteilung der Veranstalter über 1 000 Teilnehmer versammelt. Geprägt war die Kundgebung von den Ereignissen des G-8-Gipfels in Genua. In verschiedenen Redebeiträgen wurde darauf hingewiesen, daß das vierte antirassistische Grenzcamp Teil einer internationalen Kette von Camps ist, und der Protest gegen den G-8-Gipfel sich in den Widerstand gegen die Politik der führenden Industrienationen der Welt eingliedert.

Wie in den Jahren zuvor, so der erste Beitrag auf dem Römerberg, richte sich das nun begonnene Grenzcamp "gegen das deutsche Grenzregime, die Abschottungspolitik der EU und gegen die zahlreichen Formen und das Zusammenspiel von staatlichem und individuellem Rassismus in diesem Land". Nachdem das Grenzcamp dreimal an der Ostgrenze Deutschlands stattgefunden habe, sollten in diesem Jahr besonders die inneren Grenzen in den Blick genommen werden: Damit gemeint sei unter anderem "das feinmaschige Netz, das sich für die meisten Menschen mit deutschem Paß fast unbemerkt über das ganze Land erstreckt". In der Praxis sind das regelmäßige Ausweiskontrollen durch den Bundesgrenzschutz an den wichtigsten deutschen Bahnhöfen, Videoüberwachung, Razzien an Arbeitsplätzen, Personenkontrollen an belebten Plätzen der Innenstädte. Dieses unsichtbare Netz, das den "Nicht-Deutschen" und "Nicht-Weißen" die Luft zum Atmen nehme, solle in den nächsten Tagen mit vielfältigen Mitteln "sichtbar gemacht, kritisiert und attackiert werden". Dabei werde insbesondere der Flughafen Frankfurt am Main Ziel verschiedener Aktionen sein. Schließlich sei der Rhein- Main-Flughafen wichtigste "Außengrenze im Innern der Bundesrepublik".

"Wem gehört die Welt?" - unter dieser Fragestellung berichtete eine Frau von ihren Erfahrungen in Genua. Ihr war es dabei wichtig, "daß bei allem Entsetzen über die schrecklichen Bilder vom Tod Carlo Giulianis oder die Blutlachen in der geräumten Schule eines nicht vergessen werden dürfe: täglich werden Leute auf Demos erschossen, verschwinden, werden gefoltert, wenn sie es wagen, die herrschenden Besitz- und Machtverhältnisse in Frage zu stellen". Den Aufschrei gebe es aber erst dann, wenn im reichen Westen Scheiben zu Bruch gingen und Autos angezündet würden. Deshalb sei es wichtig, die internen Diskussionen nicht auf die Gewaltfrage zu reduzieren.

Nach der Auftaktkundgebung formierte sich eine Spontandemo, die zunächst zur Kreditanstalt für Wiederaufbau führte. Dort wurde deren Zusammenarbeit mit der Weltbank bei der Finanzierung kritikwürdiger Großprojekte in verschiedenen Ländern der Erde angeprangert. Den Abschluß bildete eine Kundgebung vor dem italienischen Konsulat. Hiert hatte die Polizei starke Kräfte zusammengezogen. Beendet wurde der Protestzug mit der Forderung, alle Inhaftierten freizulassen sowie mit dem Appell an die deutschen Sprecher von ATTAC, eine nach den Ereignissen von Genua gemachte Einteilung in guten und schlechten Protest zu unterlassen, sich nicht der unsolidarischen Kritik gegenüber militantem Widerstand anzuschließen.

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Unübliche Mittel

Artikel aus 'junge Welt' vom 4.8.2001 - Gegen den Staatsterror: Was war los in Genua? (I). Ein Diskussionsbeitrag der "gruppe genova libera"

*** Bisher ist die Berichterstattung über die Ereignisse während des G-8-Gipfels in Genua in den linken Medien vor allem von Augenzeugenberichten, Bilddokumentationen und brisanten Informationen geprägt. junge Welt dokumentiert im folgenden in zwei Teilen eine politische Einschätzung deutscher Aktivisten für eine notwendige Debatte. ***

Bei denjenigen von uns, die in Genua vor Ort waren, herrscht bisher vornehmlich Sprachlosigkeit angesichts eines Eskalationsniveaus militärischer Auseinandersetzungen vor, die keiner von uns in Westeuropa so vermutet hätte. In Genua hat der Straßenkampf, der seit Seattle die Antiglobalisierungsproteste kennzeichnet, regelrecht militärische Dimensionen angenommen. Das begann im Vorfeld in Form eines Informationskrieges, in dessen Verlauf die italienische Regierung die Bereitstellung zusätzlicher Kühlhäuser und Särge für die zu erwartenden Toten ankündigte. Doch auch vor Ort wurden Demonstranten, obwohl sie sich bereits auf dem Rückzug vom Hauptgeschehen befanden, von Panzern durch die Straßen getrieben. Eine Polizeiwache brannte aus, ein Gefängnis wurde gestürmt (La Repubblica, 22.7. 2001). Die militanten Straßenkämpfer haben mehrere Tankstellen in der Innenstadt geplündert, um serienmäßigen Nachschub an Molotowcocktails zu produzieren.

Die italienischen Medien berichten, militärische Einrichtungen seien in Gefahr gewesen, was die Intervention der Marine notwendig gemacht habe. Auch wurden Menschen, die vor der Polizei ins Wasser flüchteten, von Polizeibooten aus angegriffen. Und es wurde an mehreren Stellen, zu mehreren Gelegenheiten scharf geschossen, nicht nur an dem Ort, wo Carlo Giuliani aus nächster Nähe exekutiert worden ist, sondern mindestens noch beim Angriff auf eine Polizeistation und bei den Krawallen am Samstag durch die sogenannte Finanzpolizei. Man kann also sagen, daß auf beiden Seiten Mittel der Auseinandersetzung gewählt wurden, die für Westeuropa zumindest im Kontext sozialer Bewegungen bisher unüblich waren.

Eskalation nach Plan

Zunächst stellen wir uns die Frage, wie dieses Eskalationsniveau erreicht werden konnte. Zuerst muß davon ausgegangen werden, daß jeder Ansatz von Bewegung, der es ernst meint, mit staatlicher Repression zu rechnen hat. Die historisch junge internationale Bewegung gegen die Globalisierung vermittelt in Teilen einen solch entschlossenen Eindruck. Geheimdienste gehen inzwischen sogar von der Gefahr einer "neuen Qualität des internationalen Gewaltpotentials" aus, da sich bei den Protestereignissen verschiedene Erfahrungen des Widerstandes verbinden und voneinander gelernt werden kann. Die staatlichen Reaktionen auf diese neue Stärke einer Protestbewegung sind eindeutig, neben dem Informationskrieg im Vorfeld wurde die Militarisierung des polizeilichen Handelns vorangetrieben. Das Schießtraining von Göteborg mag dafür ebenso stehen wie die wahllose Polizeigewalt in Genua selbst.

Vor dem Hintergrund dieser strategischen Konstellation sollten die Ereignisse der vorletzten Woche betrachtet werden: als taktischer Ausdruck einer politischen Konfrontation. Auch die bisher umstrittene Bewertung des "schwarzen Blocks" sollte aus dieser Perspektive unternommen werden. Augenzeugen berichten, daß die militanten Gruppen, die später von den italienischen Medien als "Anarchisten" und "schwarzer Block" homogenisiert wurden, sich am Freitag morgen über mehrere Stunden lang quasi unbehelligt in der Innenstadt austoben konnten. Ohne nennenswerte Eindämmungsversuche seitens der Polizei zerstörten sie in ganzen Straßenzügen die Geschäfte und Banken. Als die großen Demonstrationszüge in der Innenstadt ankamen, stiegen dort bereits Rauchsäulen auf. Erst als die Massendemos ankamen, startete die Polizei ihre Gegenangriffe durch massiven CS-Gas-Beschuß, mit Knüppeln und Wasserwerfern, wobei diese sich vornehmlich gegen die Demozüge richteten und nicht gegen die militanten Gruppen. Hierbei wurde nicht differenziert zwischen Gruppen mit einem erklärtermaßen gewaltfreien Konzept, den Anhängern der von den Tute Bianche propagierten defensiv/offensiv-Strategie und eventuellen "schwarzen Blocks". Die Repression richtete sich also ausdrücklich gegen die breite Masse, während im Stadtzentrum der Rock'n'Roll immer noch fortgesetzt wurde.

Defensive Offensive

Carlo Giuliani wurde am Rand der Tute-Bianche- Demonstration erschossen, als diese von der Polizei aufgehalten und zurückgeschlagen wurde. Diese Demonstration war straff organisiert, zielte in ihrer Militanz ausschließlich auf das Durchbrechen von Polizeikordon und Zaun auf dem Weg in die Rote Zone und wollte, um einer breiten Öffentlichkeit ein politisch gezieltes offensives Vorgehen zu vermitteln, explizit keinen Sachschaden in der Stadt anrichten. Ein siebenköpfiges, plural zusammengesetztes Gremium traf im Verlauf der Demonstration die Entscheidungen über das gemeinsame Vorgehen, die bis zum Schluß über den Lautsprecherwagen an die Teilnehmer vermittelt wurden. Auch das interne Infosystem hat offenbar den ganzen Tag sehr gut funktioniert. Es gelang so weitgehend, ein Vertrauen der Demonstranten untereinander herzustellen und Individualismen zugunsten eines geschlossenen Vorgehens zu vermeiden. Am Rande der Tute-Bianche-Demonstration kam es dann auch zu Handgemengen zwischen Demo- Ordnern und unorganisierten Militanten, die sich in die Masse flüchten wollten, um von dort zu agieren.

Das Konzept von zivilem Widerstand der Tute Bianche zielt auf eine Verbreiterung der Aktionsformen der Antiglobalisierungsbewegung nach dem Vorbild der mexikanischen Zapatisten. Dabei sind sie stark auf Transparenz und Vermittelbarkeit bedacht. Ihre Ausrüstung (Helme, Panzerungen aus Schaumstoff und Plastik, große Plexiglasschilde, Feuerlöscher und Flexgeräte) ist in Italien explizit legal, d.h. sie reizen die Legalität auf phantasievolle Art bis an ihre Grenzen aus. Zudem waren Anti-CS-Gas- Brigaden im Einsatz, die die Patronen in mit Wasser gefüllten Mülltonnen löschen sollten, und andere Gruppen mit besonderen Aufgaben im Handgemenge. Im Carlini- Stadion, der Homebase der Tute Bianche, wurden Konzepte und Entscheidungen auf Massenplena vorgestellt und so für alle zumindest nachvollziehbar gemacht. Entscheidungen fällte ein Delegiertentreffen der verschiedenen Städte und internationalen Unterstützergruppen. Dabei gelang es, Transparenz und demokratische Entscheidungsstrukturen nicht in Handlungsunfähigkeit umschlagen zu lassen, vor allem weil die einzelnen Gruppen den Erfolg des gemeinsamen Vorgehens im Auge hatten und nicht die genaue Durchsetzung einer eigenen Linie oder das politische Reinheitsgebot.

Wichtig für eine Einschätzung hierzulande ist auch, daß die Tute Bianche in der italienischen Öffentlichkeit sehr präsent sind. Bereits vor dem Gipfel haben sie über die Medien eine breite Debatte über die Legitimität ihres defensiv-offensiven Vorgehens geführt, flankiert von einer Umfrage nach dem Vorbild der Zapatisten, ob die Bevölkerung es für gerechtfertigt halte, in die von Polizei und Militär belagerte Rote Zone unter Einsatz legaler Mittel und des eigenen Körpers einzudringen. Gescheitert sind die Tute Bianche diesmal in der Auseinandersetzung mit der Polizei, aber nicht in der Öffentlichkeit, wo sie die Auseinandersetzung nach wie vor mitbestimmen, wie keine linksradikale Gruppe in Deutschland dies in den letzten 20 Jahren vermocht hat. Ein Engpaß in der Route und Fehler in der Aufstellung der Blöcke haben dazu geführt, daß die Demonstration, wenngleich sie zeitweise die erste Polizeisperre durchbrechen, den dadurch gewonnenen Raum nach massivem Gegenangriff nicht halten konnte. Doch war zum Zeitpunkt des Todes von Carlo Giuliani, der dann zum definitiven geschlossenen Rückzug führte, noch nicht das letzte Wort gesprochen.

Quelle: http://www.jungewelt.de


Recht auf Widerstand

Artikel aus 'junge Welt' vom 6.8.2001 - Gegen den Staatsterror: Was war los in Genua? (II und Schluß). Ein Diskussionsbeitrag der "gruppe genova libera"

Bisher ist die Berichterstattung über die Ereignisse während des G8-Gipfels in Genua in den linken Medien vor allem von Augenzeugenberichten, Bilddokumentationen und brisanten Informationen geprägt. junge Welt dokumentiert im folgenden den zweiten Teil einer politischen Einschätzung deutscher Aktivisten. Teil 1 erschien in der Ausgabe vom 4./5. August.

