1. Hintergrundinformation zum Tod von Carlo Giuliani
Erschossen in Genua: Carlo Giuliani
'junge Welt', 23.7.2001 - Die Fensterläden blieben zu. Ein Toter und 500 Verletzte...
Abschied von Carlo Giuliani
'junge Welt', 26.7.2001 - Getöteter G-8-Demonstrant in Genua beigesetzt. Proteste in ganz Italien
Ermittlungen aufgenommen
'junge Welt', 31.7.2001 - Italien: Anschuldigungen verhafteter und mißhandelter Demonstranten...
"Ich werde euch alle töten"
'junge Welt', 1.8.2001 - Augenzeuge: Schüsse auf Carlo Giuliani keine Notwehr
Wer wen?
'junge Welt', 3.8.2001 - Neue englische Fotos widersprechen der offiziellen Version des Todes...
Unübliche Mittel
'junge Welt', 4.8.2001 - Gegen den Staatsterror: Was war los in Genua? (I)
Recht auf Widerstand
'junge Welt', 6.8.2001 - Gegen den Staatsterror: Was war los in Genua? (II)
Augenzeugen und Fotos: Schüsse auf Carlo Giuliani keine Notwehr
Dario Azzellini, 3.8.2001 - Neue Bilder und Aussagen zum Tod des 20jährigen in Genua
Carlos Tod
Ausführungen von Peoples' Global Action (AGP)
Attac verurteilt Schusswaffeneinsatz gegen Demonstranten
Erklärung von Attac Deutschland - Verden, den 20.7.01 (korrigiert 26.7.)
Attac fordert G8 zum Einlenken auf
Erklärung von Attac Deutschland - Verden, den 21.7.01
Erschossen in Genua: Carlo Giuliani
Artikel von Cyrus Salimi-Asl, Genua, aus 'junge Welt' vom 23.07.2001 - Die Fensterläden blieben zu. Ein Toter und 500 Verletzte bei G-8-Gipfel-Protesten. Berlusconi stolz
Die Bilanz des G-8-Gipfels in Genua ist blutig: ein Toter, zwei Schwerstverletzte (eine Demonstrantin und ein Carabiniere) sowie 500 zum Teil schwer Verletzte. Während der Gipfelproteste wurden mehr als 200 Demonstranten festgenommen. Zurück bleibt eine in Teilen zerstörte Stadt mit zahlreichen eingeschlagenen Fensterscheiben, vor allem bei Banken, und Hunderten von verbrannten Autos. Durch Genua zieht sich eine Spur von Gewalt, auf die der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi stolz ist. In der Abschlußpressekonferenz am Sonntag dankte der Premier ausdrücklich den sogenannten "Ordnungskräften, die Mut und Großzügigkeit gezeigt" hätten.
Großzügig im Einsatz der Gewalt waren die Polizisten mit Sicherheit. Zahlreiche Beweisfotos und Filmaufnahmen belegen, wie brutal die Einsatzkräfte gegen die Demonstranten vorgegangen sind. 200 000 Globalisierungsgegner kamen am Sonnabend in der italienischen Hafenstadt zusammen. Ihr Protest wurde mit Tränengas, Nebelgranaten und Gummigeschossen erstickt. Selbst vor Menschen, die bereits am Boden lagen oder sich mit erhobenen Armen den Schlagstöcken stellten, machten die wild gewordenen Beamten nicht Halt. Schläge mitten ins Gesicht waren keine Seltenheit, Jagdszenen mußte man den ganzen Tag beobachten.
In der Nacht zum Sonntag kam es zu weiteren Ausschreitungen in der Stadt. Dutzende Polizisten stürmten schließlich am Sonntag morgen zwei Schulen, in denen sowohl das Pressezentrum als auch der Hörfunksender Radio Media des Genoa Social Forum (GSF) untergebracht waren. 92 Aktivisten, unter ihnen 40 Deutsche, wurden verhaftet. Gegen sie werde wegen "krimineller Vereinigung zum Zwecke des Zerstörens und Plünderns" sowie wegen Besitzes von Brandsätzen ermittelt, rechtfertigte die Polizeipräfektur ihren brutalen Überfall vor der Presse.
GSF-Sprecher Vittorio Agnoletto verurteilte indes die Durchsuchung aufs Schärfste und sprach von einer Operation, die gegen die Verfassung verstoße. Tatsächlich wäre eine Durchsuchung ohne richterliche Genehmigung nur möglich, wenn nach Waffen im Zusammenhang des Verdachts einer terroristischen Vereinigung gesucht würde. Es ist offensichtlich der Versuch der italienischen Regierung, das GSF in die Nähe von Terroristen zu rücken. Silvio Berlusconi erklärte am Sonntag mittag nach Ende des G-8-Gipfels, daß es keinen Unterschied zwischen den Mitgliedern des GSF-Netzwerks und den Gewalttätern gebe. Mit letzteren meinte er freilich nicht seine eigenen Totschläger: Am Freitag war der 23jährige Carlo Giuliani von einem Carabiniere erschossen worden, als er auf dessen Polizeiwagen zugestürmt war und dabei einen Feuerlöscher geschwungen hatte. Dem Todesschützen droht nun eine Anklage wegen Totschlages; Ermittlungen laufen auch gegen den Fahrer eines Polizeifahrzeuges, der Giulianis Leiche überfahren hatte.
Doch Genua war nicht nur der bisherige Gipfel der Gewalt, es war vermutlich auch der letzte Mammutgipfel dieser Art. Die Spitzentreffen der G-8-Gruppe sollen deutlich verkleinert werden: Im kommenden Jahr wollen sich die Staats- und Regierungschefs der sieben wichtigsten Industrienationen (G 7) und Rußlands im dem kleinen Bergort Kananaskis unweit von Calgary in der Provinz Alberta im Westen Kanadas treffen. Berlusconi meinte, dies würde Möglichkeiten zu Protestkundgebungen verringert. Außerdem vergaß er nicht auf die italienische Gastfreundschaft hinzuweisen, die zu einem Erfolg des Gipfels beigetragen habe.
Diese Gastfreundschaft galt aber nur wenigen Personen. Wer sich außerhalb der "roten Zone" bewegte, wohnte einem brutalen Schauspiel bei. "Der G-8-Gipfel ist doch nur eine Machtdemonstration", meint der Hobbyschauspieler Pino Pastorini (41). Er ist am Abend der Todesschüsse an den Tatort gekommen, wo sich Passanten und Anwohner des Viertels zusammengefunden haben, um Carlo Giulianis zu gedenken. "Genua ist eine linke Stadt, immer gewesen. Das durften sie uns nicht antun", sagt er und verweist auf die Verantwortlichen in der "roten Zone". "Die wollen ihre Muskeln zeigen", stimmt Arturo Benvenuto (64) zu. Genua ist eine verletzte Stadt, aber die Genuesen wollen ihre Verletzung nicht zeigen. Sie schweigen. Am Sonnabend während der Abschlußdemonstration blieben fast alle Fensterläden geschlossen.
Quelle: http://www.jungewelt.de
Abschied von Carlo Giuliani
Artikel von Cyrus Salimi-Asl, Genua, aus 'junge Welt' vom 26.07.2001 - Getöteter G-8-Demonstrant in Genua beigesetzt. Proteste in ganz Italien
Carlo Giuliani, während des G-8-Gipfels von einem Carabiniere erschossener 23jähriger Demonstrant aus Genua, wurde am Mittwoch in seiner Heimatstadt beerdigt. Den Trauerfeierlichkeiten auf dem Friedhof Staglieno wohnten mehr als tausend Menschen bei, zum größten Teil Freunde des Erschossenen. Carlos Vater, der Gewerkschafter Giuliano Giuliani, sprach in seiner Trauerrede von den "hellen Herzen und den denkenden Köpfen" der jungen Menschen, die sich, wie sein ermordeter Sohn, politisch engagieren. Er rief die Anwesenden zur Einheit und zur Gewaltfreiheit auf. Auf Wunsch der Eltern waren bei der Beerdigung keine Fahnen von Parteien und Gewerkschaften oder Spruchbänder zu sehen.
Die Beisetzung Carlo Giulianis stand ganz unter dem Eindruck der Demonstrationen vom Dienstag, bei denen in verschiedenen Städten Italiens insgesamt weit über 100 000 Menschen auf die Straße gegangen waren, um gegen die Regierung und die Gewaltakte der Polizei während des G-8- Gipfels in Genua zu demonstrieren. Die größten Demonstrationen fanden in Rom und Mailand statt, wo jeweils mehrere zehntausend Menschen friedlich Straßen und Plätze füllten. In Rom marschierten mehrere Parlamentarier der Partei "Rifondazione comunista" mit, darunter Generalsekretär Fausto Bertinotti und Senator Giovanni Russo Spena. An der Spitze des Protestzuges war ein eindeutiges Spruchband zu sehen: "G-8-Mörder!" Die Slogans richteten sich gegen den italienischen Innenminister Claudio Scajola und gegen Premier Silvio Berlusconi.