Schwarzer Block

Am Tag von Carlo Guilianis Tod tauchten die ersten Meldungen auf, unter den militanten Gruppen im Zentrum seien zahlreiche Provokateure der Polizei am Werk gewesen. Einen Tag später, am Samstag, den 21. Juli, belegen Filmaufnahmen, wie größere Gruppen von Schwarzvermummten aus den Polizeiwachen stürmten und sich aktiv unter die Randale mischten. Nach Einschätzung des Genoa Social Forum, des breiten Bündnisses vor Ort, das die Proteste getragen hat, diente die Polizeirazzia im Independent Media Center und der gegenüberliegenden Schule vor allem der Vernichtung von Beweismaterial, welches die aktive Beteiligung von Zivilpolizisten bei den Krawallen belegt. Immerhin wird der Sachschaden auf über drei Milliarden Lire geschätzt. (Zerstört wurden 83 PKW, 41 Geschäfte, 34 Banken, 16 Tankstellen, drei öffentliche Gebäude - darunter das Gefängnis, neun Postämter, vier Wohnhäuser etc. - Alle Angaben aus La Repubblica vom 22. Juli 2001.) Nach Angaben des Genoa Social Forum wurden unter den militanten Gruppen auch italienische und europäische Neonazis gesichtet.

Andererseits markiert diese Razzia aber auch den Beginn des entfesselten Staatsterrors, der den Globalisierungsgegnern in Genua und Umgebung entgegenschlug und in die Außerkraftsetzung sämtlicher Grundrechte mündete. Vermutlich ist es für die Bewegung politisch gewinnbringender, sich auf diesen Aspekt zu konzentrieren, als sich von den Meldungen über Provokateure und Nazis verunsichern zu lassen.

Erst als die Lage in der Innenstadt sich beruhigt hatte, also am Abend nach der großen Demonstration vom 20. Juli, begann die Polizei mit massiven Festnahmen. Ein beträchtlicher Teil davon fand unter extrem brutalen Bedingungen bei der nächtlichen Razzia statt, die sich wiederum nicht gegen einen Rückzugsort von Militanten richtete, sondern gegen die "Köpfe" der Bewegung, nämlich ihr Medienzentrum und das Headquarter des Genoa Social Forum. Alles deutet darauf hin, daß die Politik der Sicherheitskräfte auf die extreme Eskalation ausgerichtet war. Eine durchschnittliche Einsatzleitung hätte mit polizeitaktischen Mitteln die wenigen tausend Militanten leicht und frühzeitig stoppen können, wenn das gewollt gewesen wäre. Immerhin waren in Genua 18 000 Beamte verfügbar. Das ist jedoch nicht einmal ansatzweise passiert.

Eine solche Strategie kann eigentlich nur die Spaltung der Anti-Globalisierungs-Bewegung beabsichtigen. Indem man eine Situation anheizt und so eskalieren läßt, daß es Tote gibt, der Sachschaden immens ist und die nicht-militanten Teile der Bewegung angesichts der unverhältnismäßigen Repression unter Schock stehen, führt man deren dauerhafte Distanzierung vom sogenannten "schwarzen Block" herbei.

Ob die Unterwanderung des "schwarzen Blocks" Umsetzung einer solchen Spaltungsstrategie war, oder wie weit die Berichte der vielen Augenzeugen selbst Teil der Desinformation sind, muß in den nächsten Wochen geklärt werden.

Mediale Spaltungsversuche

Besonders in der Bundesrepublik hat die Strategie der Spaltung medial hundertprozentig angeschlagen. Die Sprecher von großen NGOs sehen sich hierzulande genötigt, sich von den Militanten zu distanzieren. Die deutsche Medienberichterstattung bildet dabei weniger die realen Ereignisse von Genua ab, als daß sie ein altbewährtes Debattenschema reproduziert, das schon mehrmals Anwendung fand, um soziale Bewegungen zu diskreditieren: Böse Gewalttäter hier, naive aber gute Friedfertige dort, die nun von Journalisten möglichst schnell zu ersteren auf Distanz gedrängt werden. Bestes Beispiel ist der Artikel "Gewalt in Weiß" in der Süddeutschen Zeitung vom 21./22. Juli: Hier wurde das Tute-Bianche-Konzept, das sich in obiges Schwarz-Weiß-Schema eben gerade nicht einfügt und u.a. daraus seine politische Brisanz bezieht, unter völliger Mißachtung der realen Begebenheiten dem Randaleflügel zugeordnet, nur um das Bewertungsmuster des Autors nicht durcheinanderzubringen.

Ganz anders in großen Teilen der italienischen Öffentlichkeit: Dort wurde diesen Spaltungsversuchen offensiv entgegengetreten und die Provokation der Polizei denunziert. Genoa-Social-Forum-Sprecher Vittorio Agnoletto beispielsweise schätzt die Proteste von Genua trotz des hohen Preises, der mit dem Tod von Carlo Giuliani bezahlt werden mußte, als Erfolg ein. Für ihn steht nicht nur die Oligarchie der G8 auf dem Spiel, sondern es geht bei diesen Auseinandersetzungen auch um konträre Konzepte von Demokratie - um Gegenentwürfe zu einer Demokratie, die angesichts von Ausreiseverboten, hemmungslosen Prügelorgien der Carabinieri, scharfen Schüssen auf Demonstranten, Folterungen in italienischen Gefängnissen, des tagelangen Verschwindens von Verhafteten etc. im Rahmen des entfesselten Neoliberalismus offenbar auf südamerikanisches Maß reduziert werden soll.

Das Genoa Social Forum setzt auf eine breite Massenbewegung, in der keine Gruppe und keine Aktionsform ausgegrenzt wird, um die illegitime neue Weltordnung und ihre Vorstellungen einer Demokratie der Mächtigen zu bekämpfen und das Recht auf Protest und Widerstand durchzusetzen.

Bewegung mit Zukunft?

Auch wenn die Randale aufgrund der Beteiligung von Provokateuren und Nazis im nachhinein wenig ruhmreich erscheint, geht es nun darum, sich vom politischen Gegner keine Debatte über die Legitimität von Mitteln des Protests aufzwingen zu lassen. Militanz war schon immer Teil jeder größeren sozialen Bewegung und hat auch wesentlichen Anteil an ihrer medialen Wahrnehmbarkeit und ihrem politischen Erfolg oder Mißerfolg gehabt. Auch wenn einige Aktionen mit Sicherheit zu hinterfragen sind, bleibt doch festzuhalten, daß der Sachschaden von Genua in keinem Verhältnis zu dem Elend steht, in dem Milliarden von Ausgegrenzten weltweit leben. Jetzt ist der Augenblick, in dem sich die politische Integrität der Nichtregierungsorganisationen wie ATTAC u.a. erweisen muß, und zwar auch im Verhältnis zu und in der Abhängigkeit von eventuellen Finanziers. Aber auch von seiten der radikalen Linken sollte der Wille zur Einheit der Bewegung die Abgrenzungsgelüste von "reformistischen Flügeln" erledigen, denn mittlerweile sollte klar sein, daß auch radikale Strömungen auf eine breite Massenbewegung angewiesen sind, wenn sie wirklich die Verhältnisse angreifen wollen.

Die Stärke dieser jungen internationalen Bewegung liegt genau im Aufeinandertreffen verschiedenster Erfahrungen aus lokalen Kontexten, die bei allen Beteiligten althergebrachte Bewertungsmuster in Frage stellen. So geraten z.B. eigene Positionen zur Gewaltfrage ins Wanken, wenn friedfertige deutsche Ökoaktivisten neben militanten Waldschützern aus Kanada stehen. Dies bezieht sich sowohl auf taktische Fragen der Auseinandersetzung mit der Repression als auch auf analytische Fragen. Offene, auf massive Beteiligung ausgerichtete Modelle der Meinungsbildung, wie das von den Zapatisten geprägte, erlangen darin neue Bedeutung.

Großen Respekt haben die italienischen Organisatoren verdient, sowohl die Tute Bianche als auch das Genoa Social Forum, das bis heute geschlossen gegen die Spaltungsversuche Front macht und die eigenen Inhalte nicht aus dem Blick verliert. Hier könnten deutsche Aktivisten einiges lernen, auch was Diskussionskultur anbelangt. Diskutiert werden muß, wie eine offene und trotzdem zuverlässige Informations- und Entscheidungsstruktur geschaffen werden kann. Die Struktur des Genoa Social Forum, ein morgendliches Delegiertentreffen und allabendliches Plenum zur Mitteilung der Ergebnisse, hat sich für die Tage vor dem Gipfel als tauglich erwiesen, wurde dann aber durch den Riot außer Kraft gesetzt. Vor allem hätte der gemeinsame Rückzug aus der Stadt von vornherein besser organisiert werden können, damit die Letzten nicht die Hunde beißen. Im Carlini- Stadion hat das zum großen Teil funktioniert, dort reiste die Mehrheit, auch aufgrund von Lautsprecherdurchsagen, noch am Abend des 21. Juli ab. Doch hätten hier Erfahrungen auch an andere Spektren der Bewegung vermittelt werden können.

Quelle: http://www.jungewelt.de


Schilys Putztruppe

Artikel in 'junge Welt' vom 6.8.2001 - Bundesinnenminister will europäische Krawallpolizei als Konsequenz aus Genua. jW-Bericht

"Mit konsequenter Härte Gewalt bekämpfen" lautet das Credo von Bundesinnenminister Otto Schily. Um diese Härte knüppelhart und zielgenau auf den Punkt beziehungsweise auf die Köpfe von Demonstranten zu lenken, schwebt dem Mann die Formierung einer sogenannten europäischen Antikrawallpolizei vor, wie er gegenüber der Welt am Sonntag (WamS) bekannte.

Der frühere Grüne, derzeit mit SPD-Ticket auf seiner politischen Endrunde, zog damit die für ihn logische Konsequenz. Vor allem wurmt ihn offenbar, daß sich die politischen Repräsentanten der kapitalistischen Weltmächte arg in ihrer Freizügigkeit beschnitten fühlen. "Wir dürfen uns nicht durch militante Aktionen von Gewalttätern vorschreiben lassen, wo und wie sich die demokratisch gewählten Repräsentanten der Staaten treffen", beklagte Schily. Hier dürfe es auf gar keinen Fall ein Zurückweichen des Staates geben. Was aber heißt hier Staat?

Die speziell ausgebildete westeuropäische Putztruppe könne in internationaler Zusammenarbeit "deeskalierend wirken und, wo nötig, mit angemessener konsequenter Härte Gewalt bekämpfen", schwärmte der Politiker von seiner Idee. Auf einer europäischen Polizeiakademie, die auf deutschen Vorschlag zustande komme, solle die neue Einheit entstehen. Ein akademisches Problem scheint das jedoch nicht zu sein. Eher ein politisches, vielleicht auch ein rechtliches: Denn wenn eine polizeiähnliche, länderübergreifende bewaffnete Gruppierung bei der nächsten Demonstration genuesische Verhältnisse schafft, kann die "Schuldfrage" noch lockerer als bisher hin und her geschoben werden.

Wie um den Gründungsgedanken zu adeln, traf der harte Mann aus Berlin am Sonnabend auch gleich mit dem italienischen Innenminister Claudio Scajola zusammen. Im Ferienhaus des Italieners wollten beide über das "neue Phänomen der Gewalt bei internationalen Gipfeln" sprechen, hieß es in den Agenturen. Vermutlich waren damit jedoch nicht die exzessiven Gewaltorgien von Scajolas Polizeitruppe in Genua gemeint, die den jungen Demonstranten Carlo Giuliani das Leben kosteten und zahlreichen Globalisierungsgegnern vorführten, was Polizisten so alles können. Anhand der Erlebnisberichte inhaftierter G-8-Demonstranten ist klar, was von einer deutsch-italienischen "Anti-Krawall"-Zusammenarbeit erwartet werden kann. Wahrscheinlich Krawall vom Feinsten, zumal in Italien die staatliche Vertuschungsmaschinerie - beispielsweise hinsichtlich Infiltration des vermeintlichen schwarzen Blocks durch Geheimdienst und Polizei - auf Hochtouren läuft. Italien und Deutschland verfolgten etwa die gleiche Linie bei Demonstrationen dieser Art, hieß es übereinstimmend vom Treffen der Polizeiminister, und das dürfte für kommende Demonstrationen nichts Gutes verheißen.

Um seinen Kurs ein wenig zu rechtfertigen, lancierte Schily die Zahl von rund 6 000 Personen der militanten Autonomen in Deutschland in der WamS. Von ihnen seien etwa 400 nach Genua gereist. Insgesamt seien in der Bundesrepublik rund 34 000 Menschen als Linksextremisten einzustufen. "Da muß man genau beobachten, ob daraus linksterroristische Entwicklungen entstehen", so der SPD- Politiker.

"Otto Schily ähnelt immer mehr einem Innenminister Manfred Kanther", kritisierte Daniel Cohn-Bendit im aktuellen Spiegel auf die Frage, ob sein ehemaliger politischer Weggefährte an Altersamnesie leide. "Mich ärgert, wenn jemand vergißt, welche Erfahrungen wir mit einer Polizei gemacht haben, die nicht rechtsstaatlich handelt."

Quelle: http://www.jungewelt.de


Es hat sich etabliert auf Demonstranten zu schiessen

Interview mit Dario Azzelini vom 24.7.2001

Dario Azzellini, Journalist u.a. bei der Wochenzeitung Jungle World, äußert sich zu den Folgen des G8-Gipfels und der Gegenaktivitäten für Politik und italienische Gesellschaft, die Debatte um Militanz und die Rolle der Medien.

Radio Z: Die italienische Opposition fordert inzwischen den Rücktritt des Innenministers Claudio Scajola. Weiterhin verlangte sie gestern eine parlamentarische Untersuchungskommission - das aber ist von der Regierung bereits agelehnt worden. Staatspräsident Berlusconi hatte auf der Abschlusspressekonferenz am Sonntag den "Ordnungskräften, die Mut und Großzügigkeit gezeigt" hätten, ausdrücklich gedankt. Welche Folgen wird der Verlauf der Gegenaktivitäten deiner Meinung nach in der Politik nach sich ziehen, wird das überhaupt Folgen haben?

DA: Es wird sicherlich Folgen haben. Fangen wir an mit den Folgen auf internationaler Ebene. Die Folge auf internationaler Ebene scheint zu sein, dass es sich etabliert, dass es vollständig in Ordnung ist auf Demonstranten zu schießen und Demonstranten zu erschießen. Und das nicht nur in Italien. Das fing ja in Göteborg an, das hat sich in Genua fortgesetzt, und das wurde vor allem von Gerhard Schröder und von Joschka Fischer gutgeheißen und verteidigt, das waren ja die größten Hardliner in diesem ganzen Diskurs. Von daher sind das natürlich klare Folgen, also massiver Abbau der Bürgerrechte, der Freiheitsrechte, völlige Einschränkung dessen, und im Prinzip auf dem Weg zu einer technokratischen, parlamentarischen Diktatur mit völlig eingeschränkten Bürgerrechten. In Italien selbst ist noch lange nicht Ruhe eingekehrt, es gab gestern in Mailand eine Demonstration mit 25.000 Personen, es gibt täglich Demonstrationen und Aktionen in ungefähr 100 Städten und Orten. Gleichzeitig wird von der Regierung und von der Rechten versucht, in Italien praktisch den Vorsitzenden des Genoa Social Forum, Agnoletto, und den Sprecher der tute bianche, Casarini, dort immer mehr unter Beschuss zu nehmen und eine Art Generalverantwortung für sie auszumachen. Es ist gleichzeitig auch klar, dass diese Strategie, diese Angriffsstrategie, durchaus so geplant war und dass es auch von der Polizei so vorgesehen war, dass es zu einer bestimmten Art von Ausschreitungen kommen soll, die sie auch selbst provoziert hat.

Radio Z: Nun hast du gerade schon das Genoa Social Forum angesprochen. Es wird jetzt in den offiziellen Medien immer getrennt zwischen friedlichem und militantem Widerstand. Das Genoa Social Forum lässt sich aber gerade darauf nicht ein. Es hat gerade in den letzten Veröffentlichungen versucht, diese Spaltung, die ja immer wieder versucht wird zu forcieren, gerade nicht zuzulassen. Was gab es da Neues vom Genoa Social Forum und auch an Belegen, die eben die Instrumentalisierung des sogenannten "Schwarzen Blocks" nicht zulassen?

DA: Zum einen ist wohl klar, dass man diesen Schwarzen Block gar nicht als homogenen Schwarzen Block betrachten kann. Es ist insofern auch klar, dass nach den Ereignissen in Genua sich an Aktionen, an militanten Aktionen, an Ausschreitungen nicht nur ein sogenannter Schwarzer Block beteiligt hat, sondern auch andere Leute. Auch andere Leute, die dort mit reingezogen wurden, die keine andere Möglichkeit hatten, als sich den brutalen Polizeiangriffen, die es gegeben hat, gegenüber zu verteidigen. Andererseits ist auch sehr offensichtlich, dass eine bestimmte Art von gewalttätigen Aktionen, nämlich kleine Geschäfte und Autos von Anwohnern in bestimmten Stadtvierteln anzuzünden, dass das nicht von linken Demonstranten ausging, sondern von infiltrierten Polizisten, unter Umständen auch von infiltrierten Nazis, wie "La Reppubblica" geschrieben hat, denen angeblich die Polizei zugesagt haben soll, sie hätten dabei freie Hand. Es gibt sehr umfangreiches Videomaterial, das am Sonntag Abend im 3. Staatlichen Fernsehen gezeigt wurde, wo man deutlich sieht, dass Polizisten bzw. Leute, die vermummt, mit Helmen oder mit Eisenstangen in Polizeikasernen rein- und rauslaufen, in Polizeifahrzeuge ein- und aussteigen [siehe photos!]. An der Stelle, wo die große Demonstration am Samstag gespalten wurde, weil die Polizei massiv mit Tränengas reingegangen ist, gibt es eine Videoaufnahme, wie im Vorfeld 5 vermummte und mit Stangen ausgestattete Personen mit einem höheren Polizeichef militärische Absprachen treffen, wo sie welche Aktionen durchführen sollen. Es ist ja auch in der Vergangenheit immer so gewesen, sowohl in Göteborg als auch in Prag als auch in Nizza, dass die gewalttätigen Aktionen immer so durchgeführt wurden, dass der Rest der Demo, dass andere Blöcke, die eine andere Aktionsform wählen, nicht in solche Sachen mit reingezogen werden. Das ist zum ersten Mal in Genua in Teilen anderes gewesen, und das lässt natürlich noch viel mehr darauf schließen, dass es eben gar nicht Linke waren, die dort regiert haben, zum Teil natürlich, wie gesagt, zum Teil waren es natürlich Linke, aber eben die, die in einer bestimmten Form agiert haben, nämlich in der Form, andere Demoblöcke mit reinzuziehen etc., dass das tatsächlich gezielte Polizeistrategie war.

Radio Z: Aber ist das Italien überhaupt so eindeutig? Ich hatte dort oftmals den Eindruck, dass auch in der Bevölkerung ein militantes Vorgehen nicht so eindeutig abgelehnt und verdammt wird, wie das vielleicht hierzulande ist?

DA: Es war sicherlich so, dass nach diesen massiven Polizeiangriffen, nach dem Verhalten der Polizei, sehr viel Verständnis für Verteidigungssektionen usw. da war, dass selbst Anwohner immer wieder auch vermeintlich gewalttätigen Demonstranten geholfen haben usw. Von daher würde ich auch noch mal wiederholen: Angesichts des faschistischen Vorgehens der Polizei, das reicht ja so weit, dass Mussollini-Bilder gezeigt wurden, dass der Hitlergruß gemacht wurde und so weiter und so fort, und diese ganze aggressive Haltung dazu geführt hat, dass durchaus auch Leute aus anderen Spektren sich dort gegen diese Polizeieinsätze auch gewehrt haben.

Radio Z: Von Otto Schily wird ja ein härteres Vorgehen gegen GipfelgegnerInnen gefordert. Wie ist deine Einschätzung, liegt das zum Teil auch in der Verantwortung der Medien, wie diese "Gewaltdebatte" geführt wird?

DA: Ich denke absolut auffällig ist einfach eine völlige Gleichschaltung der deutschen Presse. Angefangen von der Süddeutschen Zeitung, deren Korrespondenten anscheinend weder italienisch können noch vor Ort waren, weil in den Berichte, die sie geschrieben haben, wird z.B. darüber berichtet, dass die tute bianche in Aktionseinheit mit Anarchisten gewalttätige Aktionen durchgeführt hätten. Das ist wirklich schlichtweg ausgedacht und kam noch nicht mal in den großen und auch nicht in den rechten italienischen Tageszeitungen. Das muss sich dieser Journalist absolut ausgedacht haben. Selbst im "Corriere della Sierra" oder "La Reppubblica", die im Normalfall als bürgerliche Mitte-Rechts-Medien für andere Medien Bezugsquelle sind, stand was anderes drinnen, stand das so nicht drinnen. Es stand drinnen, dass von tute bianche dieses Konzept durchgehalten wurde, keine Angriffsaktionen in dem Sinne durchzuführen. Dann ist auffällig, dass die gesamten deutschen Medien, z.B. die Süddeutsche von 60.000 Demonstranten und andere deutsche Medien von 100.000 Demonstranten berichteten. Der "Corriere della Sera" berichtete von fast 300.000 Demonstranten, die anderen großen Zeitungen von 200.000 bis 300.000, und die offiziellen Polizeiangaben waren 200.000. Woher also stammen diese Zahlen, muss sich da gefragt werden. Und da kann man nur von einer Schere im Kopf bzw. von einem ganz klaren politischen Interessen dieser Zeitung sprechen, die eben diese Meldungen und auch die Zahlen ausgedacht.

Quelle: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/free/genova/azzelini.htm


Beweise für Bullen-Provokature in Genua

Beitrag in Indymedia.de vom 25.7.2001

Italienische Medien veröffentlichen Beweise: Polizei 'deeskaliert' als Schwarzer Block verkleidet - Polizisten, als Demonstranten verkleidet, mit Helmen und Eisenstangen 'ausgerüstet', befanden sich mitten unter den Randalierern

Die Nachrichten des staatlichen italienischen Fernsehens RAI 3 zeigten am Sonntag abend zahlreiche Aufnahmen von Polizei in 'Demo'-Zivil, mit Helmen und Eisenstangen, mitten im "Schwarzen Block". Am Sonntag Abend wurde im italienischen Fernsehen RAI 3 in den landesweit ausgestrahlten Nachrichten mehrere Viedeoaufnahmen gezeigt. Zu sehen waren vermummte und behelmte "Demonstranten" mit Eisenstangen, die aus den Kasernen der Polizei und Carabinieri rein und raus laufen, die in Polizeiwannen ein- und aussteigen. Eine Aufnahme (mit Ton teilweise!) zeigt 5-6 "Vermummte", die sich an der Ecke der Via Torino wo am Samstag die Demonstration von der Polizei mit Tonnen von Tränengas eingedeckt und geteilt wurde - sehr lange mit einem höheren Polizisten unterhalten und militärische Planungen vornehmen, wie jedenfalls an Wort- und Satzfetzen zu hören war.

Andere Zeugen berichteten übrigens davon, dass daran nicht nur italienische, sondern auch spanische, französische und deutsche Zivilpolizisten beteiligt waren. Belastungsmaterial in dieser Richtung war von Vertretern des Genua Social Forum (GSF) Samstag abends angekündigt worden. Samstag nachts kam es zur Durchsuchung der Redaktion des unabhängigen Pressezentrums, wo laut Aussagen der GSF-Vertreter weiteres die Polizei belastendes Material beschlagnahmt worden war. Ein zufälllig anwesendes Parlamentsmitlglied konnte den Übergriffen auf die Redaktionsräumlichkeiten nicht rechtzeitig Einhalt gebieten. Darüber hinaus wurden das dem Pressezentrum gegenüberliegende GSF-Gefäude verwüstet und Aktivisten zum Teil bis zur Bewußtlosigkeit verprügelt. Die Parlamentarierin erhielt keinen Zutritt, ebensowenig die anwesenden Anwälte und Journalisten. Die in Genua zusammengezogenen Polizeieinheiten scheinen sich darüber hinaus zum Teil verselbständigt zu haben. Gestern fanden weitere Razzien statt. Innenminister Scajola gab an, darüber nicht informiert zu sein - auch nicht über die Pläne für die Razzia Samstag Nacht.

Bei den gestrigen Razzien "fand" die Polizei ganze Arsenale an Waffen und Schlachtplaenen, die die im Besitz von Premierminister Berlusconi stehenden Sender genuesslich zeigten. Dutzende wurden verhaftet, alles Nicht-Iteliener. Angeblich sollen sich auch Österreicher darunter befinden. Es scheint einigermaßen absurd, daß sich nach Bekanntwerden der samstäglichen Ereignisse der vielzitierte "black bloc" immer noch gemuetlich in Genua geblieben sein soll, um sich selbst samt "Waffen" der Polizei auf einem Tablett zu praesentierten.

Eine italienische Beobachterin bescheinigt dem Berlusconi-Sender "Pinochet-Niveau": Dort wird etwa verbreitet, daß das in Italien bisher wohlangesehene GSF nur "als Deckung fuer Terroristen gebildet" worden sei. Aus einem Interview, mit einem Genueser Polizeisprecher: "Black Bloc ist saemtlichen Geheimdiensten bekannt,sie reisen von einem Gipfel zum anderen, sie wollen nur eines: Toeten"

Frage: Warum wurden sie also nicht an den Grenzen verhaftet?

"Das war leider nicht moeglich, denn es sind lauter italiener." (derselbe polizeisprecher hatte wenige Minuten davor gesagt, dass Black Bloc hauptsaechlich Deutsche u. Franzosen sind).

Frage: Warum wurde ihnen freie Hand gelassen?

"Weil sonst die ganze oeffentlichkeit geschrien haette, wir verletzen das Demonstrationsrecht."

Frage: Warum wurde die Hausdurchsuchung nicht zwei oder eine Nacht davor praeventiv durchgefuehrt?

"Weil wir als echte Demokraten den Dialog suchen"

Heute nachmittag soll Innenminister Scajola dem Parlament berichten. Die Vertreter des GSF äußern sich ungewohnt dramatisch zur Situation: Der Sprecher des Movimento Nonviolento, ansonsten bekannt für Ruhe und Gefaßtheit, spricht von "Chilenischen Zuständen", die immer noch andauern würden.

Quelle: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/free/genova/provokateure.htm


Militante Polizeistrategien

Artikel von Günther Hopfgartner aus 'Volksstimme' vom 25.7.2001

Offenbar sollte die "globalisierungskritische" Bewegung in Genua in ihrer gesamten Breite attackiert und eingeschüchtert werden. Eine Strategie, deren gewalttätige Spur von Göteborg, bis an die Ligurische Küste zu verfolgen ist.

Die Schlacht von Genua ist also geschlagen. Man verzeihe die martialische Ausdrucksweise, aber angesichts eines erschossenen Demonstranten und 500 weiterer Verletzter, von denen zumindest ein Demonstrant immer noch in Lebensgefahr schwebt, drängt sich militärisches Vokabular geradezu auf. Und tatsächlich kann man wohl nicht nur auf Grund der ungeheuren "Materialschlacht" (20.000 Polizisten, Hubschrauber, Totalabriegelung eines ganzen Stadtteils etc.), sondern vor allem im Zusammenhang mit der Strategie der italienischen Exekutive in Genua von einer Militarisierung der Gipfeltreffen der "Weltenlenker" aus Politik und Wirtschaft ausgehen. Eine Tendenz, die sich künftig bei ähnlichen Anlässen fortsetzen dürfte.