In Mailand und Genua gingen Zehntausende Menschen auf die Straße, ohne daß überhaupt eine Kundgebung angemeldet war. Bürgermeister verschiedener Kommunen der Region Kampanien sowie der Präsident der Provinz Neapel nahmen an den Protesten gegen die Polizeibrutalität des vergangenen Wochenendes teil. Überall in Italien marschierten Gewerkschafter, Arbeitslose und Arbeiter Seite an Seite mit den zumeist jugendlichen Globalisierungsgegnern.
Die Mitte-Links-Opposition "Ulivo" (Olivenbaum) hat unterdessen im Senat einen Antrag auf Rücktritt von Innenminister Scajola eingebracht. Er hatte am Montag das brutale Vorgehen der Polizei sowie die Todesschüsse auf den 23jährigen Giuliani verteidigt.
Unterdessen mußte der Sprecher des "Genoa Social Forum" (GSF), Victorio Anjioletto, auf Anweisung von Wohlfahrtsminister Roberto Maroni (Lega Nord) eine von der Regierung eingesetzte Expertenkommission zur Drogenabhängigkeit verlassen. Anjioletto steht als Arzt der italienischen Liga für AIDS-Bekämpfung vor und gehörte der Kommission als wissenschaftlicher Berater an. Seine Aussagen gegen die Regierung im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz beim G-8-Gipfel hätten das Vertrauensverhältnis zerstört, rechtfertigte der Wohlfahrtsminister seine Entscheidung.
Weiterhin ist unklar, wie viele der bei den Protesten gegen den G-8-Gipfel Festgenommenen noch in Haft sind. Insgesamt wurden mehr als 300 zumeist jugendliche Demonstranten verhaftet. Die italienischen Anwälte stoßen auf Mauern des Schweigens, während die italienische Polizei weiter Jagd auf Deutsche macht, die als mutmaßliche Autonome dem sogenannten Schwarzen Block angehört haben sollen. Es häufen sich die Zeugenaussagen, die von schlimmsten Gewaltakten gegen die Globalisierungsgegner berichten. Im Genueser Krankenhaus San Martino liegen noch immer der Engländer Mark C. (Brustkorb gebrochen) und die Deutsche Lena Z. (Lungenflügel zerquetscht) auf der Intensivstation. Ein 21jähriger Berliner mit einer schweren Kopfverletzung ist mittlerweile operiert worden. Das Generalkonsulat hat eine Besuchserlaubnis für die Angehörigen erhalten.
Die Grünen-Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele und Annelie Buntenbach sind am Mittwoch nachmittag in Italien eingetroffen, um Inhaftierte und Verletzte zu treffen. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes in Berlin sitzen noch 58 Deutsche im Gefängnis, darunter auch jW-Mitarbeiterin Kirsten Wagenschein. Am Dienstag abend konnte sie erstmals ein Mitarbeiter des deutschen Generalkonsulats aus Mailand in der Haftanstalt Voghera besuchen und der Zeitung gegenüber berichten, daß es ihr "den Umständen entsprechend gut" geht.
Quelle: http://www.jungewelt.de
Ermittlungen aufgenommen
Artikel von Cyrus Salimi-Asl, Genua, aus 'junge Welt' vom 31.7.2001 - Italien: Anschuldigungen verhafteter und mißhandelter Demonstranten nach G-8-Gipfel untersucht
In Großbritannien sind neue Fotos über die Erschießung des italienischen Demonstranten Carlo Giuliani aufgetaucht. Dies berichtete die italienische Zeitung Il Manifesto. Mit ihnen lasse sich nachweisen, daß der polizeiliche Todesschütze in seinem Jeep keineswegs aus Notwehr habe zur Schußwaffe greifen müssen, als er von militanten Demonstranten umringt war. Die Beamten in dem Carabinieri-Jeep auf der Piazza Alimonda waren demnach nämlich nicht allein auf dem Platz, als sie attackiert wurden. Vielmehr ist in etwa zehn Meter Entfernung eine Abteilung Carabinieri zu sehen, die der Szene tatenlos zusehen, schreibt Il Manifesto.