Zwei Fragen wären diesbezüglich zu stellen: Wie konnte es dazu kommen? Und warum reagieren ansonsten allzugerne ihre herrschaftliche Souveränität zur Schau stellende PolitikerInnen und Wirtschaftskapitäne zunehmend aggressiv auf die Herausforderung einer Bewegung, die noch vor zwei Jahren, vor Seattle, kaum jemand wahrgenommen hatte? Analysiert man die Ereignisse vor und während des Treffens von Genua, so fällt zumindest die Antwort auf die erste Frage nicht allzu schwer. Schon anlässlich des EU-Gipfels in Göteborg konnte man eine paradoxe "Teile-und-Herrsche"-Strategie beobachten, die sich einerseits aus einer an "friedliche DemonstrantInnen" adressierten "Dialog"-Offensive der offiziellen Politik und andererseits der Eskalationsstrategie der Exekutive zusammensetzte: Entgegen wiederholter Falschmeldungen in großen Teilen der europäischen Presse waren nämlich die Schüsse auf DemonstrantInnen in Göteborg keineswegs das Ergebnis einer fehlgeschlagenen Deeskalationsstrategie der schwedischen Polizei, die angeblich auf Ausschreitungen nicht vorbereitet war. Die Polizei tat in Göteborg vielmehr bei mehreren Gelegenheiten durchaus ihr Möglichstes, die Situation zu eskalieren. Von Anfang an wurden deklariert friedliche Gruppierungen attackiert, während man im Gegenzug harte Kerne sogenannter "gewaltbereiter DemonstrantInnen" weitgehend gewähren ließ.

Eine Strategie, die sich wie eine Blaupause zu den Vorfällen in Genua liest: Während im Vorfeld des G8-Gipfels der ehemalige WTO-Generalsekretär und derzeitige italienische Außenminister Renato Ruggiero seinen Charme in Richtung "GlobalisierungsgegnerInnen" versprühte, machten Carabinieri und Sondereinsatzkommandos auf dem Gipfel ernst. Ab Freitag Nachmittag war schließlich alles, was sich auf Genuas Straßen "nicht uniformiert" bewegte, potentielles Ziel von brutalen Angriffen der Exekutive. Und zwar egal, ob es sich dabei um die militanten - im Vorfeld aber dezidiert zum Verzicht auf Steine oder Molotowcocktails aufrufende - Tute-Bianche-Gruppen handelte oder um die stets freundlich-gelehrten AktivistInnen von ATTAC. Selbst Blöcke von Pax Christi und kirchlichen Basisgemeinden, wurde von italienischen Ordnungshütern unter Tränengas- und Schlagstockeinsatz aufgemischt. Währenddessen konnten sich nach Augenzeugenberichten Gruppen des sogenannten "schwarzen Blocks", angeblich die Auslöser allen Übels, weitgehend unbehelligt von der Polizei in der Stadt bewegen, solange jedenfalls, bis sie sich jeweils zu anderen Demonstrationsblöcken gesellten. Dann griff die Exekutive ausnahmslos wieder alle DemonstrantInnen an. Dass anschließend sowohl Sprecher von Tute Bianche als auch des - die Proteste insgesamt organisierenden - Dachverbands "Genoa Social Forum" angaben, Beweise dafür zu haben, dass Teile des schwarzen Blocks aus infiltrierten Polizeiprovokateuren bestanden, unterstreicht eigentlich nur, was ohnedies als Polizeistrategie deutlich wurde. (Das staatliche Fernsehen RAI 3 konnte im Übrigen schon am Sonntag Bildmaterial von teilweise vermummten "Chaoten" im intimen Gespräch mit Polizisten senden.)

Und als ob es diesbezüglich noch eines Beleges bedurfte, überfielen Polizeieinheiten in der Nacht von Samstag auf Sonntag schließlich auch noch in einer blutigen Aktion das Zentrum des bis dahin in sämtlichen Pressemeldungen stets als Organisation der "friedlichen DemonstrantInnen" präsentierten "Genoa Social Forums". 50 Verletzte mussten alleine nach dieser Aktion in Krankenhäusern versorgt werden, ein Brite liegt im Koma, gleichzeitig wurden Arbeitsmittel der alternativen Presseplattform Indymedia zerstört.

Vor allem letztere Aktion belegt, dass die italienische Exekutive kaum noch Vorwände suchte, um auch friedliche "GlobalisierungskritikerInnen" mit staatlichen Gewaltmaßnahmen zu überziehen. Die globalisierungskritische Bewegung als Ganzes sollte offenbar in Genua attackiert und eingeschüchtert werden. Eine Strategie, die etwa durch die Maßnahmen der EU-Innenminister im Gefolge von Göteborg (Datenaustausch, Diskussion über politische Gewalttäterdateien, Schleierfahndung im Vorfeld von Genua etc. statt Maßnahmen gegen den Schusswaffengebrauch bei Demonstrationen) de facto den politischen Segen erhalten hatte und schließlich ihren tragischen Höhepunkt in den Todesschüssen auf Carlo Guliani fand.

Den Rest dürften dann, so wohl das Kalkül von Politik und Polizei, interne Streitereien der Bewegung um die Gewaltfrage erledigen.

Offensichtlich ist es nämlich die Breite der Bewegung, sowohl in geografischer und politisch-inhaltlicher Hinsicht wie auch bezüglich der differenten Protestkulturen, die die Stärke der sogenannten "Seattle-Strukturen" ausmacht. Eine breite Bewegung, die sich keineswegs beliebig oder unbedarft artikuliert, sondern ihre Aktionen in einer flexiblen Netzwerkstruktur koordiniert und zudem den Erfahrungsaustausch und die inhaltliche Debatte in zahlreichen Treffen und über diverse eigene Medienplattformen effektiv organisiert.

Eine breites Netzwerk also, das unter Einbeziehung von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, politischen Parteien und NGOs zunehmend den globalen Kapitalismus und seine Institutionen mit den Schattenseiten der Neuen Weltordnung konfrontiert und Alternativen einfordert. Forderungen, die ihre Wirkung mittlerweile nicht mehr ganz verfehlen: Die Agenda des G8-Gipfels in Genua (u.a. globale AIDS-Bekämpfung, Schuldenstreichung ...) hätte wohl anders ausgesehen ohne den Protest der "Seattle-Bewegung". Insofern waren die "GlobalisierungskritikerInnen" vor und in Genua durchaus auch erfolgreich. Ein angesichts der unzureichenden "Lösungsansätze", die die G8 aushandelten, freilich nur symbolischer Erfolg.

Genügend Gründe also, weiter global an Netzwerken zu knüpfen, inhaltliche Klärungen vorzunehmen und die Proteste auszuweiten: Vom 28. 9. bis zum 1. 10. treffen sich zum Beispiel die Spitzen von IWF und Weltbank in Washington. Und Anfang Dezember steht ein EU-Gipfel in einem Vorort von Brüssel an ...

Quelle: http://www.kpoenet.at/vs/


Wer nicht springt ist Kommunist

Artikel von Dario Azzellini, Genua, aus 'Volksstimme' vom 1.8.2001

Je mehr Informationen über die Ereignisse rund um den G8-Gipfel von Genua zusammen getragen werden, desto schockierender ist das Bild, das sich bietet.

Der G8-Gipfel von Genua war erst wenige Stunden zuvor zu Ende gegangen als sich aus der Sporthalle "Palasport" des Messegeländes - einer der Sammelplätze der Polizeikräfte - Jubelchöre wie bei einem Fußballspiel erhoben. Hunderte, vielleicht tausende Polizisten brüllten: "polizia eh eh", hüpften durch die Halle und riefen "wer nicht springt ist Kommunist". So beschreiben übereinstimmend nahezu ein Dutzend AnwohnerInnen, eine lautstarke Feier der Polizei, die am Sonntag (22.7.) von 23.00 Uhr bis etwa 2:00 Uhr früh dauerte, gegenüber der konservativen Genueser Tageszeitung "Il Secolo XIX". Der Feier müssen auch hochrangige Politiker oder Polizeiführer beigewohnt haben, denn irgendwann fuhr auch eine Limousine unter Sirenengeheule ins Stadion und verursachte tosenden Beifall. Auch die AnwohnerInnen verschiedener Polizei-und Carabinieri-Kasernen in Genua berichten von "Siegesfeiern" der Ordnungskräfte am Sonntag und am Montag.

Die Polizei feierte die Bilanz ihres G8-Einsatzes: Carlo Giuliani, getötet durch einen Carabinieri aus unmittelbarer Nähemit einem Kopfschuss; hunderte von Verletzten, viele davon schwer; hunderte von Festnahmen; Prügelorgien und Folter in Polizeifahrzeugen, Kasernen und Knästen - doch Regierung und der Repressionsapparat stehen fest hinter ihnen.

Noch am Sonntag hat Präsident Silvio Berlusconi, selbst bis zum Hals in Aktivitäten des organisierten Verbrechens, Korruption und Finanzskandale verstrickt, den eingesetzten Ordnungskräften gedankt und ihnen die Richtigkeit ihres Handelns bestätigt. Ohne weitere Informationen oder Untersuchungen abzuwarten, bescheinigt Regierung und Polizeiführung dem Todesschützen eine "Notwehrsituation". In bester Tradition eines autoritär-faschistoiden Staatsverständnisses macht der Krieger Berlusconi deutlich, dass er nur zwei Seiten kennt: "Ich will, dass den Bürgern und den Ordnungskräften eines klar ist: Ich bin auf ihrer Seite und nicht auf Seiten der Gewalttäter."

Franco Frattini, Minister für Öffentliche Aufgaben, dem auch die Aufsicht über die Geheimdienste zukommt, versicherte in einem Interview das "Il Secolo XIX" am 24. Juli veröffentlichte, die Vörgänge würden keinerlei personelle Konsequenzen haben und erklärte das einfache Freund-Feind-Schema der Regierung auf eindrückliche Weise: "Ich möchte, dass für die Linke eines klar ist ... Sie muss sich entscheiden auf welcher Seite sie steht. Auf Seiten derer, die auf der Straße mit Molotov-Cocktails werfen oder auf Seiten der Polizei." Und verglich die Situation mit der Ende der 70er Jahre, als viele Linke seiner Ansicht nach die Roten Brigaden als "Genossen, die sich irren" angesehen hätten.

Zum Abschuss frei gegeben

Wer also nicht im Gleichschritt mit Berlusoni und dem in Genua entfesselten Staatsterrorismus marschiert, ist wortwörtlich zum Abschuss frei gegeben, so die Logik.

Ähnlichkeiten mit vergangenen Zeiten und anderen Ereignissen bestehen tatsächlich, doch eher auf Seiten der Regierung und der Repressionsorgane: Die verschiedenen Briefbomben, die im Vorfeld des G8-Gipfels an Journalisten, Unternehmen, Polizei und das besetzte Zentrum "Leoncavallo" in Mailand verschickt wurden oder die versuchten Brandanschläge auf die Bewegung der "Tute Bianche" in Genua, erinnern stark an die Strategie der Spannung, ein Vorgehen, das in den 70er und 80er Jahren in Italien darauf zielte, in Italien den Eindruck einer Instabilität zu erzeugen und damit die Forderung nach einem "starken Staat" plausibel zu machen. Sie wurde von einem Netz klandestiner Organisationen bestehend aus Militärs, Geheimdienstlern und faschistischen Organisationen umgesetzt (siehe dazu "Gladio", erschienen bei Espresso-Verlag).

Das Vorgehen der Polizeikräfte rief jenseits der italienischen Regierung hingegen den Vergleich mit lateinamerikanischen Diktaturen wach. Der Deutsche Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Stroebele, der in Begleitung der Grünen-Abgeordneten Annelie Buntenbach eiligst nach Genua geflogen war, um inhaftierte und und krankenhausreif geschlagene Deutsche zu besuchen, zeigte sich erschüttert von den Berichten und sprach von "Verhältnissen wie unter der Diktatur in Argentinien". In Italien selbst lag vielen der Vergleich mit Chile auf den Lippen.

Eine Woche nach den Ereignissen sind insgesamt noch 48 Personen in unterschiedlichen Gefängnissen in und um Genua inhaftiert, darunter die 25 Mitglieder der "Volxtheater-Karawane".

Weitaus beunruhigender ist jedoch, dass eine Woche nach den Ereignissen immer noch 18 Menschen verschwunden sind. Die linke Tageszeitung "Il manifesto" meldet am 28.7. die italienischen "deaparecidos" seien gemäß unabhängiger Untersuchungen wahrscheinlich in den Händen der Polizei, untergebracht in Kasernen oder Zellen, da sie so schwere Misshandlungen erlitten hätten, dass sie nicht vorzeigbar seien. Außenminister Renato Ruggiero bemerkt dazu lapidar "es sind Jugendliche, sie sind bestimmt ans Meer gefahren".

Je mehr Informationen über die Ereignisse rund um den G8-Gipfel zusammen getragen werden, desto schockierender ist das Bild, das sich bietet. Gleich ob es sich um die Erschiessung von Carlo Giuliani, die Prügelorgien und Tränen- und Reizgaseinsätze der Polizei gegen alle DemonstrationsteilnehmerInnen am Freitag und Samstag, die Stürmung der Schule "Diaz" durch Spezialeinheiten des Innenministeriums oder die Haftbedingungen handelt.

Der nicht sehr zufällige Tod des Carlo Giuliani

Am 27. Juli legte Luca Casarini, Sprecher der Tute Bianche, neue Fotos über die Erschießung Giulianis vor, die "die Dynamik der Tötung verändern". Auf den Bildern eines britischen Fotografen - die auf der Webseite des linken Senders "Radio Sherwood" und der konservativen Tageszeitung "La Repubblica" veröffentlicht wurden - ist deutlich zu sehen, dass der Jeep der Carabinieri keineswegs - wie oftmals behauptet - isoliert war: Nur 15 m entfernt befand sich ein größerer Trupp Carabinieri, die die Szenen beobachteten ohne einzugreifen. Darüber hinaus stammte der Feuerlöscher, den Carlo Giuliani in anderen Bildern auf den Wagen zu werfen scheint, aus dem Innern des Fahrzeugs. Er wurde kurz vorher von dem Schützen nach außen auf die Demonstranten geschleudert. Bevor Carlo noch den Feuerlöscher vom Boden hebt, hält der Todesschütze bereits die Waffe im Anschlag und zielt auf einen anderen Demonstranten, der aber flüchten kann. Daraufhin richtet er die Waffe auf Carlo Giuliani, der sich wahrscheinlich erst nach dem Aufheben des Feuerlöschers bewusst wird, dass eine Waffe auf ihn gerichtet ist.

Casarini kündigt auch an, weitere Zeugen zu haben, die auch vor Gericht aussagen werden, dass der Carabinieri bevor er den Feuerlöscher nach außen warf, die Frontscheibe von innen einschlug und nachdem Carlo Giuliani unter seinen Schüssen tot zusammenbrach sein Gesicht mit den Händen verdeckte und anschliessend eine Sturmhaube überzog, um nicht identifiziert zu werden.

Der Sturm auf die Schule A. Diaz

Zeugen, die die Schule A. Diaz, in der G8-GegnerInnen und JournalistInnen übernachteten, nach dem Sturm der Spezialeinheiten des Innenministeriums besichtigten, scheinen von einem Horrorfilm zu berichten und auch Foto- und Filmaufnahmen bestätigen das Bild des Grauens, das sich ihnen eröffnete: Alles ist übersät von Blut, die Wände blutverschmiert, die Treppen fließt Blut herunter, die Heizkörper sind voller Blut ... Dies ist das Ergebnis der Erstürmung des Gebäudes durch die Sondereinheiten (NOCS) der italienischen Polizei und Carabinieri am Samstag, den 21.7.2001 um 23.56 Uhr. Von 93 Personen, die in dem Gebäude anwesend waren, mussten über 60 auf Krankentragen, in blutdurchtränkte Tücher gewickelt, heraus getragen werden: Sie waren so schwer misshandelt worden, dass sie nicht mehr laufen konnten. Einige von ihnen waren ins Koma geprügelt worden, mehrere Personen wurden lebensgefährlich verletzt. Nach Angaben einer Angestellten des Genueser Krankenhauses San Martino waren die Verletzten in einem grauenvollen Zustand: multiple und komplizierte Frakturen, eingeschlagene Schädel und ausgeschlagene Zähne. Viele befanden sich in einem Schockzustand, waren kreidebleich, kaum ansprechbar und hatten Angst, überhaupt berührt zu werden. Ein Deutscher erlitt schwere Kopfverletzungen und musste notoperiert werden, ein weiterer hatte einen zweifachen Kieferbruch und einem Briten wurden die Rippen gebrochen und durchstießen eine Lungenflügel. Informationen über den Zustand der Verletzten - die auch gleich verhaftet wurden - waren selbst Verwandten auch noch Tage nach dem Überfall nicht zugänglich, oft war nicht einmal ihr Aufenthaltsort - Hospital oder Gefängnis und welches - zu erfahren. Ebensowenig wurden Anwälte oder nicht zur Polizei gehörende Mediziner zu den Gefangenen vorgelassen. Der Staatsanwaltschaft wurden die Festnahmen erst am Sonntag um 18.30 übermittelt, also erst 18,5 Stunden nach dem Überfall.

Das Massaker in der Schule A. Diaz verlief unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Abgeordnete und Senatoren, wie Ramon Mantovani oder Gigi Malabarba, die hinein wollten, wurden geschlagen und zu Boden geworfen. Auch den Parlamentarierinnen Graziella Mascia, Loredana De Petris und Luisa Morgantini sowie AnwältInnen und JournalistInnen aus aller Welt, wurde der Zutritt zur Schule verwehrt, während aus dem dunklen Schulgebäude Schreie und Hilferufe nach außen drangen, das Splittern von Scheiben und das Geräusch von Schlägen zu hören war. Innenminister Scaloja, war während der gesamten Zeit auch für die Abgeordneten nicht erreichbar.

Die offizielle Begründung für den Einsatz lautet in der Schule befände sich der "harte Kern des Schwarzen Blocks, der die Ausschreitungen provoziert hat". Ein Durchsuchungsbefehl liegt nicht vor, aber die Polizei beruft sich auf Art. 41 gemäß dem ein Ort ohne richterliche Anordnung durchsucht werden kann, wenn der Verdacht auf die Präsenz von Waffen gegeben ist. Aus dem Zentrum sei die Polizei attackiert worden und selbst die Erstürmung sei noch eine Schlacht gewesen, bei der Beamte mit Messern angegriffen worden seien. Aussagen, die niemand ausser der Polizei bestätigen kann. Am nächsten Tag legen die Beamten die Ausbeute der Durchsuchung in dem im Ausbau befindlichen Gebäude vor: zwei leere Flaschen, einige Stangen, eine Packung Tampons, drei Eddings und einige Schweizer Taschenmesser. Fragen von Journalisten sind nicht zugelassen.

Unter den krankenhausreif geschlagenen aus der Schule befinden sich viele Journalistinnen, vor allem der unabhängigen Agentur Indymedia aber auch andere. So etwa Lorenzo Guadagnucci, 37 Jahre alt und Wirtschaftsredakteur der konservativen Tageszeitung Il Resto del Carlino. Schwer zu glauben, dass dies die "Anführer des Schwarzen Blocks" sein sollen.

Entsprechend geht das Genoa Social Forum auch davon aus, dass die Aktion im wesentlichen darauf zielte Beweismaterial, Foto- und Filmaufnahmen zu den Polizeiübergriffen zu zerstören. Tatsächlich wurden auch vorhandene Computer zerstört und Kameras entwendet.

Systematische Folter in Haft

Der 33-jährige Sozialarbeiter Marc Lang aus Berlin, selbst mit großen dunkelvioletten Flecken auf dem Rücken und in der Nierengegend bedeckt, berichtet über Polizeiübergriffe, in der Schule oder in der zum Gefangenen-Sammellager umfunktionierten Kaserne Bolzaneto - die mittlerweile zum Symbol für Gewaltexzesse geworden ist: "So viel Gewalt habe ich mein ganzes Leben noch nicht gesehen. Die ziehen sich die schwarzen, gepolsterten Handschuhe an und hören für eine Stunde nicht mehr auf zu schlagen." Über Tage wurden die Inhaftierten schwer gefoltert, Polizisten drückten ihre Zigaretten auf den Handflächen eines Inhaftierten aus, brachen Gefangenen die Knochen und verweigerten medizinischen Beistand. In einem Fall mussten mehrere Personen 19 Stunden lang mit erhobenen Händen und dem Gesicht zur Wand stehen. Eine Frau mit einem gebrochenen Bein wurde dabei mit Schlägen dazu gezwungen, ebenfalls weiter an der Wand zu stehen. In verschiedene Zellen wurde Tränengas geschossen, Frauen wurde mit Vergewaltigung gedroht und auch Todesdrohungen wurden immer wieder ausgesprochen.

Doch die italienische Regierung scheint das Vorgehen der Polizei nicht gestört zu haben. Verschiedene Zeugen, darunter Alfonso De Munno, ein freier Fotograf aus Rom, berichten im Gefängnis Bolzaneto den italienischen Justizminister Roberto Castelli - ein rechstradikaler Institutionen- und Demokratie-Verächter der Lega Nord - gesehen zu haben. "Castelli hat die Übergriffe gesehen", so De Munno. "Plötzlich hieß es 'schnell, schnell, macht alles sauber, der Minister kommt' und dann habe ich ihn an der Tür des Zimmers gesehen". De Munno und andere standen mit zerschundenen und blutüberströmten Körpern mit den Händen nach oben an der Wand. Castelli hat zwar mittlerweile zugegeben vor Ort gewesen zu sein, doch Anzeichen von Übergriffen will er nicht gesehen haben.

Die Übergriffe sind allerdings nicht mehr zu leugnen. Mittlerweile haben sich auch einige "reuige" Polizisten zu Wort gemeldet und die Vorwürfe der Folter und faschistischer Gesinnung in der Exekutive bestätigt. Nun sind die verschiedenen Polizeieinheiten in Italien damit beschäftigt sich gegenseitig die Verantwortung zuzuschieben. Die Zeugen berichten allerdings davon von allen Polizeieinheiten gleichermaßen geschlagen und gefoltert worden zu sein.

Die Rückkehr des Faschismus

Die Gefangenen beschreiben die Polizisten als unglaublich brutal, immer wieder den Arm zum faschistischen Gruß hebend. Es gab permanente Beschimpfungen wie "scheissjüdische Zigeunerin", "Hasta la Victoria siempre" mit gleichzeitigem Hitlergruss, an den Wänden der Reviere hingen Mussolinibilder, auf dem verlorengegangenen Ausweis eines Carabinieri klebte ein Mussolinibild. Ein Einsatzleiter kündigte einen Knüppeleinsatz seiner Untergebenen am Freitag laut mehrerer Zeugen mit den Worten an: "Der Faschismus ist zurück, wir suchen Juden." Weit verbreitet und von Dutzenden von Zeugenaussagen bestätigt ist auch das ständige Absingen eines Reims durch alle Einheiten: "1,2,3 viva Pinochet, 4,5,6 wir töten Juden, 7,8,9 das Negerlein erzeugt kein Mitleid". Berichte wie diese mehren sich zu hunderten.

Doch für den Innenminister, den ehemaligen Christdemokraten Claudio Scajola, dessen einzige Qualifikation darin besteht, Organisationschef der Berlusconi-Partei Forza Italia zu sein, ist alles in Ordnung. Einen Rücktritt, wie ihn die Opposition fordert, schließt er kategorisch aus. "Die ganze Regierung denkt wie ich", lässt er lächelnd wissen.

Politisch erwünschte Randale?

Mittlerweile mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Ausschreitungen in Genua auf jeden Fall politisch gewollt waren, wenn nicht gar seitens der Polizei ordentlich nachgeholfen wurde. Jenseits der Hysterie die nach den Ereignissen in Genua von der italienischen Presse und Teilen der moderaten Linken gegen den sogenannten "Schwarzen Block" losgetreten wurde, lässt sich feststellen, dass der "Scharze Block" sicher nicht lediglich aus Zivilpolizisten und Nazis bestand, wie es teilweise suggeriert wurde. Er kann aber keinesfalls als homogen betrachtet werden. An den Ausschreitungen beteiligten sich - vor allem angesichts der Polizeibrutalität - auch viele Personen, die zu anderen politischen Spektren zu zählen sind. Auffällig ist, dass die Polizei vor allem bestimmte Gewalttäter - jene die Autos von AnwohnerInnen anzündend und kleine Geschäfte plündernd fernab von der Roten Zone durch die Stadtteile zogen - relativ ungestört agieren ließ, während sie alle anderen Protestierenden massiv angriff.

Einige Zeugen berichten auch von Auseinandersetzungen zwischen Vermummten, so etwa Bernd Moser, Korrespondent des Nürnberger Senders Radio Z am Freitag gegen 15 Uhr live aus Genua, stark verunsichert: "Ich weiss auch nicht wer da welchem Spektrum zugehört: Leute mit Helmen und Schlagstöcken haben andere Leute mit Helmen und Schlagstöcken daran gehindert, Geschäfte einzuhauen. Irgend ein kleineres Geschäft wird mit Steinen und Stangen angegriffen und dann kommen relativ schnell Leute die genauso aussehen wie die anderen und sagen: das ist nicht korrekt - die sollen die Finger davon lassen und wo anders hingehen."

Ein anderer Zeuge beschreibt auf einer italienischen Web-Seite von Peace-Link, wie am Rande der Demonstation vom Freitag vier Vermummte mit Eisenstangen an einer kleinen Tankstelle stehen. Plötzlich bewegt sich ein etwa 50jähriger und gepflegt aussehender Herr in schwarzer Hose und rosarotem Polohemd auf die Vermummten zu, nimmt einem von ihnen die Eisenstange aus der Hand, schlägt auf die Zapfsäule ein und gibt ihm die Stange wieder zurück, dann das gleiche bei einem anderen Vermummten. Es folgt ein kurzes Gespräch und die Vermummten setzen das Zerstörungswerk des seriösen Herren fort. Hier kommen deutliche Zweifel an der Identität der Vermummten auf. Wer aus dem ominösen "Schwarzen Block" lässt sich schon so einfach von einem älteren Herren im rosa Poloshirt eine Eisenstange aus der Hand nehmen und anschließend sagen, was er zu zerstören hat?

Die Informationen über randalierende Zivilpolizisten verdichten sich. Noch am Sonntag Abend wurde im italienischen Fernsehen RAI 3 in den landesweit ausgestrahlten Nachrichten mehrere Videoaufnahmen von vermummten und behelmten "Demonstranten" mit Eisenstangen gezeigt, die aus den Kasernen der Polizei und Carabinieri rein und raus laufen, die in Polizeifahrzeuge ein- und aussteigen und eine Aufnahme (sogar mit Sprachfetzen) auf der etwa fünf "Vermummte" zu sehen sind, die sich an der Ecke der Via Torino - wo am Samstag die Demonstration von der Polizei mit Tonnen von Tränengas eingedeckt und geteilt wurde - sehr lange mit einem höheren Polizisten unterhalten und militärische Planungen vornehmen.