So dokumentieren zwei Bilder, wie der Feuerlöscher, den Carlo Giuliani im Moment des Todes in Händen hielt, zuvor von den Carabinieri aus dem Inneren des Wagens geworfen wurde. Der Carabiniere, der später auf Carlo schießen wird, hält seine Pistole aus dem Wagen heraus und richtet sie auf einen anderen Demonstranten, während Carlo den am Boden liegenden Feuerlöscher anschaut. Ein drittes Foto zeigt die Flucht des Demonstranten vor der auf ihn gerichteten Pistole, während Carlo Giuliani den Feuerlöscher vom Boden aufhebt. Auf Foto Nummer 4 nähert sich dieser mit dem Feuerlöscher in der Hand dem Jeep, während die Pistole des Carabiniere noch immer nach außen gerichtet ist.
Das nächste Foto zeigt die bekannte Abbildung: Carlo Giuliani ist von hinten zu sehen und der Feuerlöscher zum Wurf bereit, während die Pistole auf sein Gesicht gerichtet ist.
Die Genueser Staatsanwaltschaft und drei Inspektoren, beauftragt vom Polizeipräsidenten Gianni De Gennaro, sollen sich eingehend mit den Anschuldigungen der Gewaltakte seitens der Polizei beschäftigen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der brutale Polizeisturm auf die Schule Diaz in Genua in der Nacht zum 22. Juli. Die drei Inspektoren sollen bis zum heutigen Dienstag ihren Bericht bei Innenminister Claudio Scajola abliefern.
Einer der Inspektoren soll sich insbesondere mit den Vorgängen auf den Straßen der italienischen Hafenstadt am Freitag und Sonnabend während des Gipfels befassen. Mit Hilfe umfangreichen Videomaterials soll die Verantwortlichkeit einzelner Beamter für Übergriffe auf Demonstranten festgestellt werden. Ein weiterer Kollege soll sich der Vorgänge in der Polizeikaserne Bolzaneto annehmen, wo die Festgenommenen regelrecht gefoltert worden sind. In der italienischen Presse ist in dem Zusammenhang mittlerweile von einer "chilenischen Nacht" die Rede. Am Sonnabend haben die Inspektoren die 13 Polizeifunktionäre angehört, die für die illegale Razzia auf die Schule verantwortlich zeichnen.
Skepsis ist jedoch angebracht hinsichtlich der Ergebnisse dieser polizeiinternen Untersuchung. Inwieweit weisen die von der Polizeispitze entsandten Inspektoren die Unabhängigkeit auf, eigene Kollegen an den Pranger zu stellen und öffentlich Verbrechen im Dienst anzuzeigen? Doch die Polizisten, Carabinieri und Spezialeinheiten der Gefängnispolizei, die sich der schlimmsten Gewaltverbrechen in der Schule verantwortlich gemacht haben, fürchten vor allem die strafrechtlichen Untersuchungen der Staatsanwaltschaft. Bislang wurden sechs Verfahren eingeleitet. Einer der ermittelnden Staatsanwälte, Fran-cesco Lalla, hat bereits durchblicken lassen, daß die Anschuldigungen der Demonstranten, Journalisten und Parlamentarier gegen die Polizei "glaubhaft" und "wahrhaftig" seien. Alle Zeugen wurden nochmals dazu aufgefordert, im Justizpalast in Rom ihre Aussagen zu machen. Mittlerweile wurde hierfür ein eigenes Büro eingerichtet.
Quelle: http://www.jungewelt.de
"Ich werde euch alle töten"
Artikel von Cyrus Salimi-Asl, Genua, aus 'junge Welt' vom 1.8.2001 - Italien: Polizeibericht über Gewalt in Genua. Augenzeuge: Schüsse auf Carlo Giuliani keine Notwehr
Der italienische Polizist Marco Placanica, der beim Vorgehen gegen Gegner des G-8-Gipfels in Genua den 23jährigen Demonstranten Carlo Giuliani am 20. Juli erschossen hat, handelte nach Einschätzung eines Augenzeugen nicht in Notwehr. In einem Interview mit der Zeitung Corriere della Sera (Dienstagausgabe) sagte der Zeuge, er habe die gezückte Waffe des 20jährigen Carabiniere gesehen und ihn schreien gehört: "Bastarde, ich werde euch töten, ich werde euch töten." Er selbst habe die anderen Demonstranten, die wie er Steine und andere Gegenstände in Richtung des Polizeijeeps geworfen hätten, gewarnt und gerufen: "Laßt uns abhauen, der wird schießen." Wenig später habe er kurz nacheinander zwei Schüsse, später noch einen dritten Schuß gehört, sagte der namentlich nicht genannte 23jährige Genuese der Zeitung. Die Lage sei bis zum Zerreißen gespannt gewesen. Die wiederholten Angriffe der Polizei gegen friedliche Demonstranten hätten eine "kollektive Wut" ausgelöst.