Der Senatsabgeordnete Gigi Malabarba hat bei einem Besuch der Verhafteten in einer Polizeikaserne gesehen, wie schwarz Vermummte in voller Montur und mit ihren Waffen seelenruhig in das Polizeiquartier spazierten und sich dort mit den Polizisten unterhielten, unter anderem auf Französisch und Deutsch.

Andere Zeugen berichten davon, wie Schwarzvermummte ca. 20 m von der Polizei entfernt in einer Nebenstraße unbehelligt zwei Kleinwagen anzünden und unbeholfen Parolen wie "Kill all Cops" rufen, die sehr aufgesetzt wirken. Hinter einem Haufen Containern in der Nähe des Polizeihauptquartiers wechseln Polizisten ihre Kleidung, von der Uniform in die schwarze Kluft. Auch gab es einige Angriffe von Vermummten auf die "Tute Bianche", die bisher nie Probleme miteinander hatten, noch nach Göteborg hatten die "Tute Bianche" sich gegen eine Verdammung und Isolierung des "Schwarzen Blocks" ausgesprochen, den als Teil der Bewegung betrachtet, auch wenn sich ihre Kampfformen unterscheiden.

Auch Neonazis sollen an den Ausschreitungen beteiligt gewesen sein. Ein während der Auschreitungen von verschiedenen Journalisten interviewter betrunkener britischer Nazi-Hool gibt an von "italienischen Kameraden" kontaktiert worden zu sein, denen die Polizei "freie Hand bei der Zerstörung der Stadt" zugesagt habe. In einem Geheimdienstdossier - in dem allerdings auch allerlei fantasiereiche Meldungen über Linke zu finden sind - ist bereit im Vorfeld des G8-Gipfels von Anhängern der Nazi-Gruppen Forza Nuova, Fronte nazionale und Comunità politica di avanguardia die Rede, die in die Proteste einsickern wollten. Mitglieder von Rifondazione haben auch einen Rucksack mit Vermummungsmaterial und Nazipropaganda vorgelegt, der nach einer militanten Aktion von drei Jugendlichen in eine Mülltonne geworfen wurde.

Das Genoa Social Forum hat zudem rekonstruieren können, wie aus der Region Emilia Romagna - aus Bologna und Cesena - zwei Busse voller Nazis nach Genua gekommen seien. Ein in Genua anwesender Sozialarbeiter aus der Region erkannte am 18. Juli in einer größeren Gruppe einen seiner "Kunden": ein Aktivist der Nazi-Gruppe "Forza Nuova". Er erfährt, dass sich mit ihm insgesamt 60 Kameraden in Genua befinden sollen. Das GSF ist besorgt, doch die Behörden wiegeln ab: Keine Nazis weit und breit. Während mittlerweile in bekannten Nazi-Kneipen in Bologna und Umgebung laut Nachforschungen des GSF bereits Abenteuergeschichten aus Genua kursieren, leugnen offizielle Stellen immer noch jegliche Beteiligung von Faschisten an den Auseinandersetzungen. Vielleicht weil ihnen tatsächlich Deckung zugesagt wurde?

Debatte konzentriert sich auf Polizeigewalt

Die Debatte in der italienischen Linken konzentriert sich nach einer nur wenige Tage anhaltenden hysterischen Gewaltdebatte auf die Exzesse der Ordnungskräfte. Die Aktivitäten der breiten Linken, die nach Genua mobilisierte, brechen nicht ab. Das Genoa Social Forum fordert eine internationale Untersuchungskommision, den Rücktritt des Innenministers und Gerichtsverfahren gegen alle Verantwortlichen.

Das GSF konstituierte sich mittlerweile zu einem Italia Social Forum und ähnliche Bündnisse sollen auch auf lokaler Ebene ein nicht-instituionelles Forum schaffen. Zunächst steht nun die Aufklärung des Geschehenen ganz oben auf der Tagesordnung. Ab Anfang September sollen inhaltliche und analytische Debatten geführt werden und für Oktober und November sind wieder Massenmobilisierungen vorgesehen. Ob Genua tatsächlich ein neues '68 losgetreten hat, wie es viele AnalystInnen heraufbeschwören, und es wirklich gelingt eine dauerhafte Mobilisierung aufrecht zu erhalten, wird die Zeit zeigen. Doch das breite nicht-institutionelle Bündnis, das allen traditionellen politischen Akteuren den Rang abgelaufen hat, lässt hoffen.

Quelle: http://www.kpoenet.at/vs/


Das Imperium schlägt zurück

Artikel von Günther Hopfgartner aus 'Volksstimme', 14.8.2001

Die Herren der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie und deren politisches Personal haben dem "Volk von Seattle" den Krieg erklärt. Doch dieses lässt sich nicht einschüchtern.

Nur wenige Tage vor Beginn des G8-Gipfels in Genua betrat ein Mann eine Polizeistation in der ligurischen Küstenstadt, überreichte ein Kuvert, das wenig später beim Öffnen detonierte. Vor dem G8-Treffen noch ein Riesenaufreger, redet heute niemand mehr über diesen Briefbombenanschlag auf eine Polizeistation. Seltsam genug.

Die unter anderem durch diesen Vorfall scharf gemachten italienischen Polizisten und Carabinieri mischten in der Folge in Genua auch schon einmal eine Demonstration pazifistischer KatholikInnen auf, erschossen Carlo Giuliani und veranstalten am Ende der G8-Proteste eine "chilenische Nacht", mit Prügelorgien und Folter - wohl um noch einmal ein Zeichen zu setzen, für all jene, die es immer noch nicht glauben wollten, dass derart brutale organisierte Polizeiübergriffe in einer bürgerlichen Demokratie möglich sind.

Der Erfolg dieser Einschüchterungstaktik hielt jedoch nicht allzu lange vor.

Und dann plötzlich eine Bombe, die am Donnerstag der Vorwoche, vor einem Gerichtsgebäude in Vendig hoch geht, wenige Stunden vor einem Berlusconi-Besuch in der Stadt. Es ist bis jetzt nicht abzusehen, wer die Bombe gelegt hat. Wem sie nützt, wird aber allzu deutlich. Vor allem wenn man den pawlowschen Reflex beobachtet, den die parlamentarische Opposition Italiens zeigt. Wie in den 70er Jahren gibt es plötzlich keine Regierung und Opposition mehr, nur noch die Reihen fest geschlossen. Eine Volksfront gegen den Feind, der die Institutionen, das demokratische Gefüge des Staates zu zerstören droht. Da vergisst die Mitte-Links-Opposition schon einmal, dass erst vor wenigen Tagen, der Ministerpräsident des Landes seine parlamentarische Mehrheit für eine Anlassgesetzgebung genützt hat, die eine anstehende Strafverfolgung seiner eigenen Person verhindert. Schutz demokratische Institutionen? Wohl eher deren Umwandlung in einen Selbstbedienungsladen für das ehemalige Mitglied der ominösen P2-Loge, die im italienischen Terror-Jahrzehnt, den 70ern, offensichtlich tief in die rechtsextreme "Strategie der Spannung" verwickelt war. Eine Strategie der Destabilisierung des Staates, die versuchte mittels Bombenanschlägen, die linken Gruppierungen angehängt wurden, den Ruf nach einem autoritären Staat zu provozieren - wobei sich zumeist erst später die Täterschaft rechter Gruppierungen, die offenbar über brillante Kontakte zum Geheimdienst verfügten, herausstellte.

In Genua wurde die Schlagkraft eines ebensolchen autoritären Staates schon einmal getestet, stellvertretend für EU-Europa. Getestet gegen eine globalen Bewegung, vor den Augen der Weltöffentlichkeit und vor allem vor den Augen und unter Mitarbeit dutzender hochrangiger Polizisten aus allen Herren Ländern, die an die ligurische Küste gekommen waren, um aus zu testen wie man dem stetig anwachsenden "Volk von Seattle" Herr wird. Weniger blutrünstig aber mindestens so effektiv exekutieren die selbe Strategie die jüngsten Urteile von Göteborg: Zweieinhalb Jahre Haft etwa für ein paar Steinwürfe anlässlich der Proteste gegen den EU-Gipfel und den dubiosen Vorwurf der Rädelsführerschaft, in einem Land mit liberaler Rechtssprechung, in dem für Mord oftmals auch nur sieben Jahre verhängt werden, kann man nicht mehr nur als drakonische Strafe bezeichnen, da wird vielmehr die "chilenische Nacht" von Genua auf rechtsstaatlich inszeniert. Es geht erkennbar um Einschüchterung und die Zerschlagung der unbotmäßigen Bewegung.

Eingebettet ist eben jene Strategie in eine effektive Zusammenarbeit diverser Polizeien auf offizieller und informeller Ebene, dessen sichtbarstes Zeichen, die Vereinheitlichung der Repressions-Strategien von Göteborg bis nach Genua darstellt.

Von zentraler Bedeutung für die entsprechenden polizeilichen Maßnahmen ist das Konstrukt eines einheitlich geleiteten "Black Blocks". Eine Erfindung der Sicherheitsapparate, deren erstes Opfer die VolxTheaterKarawane wurde. Im Prinzip geht es darum, mit Hinweis auf das Konstrukt "Black Block", den jeweiligen Polizeieinheiten freie Hand für diverseste Repressionsmaßnahmen zu verschaffen, die von Prügelorgien und exzessivem Einsatz von Tränengas bis zum Schusswaffengebrauch gegen DemonstrantInnen reichen. Flankiert wird dies von der Aushebelung bürgerlicher Grundrechte, wie etwa der Einschränkung der Reisefreiheit oder der "dubiosen" Weitergabe von Daten zwecks Denunziation.

Initiator dieser Strategie ist in diesen Breiten die Politik der EU, vertreten durch die jeweiligen Innenminister, wie etwa den schwarzblauen Vorzeigeliberalen Strasser oder seinen deutschen Amts- und Gesinnungsbruder Otto Schily (SPD), der aus dem Polizeiterror von Italien nichts anderes zu folgern wusste, als die verstärkte europaweite Zusammenarbeit der nationalen Repressionsapparate und die Aufstellung einer Euro-Riot-Cops-Einheit, die doch längst schon Tatsache ist - nicht als stehende Einheit zwar aber als informelles Netzwerk mit offiziöser Rückendeckung und Unterstützung. Dies führte schon vor Göteborg und nicht erst in Genua zu einer politischen und polizeilichen Abgleichung der Innen- bzw. Sicherheitspolitiken, die einseitig auf Verschärfung der Repression setzt, während man von Deeskalation redet.

Offenbar haben die Herren der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie und deren politisches Personal dem "Volk von Seattle" den Krieg erklärt. Sie fühlen sich von der "globalisierungskritischen" Bewegung in ihrem Treiben gestört, wenn nicht gar bedroht. Und nun schlägt das Imperium eben zurück. Doch die "RebellInnen" lassen sich nicht allzu nachhaltig einschüchtern. Nach anfänglicher Verwirrung, Angst und internen Streitereien ging die "Antiglobalisierungs"-Bewegung schon nach wenigen Tagen wieder in die Offensive. So fanden bereits in den ersten Tagen nach den blutigen Polizeiübergriffen von Genua in über hundert Städten weltweit Solidaritätsdemonstrationen statt. In Italien selbst brauchte die Bewegung nur wenig mehr als 48 Stunden, um nach dem brutalen Polizeiüberfall auf die Schule Diaz 200.000 Mensch

en für Protestkundgebungen zu mobilisieren. Das nachhaltigste Zeichen der Entschlossenheit setzten die OrganisatorInnen der Genua-Proteste, das Genoa Social Forum, aber mit ihrer Neukonstituierung als Italien Social Forum, das sich als Teil des in Poto Alegre entstandenen World Social Forums begreift. Damit ordnet man die italienischen Kämpfe in eine globale Perspektive ein. Eine effektive Alternative, die wohl auch in Österreich ihrer Verwirklichung harrt. Ein "Austrian Social Forum", vernetzt aus den üblichen (Bündnis-)Verdächtigen, also den ErbInnen Otto Bauers, Lenins, Trotzkis, Petra Kellys und Bakunins, vor allem aber auch aus den neuen politischen AkteurInnen der letzten eineinhalb Jahre wie Gettoattack, VolxTheaterKarawane, ATTAC, volkstanz.net, Checkpoint Austria etc. könnte die heimischen Proteste gegen Schwarzblau in all ihren Facetten in eine globale Perspektive einbinden und damit entscheidend erweitern. Dass es dabei dann um "Berginhalte" statt um "Plattformen" gehen müsste, wie es einmal ein Autor dieser Zeitung formulierte, verstünde sich angesichts der bisherigen Erfahrungen der - und mit den - neuen politischen Netzwerken von selbst.

Quelle: http://www.kpoenet.at/vs/


Fakten und Emotionen

Artikel von Walter Baier aus 'Volksstimme' vom 14.8.2001

“Wie falsifiziert man ein Gefühl”, fragt ”Format”-Herausgeber, Christian Ortner, in einem Kommentar über die “Anti-Globalisierungsbewegung” und beweist mit seinem Text vor allem, dass kein reaktionäres Vorurteil ohne sexistisches Klischee auskommt. Mit diesen Leuten zu reden, meint er, sei so unmöglich, wie mit Frauen zu diskutieren. “Fakten stoßen auf Emotionen..., und denen ist mit Argumenten nicht beizukommen”. Nicht sehr zielführend wäre daher, “mit den Globalisierungsgegnern in einen Dialog einzutreten, und ihnen zum hundertsten Mal zu erklären, dass es zur Globalisierung keine Alternative gibt.”

Worauf das Argument von hundert sinnlosen Erklärungsversuchen, die nicht zur Bekehrung der KritikerInnen führen, hinausläuft, zeigt Genua. “Die Globalisierung nützt den Armen dieser Welt”, will uns Herr Ortner erklären. Ein Satz, dessen “Falsifizierung” man Tag für Tag beobachten kann. Zehn Millionen Kinder, denen es am Elementarsten, an Nahrung, an sauberem Wasser, an ärztlicher Versorgung fehlt, starben letztes Jahr. Knapp die Hälfte der Menschen auf der Welt vegetiert mit einem Dollar und weniger pro Tag. Und dabei wird der tatsächliche Weltzustand nicht einmal noch aus diesen Momentaufnahmen ersichtlich, auch nicht, wenn man sie mit dem Reichtum der Großverdiener und Großeigentümer kontrastiert. Tatsache ist, dass sich - im Zeitalter der Globalisierung - die Kluft zwischen Armen und Reichen auf der Welt immer mehr vergrößert - parallel mit steigender Arbeitsproduktivität und Reichtumsgewinn im Norden. Das ist es, was die gepriesene “Globalisierung” ausmacht. Der Begriff selbst ist nur insoweit zutreffend, als er auf eine neue Qualität verweist, die die weltweiten Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse im letzten Jahrzehnt erreicht haben. Um ihre zerstörerische Dynamik voll zu erfassen, ist aber zu ergänzen dass es um kapitalistische Globalisierung, um globalen Kapitalismus geht, ein Zivilisationsmodell, dessen einziger Maßstab der Profit einiger hundert transnationaler Konzerne ist. Herr Ortner wird es vielleicht nie begreifen, aber das ist es, wogegen sich weltweit Millionen Menschen erheben.

Quelle: http://www.kpoenet.at/vs/


300.000 in Genua - Trotz Repression und Einschüchterung

Artikel von Angela Klein aus 'SoZ - Sozialistische Zeitung' vom 17.8.2001

Was in Genua passiert ist, fordert den europaweiten Protest gegen die Infragestellung des Demonstrationsrechts und den systematischen Verstoß gegen die verbrieften Menschenrechte heraus. Die Bewegung in den einzelnen Ländern kann nicht dabei stehen bleiben, die Solidarität mit den "eigenen" Verhafteten und Angeklagten zu organisieren und Strafanzeigen gegen die italienische Regierung zu stellen.

Genua war ein Wendepunkt, hier wurde jedes Recht auf Demonstration einer abweichenden Meinung buchstäblich mit Füßen getreten und der Versuch unternommen, die Bewegung militärisch niederzuschlagen und in ihr Angst und Schrecken zu verbreiten. Gegen diese Eskalation der Gewalt, für die ausschließlich die Regierung und die Ordnungskräfte verantwortlich sind, muss ein europaweiter Protest entfacht werden. Die Bekämpfung einer Militarisierung der Auseinandersetzung, die Durchsetzung des Rücktritts von Innenminister Scajola, von Ministerpräsident Berlusconi und seinem Stellvertreter Fini - das sind Forderungen des Genoa Social Forum (GSF) - sind keine italienische Angelegenheit.

In Genua hat auf der Seite der Regierung mindestens der koordinierte europäische Geheimdienst gekämpft. Es ist nur recht und billig, dass die europäische Bewegung an der Seite des GSF kämpft, damit diese Regierung wieder abtritt und die EU nicht zu einem Polizeistaat wird.

Was in Genua passiert ist, reiht sich nicht einfach ein in die Erfahrungen, die mit der Polizei in Prag, Québec, Göteborg und Barcelona gemacht wurden. Obgleich hier viele Elemente einzeln vorweggenommen wurden, die man dann geballt in Genua wiedergefunden hat: die "Schandmauer" um die Rote Zone wurde erstmals in Québec errichtet, in Göteborg wurde zum erstenmal scharf geschossen und in Barcelona hat die Polizei erstmals massiv Provokateure eingesetzt. Aber in Genua wurde eine neue Qualität erreicht, ein Damm ist gebrochen, der Damm des bürgerlichen Rechtsstaats.

Erstens war die Strategie der Polizei nicht darauf ausgerichtet, die Demonstration in den von ihr vorher festgelegten Grenzen (keine Gewalttaten) zuzulassen. Sie war darauf angelegt, die Demonstration insgesamt anzugreifen und aufzureiben, also unmöglich zu machen. Die zahlreichen Misshandlungen nicht nur friedfertiger, auch völlig unbeteiligter Personen demonstriert dies, vor allem aber gibt es einen schreienden Widerspruch zwischen den Beteuerungen, es sei darum gegangen, den Schwarzen Block auszuschalten und dem Polizeiverhalten, das eben diesen Block weitgehend hat gewähren lassen.

Schon am Donnerstag hatte das Polizeipräsidium Hinweise aus der Bevölkerung erhalten, dass eine Schule in der Nähe des Bahnhofs Quarto vom Schwarzen Block besetzt worden war, von der aus auch Zerstörungen in der näheren Umgebung ausgingen; die Polizei hat darauf nicht reagiert, ebensowenig wie sie auf den Hinweis des GSF reagiert hat, dass aus der Emilia Romagna 200-300 Faschisten im Anmarsch waren, die sich der Gruppe Forze Nuove zurechneten.

Des Weiteren gab es keine von der Einsatzleitung koordinierte Polizeiaktion (zu diesem Ergebnis kommt die polizeiinterne Untersuchung des Innenministeriums; das gilt für die Straßenaktionen wie für den Überfall auf die Scuola Diaz); ebensowenig gab es während den Straßenaktionen Absprachen zwischen der Polizei und den Demonstranten. Vielmehr haben sich die Einheiten (und es waren alle Einheiten vor Ort anwesend, auch solche, die da nichts zu suchen hatten) verselbstständigt. Die Männer, die in den Wochen zuvor heiß gemacht worden waren, "Terroristen" zu schlagen, durften sich austoben.

Der auf der Straße, in der Schule und in den Kasernen entfesselte Sadismus schließlich verweist auf einen starken faschistischen Bodensatz in den italienischen Ordnungskräften. Der hat eine lange Tradition und eine lange Geschichte auch direkter Beziehungen zu faschistischen Parteien und Organisationen. Die Präsenz einer neofaschistischen Partei an der Regierung seit den Wahlen vom 13.Mai hat diesen Kräften kräftigen Auftrieb gegeben. Der Vorsitzende der Linksdemokraten (DS), Massimo D‘Alema, hat die Bande zwischen der neofaschistischen Alleanza Nazionale und Sondereinheiten der Polizei hervorgehoben und dem Vorsitzenden der AN, Fini, vorgeworfen, er habe Genua dazu benutzt, den Einfluss seiner Partei auf die Ordnungskräfte gezielt auszubauen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass es Fini und nicht Innenminister Scajola war, der während der Tage von Genua vor Ort war und mit den Verantwortlichen Kontakt hatte - also die politische Führung übernommen hat.

In der Nachbereitung der Ereignisse ist es wiederum Fini, der sich zum militanten Betreiber der Kriminalisierung der Bewegung hochschwingt: Alle Verfahren dienen ihm nur dazu nachzuweisen, dass es die Demonstranten gewesen sind, die die Polizei angegriffen haben, dass das GSF ebenso wie Parlamentarier der Opposition den Schwarzen Block decken, und dass die Tute bianche eine kriminelle Vereinigung sind.

Die Ereignisse in Genua werfen ein Licht darauf, was es bedeutet, wenn eine neofaschistische Partei mit in der Regierung sitzt. Während der Aufstieg Haiders in Österreich massive Proteste hervorgerufen hat, noch bevor diese Regierung zeigen konnte, wes Geistes Kind sie ist, schweigt die EU beharrlich zur Präsenz von AN und Lega Nord in der italienischen Regierung - und das auch noch nach Genua, nachdem deutlich geworden ist, dass die Ordnungskräfte in diesen Tagen die italienische Verfassung, sämtliche Menschenrechtskonventionen und selbst die Grundrechtecharta massiv verletzt hat, die sie gerade in Nizza mit verabschiedet hatte.

Wenn Genua also (noch) nicht als der Standard der Polizeigewalt in Europa gelten kann, so tragen die Ereignisse doch auch die Handschrift einer europäischen bis internationalen Polizeiintervention, z.B. die Tatsache, dass das Mobile Einsatzkommando aus Rom eine Woche lang auf Training in den USA gewesen ist. Ebenso die Vielsprachigkeit der als Tute nere (Schwarzer Block) verkleideten Provokateure, die in der Einsatzzentrale der Polizei ein- und ausgingen (deutsch, englisch, spanisch). Und das berührt noch nicht offizielle Innenministervorstöße wie die sog. Hooligan-Kartei oder die europäische Anti-Terror-Gruppe.

Die Bewegung wird sich davon nicht aufgehalten lassen. Im Gegenteil: nach Genua ist sie nochmals breiter geworden, ihre Entschlossenheit ist ungebrochen und sie schließt sich fester zusammen. Aber von nun an müssen wir damit rechnen, auf jeder dieser Gipfeldemonstrationen mit militärischer Gewalt konfrontiert zu werden. Und darauf muss sie dringend eine Antwort finden.

Quelle: http://www.soz-plus.de/


Ein Genueser Tagebuch - Die Straße gehört der Bewegung

Artikel von Gerhard Klas aus 'SoZ - Sozialistische Zeitung' vom 17.8.2001

Die italienische Metropole an der ligurischen Küste wirkte in einigen Stadtteilen fast wie ausgestorben. Viele Genueser waren dem Aufruf des Polizeipräfekten gefolgt, für die Tage des G8-Treffens ihre Stadt zu verlassen. Bei praller Sonne und 30 Grad im Schatten blieben die Liegestühle an den Stränden der Hafenstadt leer und die Sonnenschirme geschlossen. Außerhalb der Roten Zone, die die gesamte Altstadt umfasste und mit Schiffscontainern und auf Beton montierten Drahtzäunen zum Sperrgebiet wurde, hatten die Geschäftsleute an den Hauptstraßen nahezu alle Fensterscheiben mit Holzlatten und Metallgittern verkleidet, um ihre Läden vor den von Medien und Politikern angekündigten Randalen zu schützen.

Die als linke Hochburg geltende Stadt wirkte schon ab Montag geradezu gespenstisch, wären da nicht die mehreren zehntausend Gipfelgegner gewesen, die schon Tage zuvor nach Genua angereist waren. Die ließen sich nicht beirren - auch nicht durch die Bombendrohungen und -attentate. Viele fühlten sich an die 70er Jahre erinnert, als in Italien rechte Organisationen in Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten Bomben auf Bahnhöfen detonieren ließen und die Roten Brigaden dafür verantwortlich machten.

Das Genua Social Forum, unter dessen Dach sich knapp tausend internationale Organisationen befanden, erklärte wiederholt, dass zwar einige der GSF-Gruppen wie die Tute-bianche-Aktionen den zivilen Ungehorsam planten, aber alle es ablehnen würden, offensive Gegenstände mit sich zu tragen und Gewalt gegen Personen anzuwenden.

Viele daheimgebliebene Genueser solidarisierten sich trotz medialer Hetzkampagnen. Vor allem Unterhosen dienten ihnen als politisches Symbol, denn der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi hatte die Einwohner der Stadt angewiesen, ihre Wäsche, die in Italien oft an Wäscheleinen vor den Fenstern getrocknet wird, einzuholen. Dieser Anblick sei den Vertretern der G8 nicht zuzumuten, meinte Berlusconi.

Als Zeichen des Protests schwenkten deshalb die daheimgebliebenen Genueser nicht nur Che-Guevara-Fahnen sondern auch ihre Unterwäsche, während unter ihnen die Demonstrationen vorbeizogen. Übel aufgestoßen war vielen auch die historische Entsprechung der Anweisung Berlusconis: 1938, als Hitler seinen Gesinnungsgenossen Mussolini in Rom besuchte, gab es dieselbe Anordnung.

Donnerstag

Aber viele Genueser waren auch dem Ruf des Polizeipräfekten gefolgt, die Stadt zu verlassen. "Unsere italienischen Freunde hatten Angst, in Genua zu bleiben", berichtete ein in Genua praktizierender Therapeut aus Deutschland. Die Berichterstattung in den Medien und die Äußerungen zahlreicher Politiker hätten sie zutiefst verunsichert. Er selbst entschloss sich jedoch an der ersten großen Demonstration am Donnerstag teilzunehmen, nachdem er erfahren hatte, dass an der Schweizer Grenze bei Chiasso mehreren Gipfelgegnern die Einreise verwehrt worden sei. Auf die Demonstration der Migrantinnen und Migranten kamen mehr als erwartet: das GSF hatte lediglich mit 15.000 Teilnehmenden gerechnet, gekommen waren mehr als 50.000.

Das Bild der Demonstration wurde jedoch nicht von Migranten- und Flüchtlingsorganisationen dominiert, sondern von ihren Unterstützern, darunter zahlreiche Mitglieder von Rifondazione Comunista, von der unabhängigen Basisorganisation Cobas und dem internationalen Netzwerk ATTAC. Vielen Flüchtlingen aus dem Ausland war nämlich die Einreise verwehrt worden.

Angesprochen auf die Stimmungsmache im Vorfeld reagierten die zuschauenden Genueser gelassen. "Ich habe keine Angst, in Italien sind wir Proteste gewohnt", sagte ein Hafenarbeiter am Donnerstag. Auch die Busfahrer - Busse sind neben einer U- Bahn-Strecke das einzige Nahverkehrsmittel in Genua - waren gegenüber den Gipfelgegnern durchaus aufgeschlossen. "Sie lassen uns umsonst mitfahren", freute sich ein Antifaschist aus Westdeutschland. Nicht nur für ihn war die Demonstration ein Erfolg, auch für alle anderen schien die Stimmung durch nichts mehr getrübt werden zu können.

Freitag

Mit großen Erwartungen sahen deshalb viele dem Freitag entgegen. Würde es gelingen, mit Mitteln des zivilen Ungehorsams die Absperrungen zu überwinden? Einige waren dieser Ansicht und übten sich im Bauen von Menschentürmen. Die Tage zuvor hatte in einer Turnhalle des Medienzentrums das aus Seattle bekannte "Direct Action Training" begonnen. Dort trainierten mehrere hundert Gipfelgegner, wie ohne Waffen Polizeiketten und Absperrgitter möglicherweise überwunden werden könnten. Doch die insgesamt sechs Demonstrationszüge des GSF - einige Gruppen hatten sich nicht daran beteiligt, weil sie das Konzept wegen mangelnder Radikalität kritisierten - waren gerade losgegangen, da gab es schon die ersten Zwischenfälle.

Die unabhängigen Cobas-Gruppen und andere linke Gewerkschafter sahen sich auf ihrem Kundgebungsplatz auf der Piazza Paolo Novi von einem Schwarzen Block umringt, der ihre Veranstaltung kurzerhand vereinnahmte und die Konfrontation mit der Polizei suchte. Auch später tauchte der Schwarze Block, der zum Teil seine schwarzen Fahnen zu militärischen Trommelrhythmen schwenkte, auf den Kundgebungen des GSF auf.

"Erst habe ich gedacht, das ist ein faschistischer Aufmarsch", sagte eine Demonstrantin aus Frankfurt. Auch ihr Begleiter beschreibt das Szenario als bedrohlich. Ein Teil des Schwarzen Blocks sei auf einem Platz aufgetaucht, der von Jugendlichen der Socialist Workers Party und einigen Friedensaktivisten in Anspruch genommen war, die dort ihre Aktionen durchführten. Nachdem die mit schneckenhausförmig verkleideten Helmen ausgestatteten Anhänger des Schwarzen Blocks eine kleine Tankstelle zerlegt hätten, sei die Polizei gekommen und hätte nicht den Schwarzen Block, sondern die anderen Demonstranten angegriffen.

In anderen Fällen trieb die Polizei den Block immer wieder in die Reihe der friedlichen Demonstranten und nutzte dies als Anlass, anzugreifen, berichtete das GSF. Insgesamt sollen an den Freitagsaktionen mehr als 100.000 teilgenommen haben.

Von den tödlichen Kopfschüssen auf den 23-jährigen Carlo Giuliani erfuhren die meisten erst am Abend im Konvergenzzentrum. Die Polizeipräfektur hatte nach den Schüssen den absoluten Notstand verfügt. Selbst Anwohnern und Journalisten wurde der Zugang zur Roten Zone verwehrt. Diejenigen, die sich darin befanden, kamen für Stunden nicht hinaus.

Giuliani, der von zwei gezielten Kopfschüssen getötet wurde, war nicht bei den Tute bianche organisiert, hatte sich aber deren Demonstration mit 15000 Teilnehmenden angeschlossen. Die Tute bianche zogen sich nach den tödlichen Schüssen in ihre Unterkunft, das Fußballstadion Carlini, zurück. Dabei waren sie heftigen Angriffen seitens der Polizei ausgesetzt. Augenzeugenberichten zufolge sollen Autonome, Gewerkschafter und Aktivisten von Rifondazione Comunista den Tute bianche bei der Verteidigung gegen die Polizei geholfen haben.

Samstag

Am nächsten Tag auf der Großdemonstration trug fast die Hälfte der Teilnehmer ein um den Arm gebundenes schwarzes Band als Trauerflor. Doch nicht nur Trauer, auch Zorn bewegte die Gemüter. "Assassini, Assassini", schrien viele der mehr als 200.000 Demonstranten den Polizisten an den Absperrungen entgegen. An der Piazzale Kennedy, unmittelbar neben dem Konvergenzzentrum des GSF an der Uferpromenade, entwickelte sich die erste große Straßenschlacht. Dort hatte die Polizei demonstrativ mehrere Hundertschaften und Panzerfahrzeuge aufgefahren. Nachdem mehrere dutzend Demonstranten das Gelände des Konvergenzzentrums nutzten, um die Polizei anzugreifen, stürmte diese später das Gelände. Das GSF hatte zwar wegen der Erfahrungen vom Freitag den Ordnerdienst verstärkt, der aber der Größe der Demonstration nicht gewachsen war und nur kurze Zeit standhalten konnte.

Die Polizei reagierte mit ungeheurer Brutalität und Unmengen an Tränengas. Eine Stunde nach Beginn der Demonstration blockierte sie die Großdemonstration und schlug wahllos auf alle Teilnehmer ein. Auch viele der Demonstranten, die sich selbst keinesfalls zum Schwarzen Block zählen, setzen sich gegen die Polizeigewalt zur Wehr. So etwa 70 Gewerkschafer mittleren Alters aus den Cobas-Gruppen, die entschlossen eine von der Polizei gesperrte Kreuzung freikämpften, um anderen Demonstranten zu ermöglichen, der brutalen Polizeioffensive zu entkommen.

Die Straßenschlachten zogen sich bis kurz vor den drei Kilometer vom Konvergenzzentrum entfernten Platz der Abschlusskundgebung hin. Wer auf der Flucht vor der Polizei hinfiel, wurde von den Beamten geschlagen und zusammengetreten. Einige Demonstranten sind sogar über Mauern in einen drei Meter tiefen Abgrund geworfen worden.

Trotz der Verwüstungen auch zahlreicher kleinerer Geschäfte und Privatautos öffneten einige Genueser flüchtenden Demonstranten ihre Haustüren und reichten ihnen das dringend benötigte Wasser - gegen den Durst, und um das beißende Tränengas aus den Augen zu waschen. Manchmal nützte selbst die Flucht in Wohnhäuser nichts und die Polizei schlug sogar Fensterscheiben ein, wenn die Haustüren verschlossen waren. "Dann haben sie die Jugendlichen, die vor Angst zitternd in der Ecke saßen, mit ihren Knüppeln zusammengeschlagen", berichtete völlig aufgelöst eine etwa 60-jährige Frau, die mit den jungen Demonstranten in ein Haus geflüchtet war.

Am Samstag Abend verdichteten sich dann die Informationen, dass zahlreiche Agents provocateurs unterwegs waren. Sogar der staatliche Sender RAI sendete Filme, die nach ihrem Aussehen dem Schwarzen Block zugehörende Gruppen beim Betreten und Verlassen von Polizeistationen und -mannschaftswagen und im Gespräch mit hohen Polizeioffizieren zeigten. Auch das Team der unabhängigen Agentur indymedia hatte gute Arbeit geleistet und viel Bildmaterial gesammelt. Das ist möglicherweise der Grund, so vermuten einige, warum es dann am Abend zum größten Gewaltexzess des Tages kam.

Mit dem Vorwurf, in der gegenüberliegenden Schule des alternativen Medienzentrums hätten Teile des Schwarzen Blocks Unterschlupf gefunden, stürmte die Polizei mitten in der Nacht das Medienzentrum und die Schule. Während es im Medienzentrum, das maßgeblich von indymedia und dem GSF organisiert war, weitgehend bei Festnahmen,ZerstörungvonCom-putern und Beschlagnahmung sämtlichen Bild- und Datenmaterials blieb, wüteten die Polizeibeamten zwei Stunden in der Schule, zu der auch viel später noch Journalisten, Abgeordneten und Anwälten der Zutritt verwehrt blieb. Viele der mehrheitlich jugendlichen Demonstranten hatten schon geschlafen und wurden auf brutale und sadistische Weise zusammengeschlagen, zum Teil anschließend von der Polizei in schwarzen Säcken hinausgeschleppt. Allein diese Aktion forderte nach Angaben von indymedia 43 Verletzte, die im Krankenhaus behandelt werden mussten, darunter mehrere Schwerverletzte.

Was bleibt?

Ein Sprecher des GSF wies den Vorwurf zurück, dass das Medienzentrum "Teile des schwarzen Blocks" beherbergt habe. "Wir sind ein friedliche Bewegung, sie wollen uns zerstören. Dies ist eine Operation wie in Chile unter Pinochet. Sollte die Polizei die Beweisfotos über ihre Kontakte mit dem schwarzen Block suchen, muss sie wissen, dass sie an einem sicheren Ort lagern und demnächst der Staatsanwaltschaft übergeben werden."

Für die Polizei schienen die Gewaltexzesse ein Grund zum Feiern zu sein. Der G8 war erst seit wenigen Stunden zu Ende gegangen, als sich Sonntagnacht aus der Sporthalle des Messegeländes - einer der Sammelplätze der Polizeikräfte - Jubelchöre wie bei einem Fußballspiel erhoben. Hunderte Polizisten brüllten: "Polizia, eh, eh!", hüpften durch die Halle und riefen: "Wer nicht springt, ist Kommunist." So beschreiben übereinstimmend nahezu ein Dutzend Anwohner eine lautstarke Feier der Polizei gegenüber der Genueser Tageszeitung Il Secolo XIX.

Dem Freudenfest müssen auch hochrangige Politiker oder Polizeiführer beigewohnt haben, denn irgendwann fuhr eine Limousine unter Sirenengeheul ins Stadion und verursachte tosenden Beifall. Auch die Anwohner verschiedener Polizei- und Carabinieri-Kasernen berichteten von "Siegesfeiern" der Ordnungskräfte.

Selbst ein Teil der Medien in Italien schien in den darauf folgenden Tagen aufgeschreckt. Sie werfen die Frage auf, ob es sich bei der nächtlichen Aktion nicht um einen Racheakt der Polizei gehandelt hat. Auch bei den Genuesern, die nun aus dem angeordneten Exil zurückgekehrt sind, ist die Brutalität der Polizei und ihr Verhältnis zum "schwarzen Block" das bestimmende Gesprächsthema.

Und trotz der "Siegesfeiern" und der exzessiven Brutalität der Polizei scheint die Rechnung zumindest kurzfristig nicht aufgegangen zu sein: Am Dienstag, zwei Tage nach dem G8-Gipfel, demonstrierten allein in den italienischen Städten nochmal so viele Menschen wie auf der Großdemonstration am Samstag. Nicht eingerechnet die unzähligen Solidaritätsaktionen im Ausland.

Quelle: http://www.soz-plus.de/


Italiens Innenminister hatte bei G8-Gipfel Schießbefehl erteilt

Aus einer DPA-Meldung vom 17.2.2002

Der italienische Innenminister Claudio Scajola hat erstmals zugegeben, beim G-8-Gipfel von Genua im Juli einen Schießbefehl an die Sicherheitskräfte erteilt zu haben. Diese Äußerung, die am Samstag von italienischen Medien veröffentlicht wurde, hat die Ausschreitungen und Polizeiübergriffe bei dem Gipfeltreffen, bei dem ein Demonstrant von einem Militärpolizisten erschossen wurde, wieder zum innenpolitischen Thema gemacht.

Die Oppositionsparteien haben Scajola aufgefordert, umgehend dem Parlament Bericht zu erstatten. Auch die Justizbehörden, die über die Ausschreitungen bei der Gipfelkonferenz ermitteln, äußerten sich verwundert über das Eingeständnis Scajolas. Bisher sei von einem Schießbefehl nichts bekannt gewesen. Die Polizeiführung erklärte, niemals eine derartige Anordnung erhalten zu haben. Die Tageszeitung «La Repubblica» äußerte am Sonntag den Verdacht, dass es sich um einen unter Geheimhaltungspflicht fallenden Befehl gehandelt habe.

Scajola selbst hat unterdessen seine Äußerungen heruntergespielt. «Das ist gar keine Nachricht», zitierten ihn Zeitungen am Sonntag. Der Minister, der der Partei Forza Italia von Ministerpräsident Silvio Berlusconi angehört, wurde von Vertretern der regierenden Mitte-Rechts-Koalition in Schutz genommen. Scajolas Vorgehen sei gerechtfertigt gewesen.

Am 20. Juli war der italienische Demonstrant Carlo Giuliani von einem italienischen Militärpolizisten erschossen worden, als er gemeinsam mit anderen Globalisierungsgegnern ein Polizeiauto angriff. In der folgenden Nacht hatten Polizeieinheiten eine Schule gestürmt, in der sich Demonstranten und Journalisten befanden. Zahlreiche Personen wurden von der Polizei misshandelt und schwer verletzt. Scajola war wegen der Polizeiübergriffe unter Druck geraten, hatte jedoch einen Rücktritt abgelehnt. Auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern war das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten scharf kritisiert worden.

Er habe den Schießbefehl nach dem Tode Giulianis erteilt, hatte Scajola zur allgemeinen Überraschung italienischen Journalisten nach dem Treffen der EU-Innenminister in Santiago de Compostela am Freitag gesagt. Das Eindringen von Demonstranten in die Sicherheitszone hätte unter allen Umständen verhindert werden müssen, da ansonsten die Gipfelteilnehmer gefährdet gewesen wären, sagte er zur Begründung. Es habe die Gefahr eines Terroranschlags bestanden.