Die italienische Regierung hat unterdessen drei hohe Beamte des Innenministerium damit beauftragt, das von ihr prinzipiell gutgeheißene Vorgehen der Polizei gegen die Globalisierungsgegner auf "mögliche Verfehlungen" hin zu überprüfen. "Fehler, Verschweigen und Gewalt", so lauten die Vorwürfe, die die von Polizeichef Gianni De Gennaro eingesetzten Sonderermittler an die Polizei richten. Am Dienstag morgen legten sie dem Polizeichef ihren Bericht vor, der ihn wiederum Innenminister Claudio Scajola unterbreiten wird. Die Tageszeitung La Repubblica enthüllte bereits am Dienstag Einzelheiten aus dem Bericht, der in drei Teile gegliedert ist: die Einsatzleitung auf der Straße und die Gewaltakte gegen Demonstranten mit erhobenen Händen, die brutale Durchsuchung in den Schulen Diaz und Pertini, wo das Genoa Social Forum (GSF) seinen Sitz hatte, sowie die Gewalt gegen die Festgenommenen in der Polizeikaserne Bolzaneto. Der Bericht enthält keine Namen von Schuldigen und benennt nur die Fehler und die Polizeibehörden, von denen die Gewaltakte ausgingen.
Die Untersuchung der bei der Durchsuchung der Schulen begangenen Übergriffe lag in Händen von Inspektor Pippo Micalizio. Nach seinem Urteil sei die Durchsuchung "legitim" gewesen im Sinne von Artikel 41 des Gesetzes über die öffentliche Ordnung, weil es zahlreiche Hinweise auf Waffen in den beiden Gebäuden gegeben habe. Für die Durchsuchung sei die Benachrichtigung des Gerichts ausreichend gewesen, die Anwesenheit von Anwälten sei hingegen nicht vorgeschrieben. Als "diskutabel" bezeichnet der Bericht den Einsatz von mobilen Einsatzkräften aus Rom, da diese "bereits seit zwölf Stunden" im Einsatz gewesen und vor allem für den Einsatz auf der Straße, also im Freien und nicht in geschlossenen Räumen, ausgebildet seien. Beim Sturm auf die Schulen in der Nacht zum 22. Juli kam es zu Gewaltexzessen der Polizei. Mehrere Dutzend Menschen wurden im Schlaf überrascht, brutal verprügelt und zum Teil lebensgefährlich verletzt.
Mit den Polizeiübergriffen auf der Straße befaßte sich Generaldirektor Lorenzo Cernetig. Seinen Untersuchungen zufolge hätten einige Einheiten, die für öffentliche Ordnung sorgen sollten, "unnötige Gewaltakte" gegen Demonstranten verübt, und das nicht etwa nur während des Einsatzes, sondern auch danach, als die Demonstranten bereits auseinandergejagt waren. Die zahlreichen Fotos und Fernsehbilder, die um die Welt gingen und die Prügel auf einzelne Demonstranten belegen, sprechen für sich und können schwerlich dementiert werden. Aufgabe wird es nun sein, die verantwortlichen Funktionäre der einzelnen Einheiten ausfindig zu machen.
Der dritte Abschnitt des Berichts betrifft die Ermittlungen über die Torturen gegen die Festgenommenen in der Polizeikaserne Bolzaneto. Hier habe, so La Repubblica, Inspektor Salvatore Montanaro "Gewalt und Gesetzesüberschreitungen" festgestellt. Diese Ergebnisse werden auch durch Aussagen eines Funktionärs der Spezialeinheit Digos und des Verantwortlichen der Gefängnispolizei gestützt.
Unterdessen hat der Oberste Rat der Magistratur (CSM), ein Selbstregulierungsorgan der Richterschaft, eine Untersuchung darüber eingeleitet, ob die Staatsanwaltschaft von Genua die Rechte der Verteidigung zum Schaden der in der Diaz-Schule Festgenommenen verletzt hat. "Die Staatsanwaltschaft hat das Recht von uns Verteidigern ausgesetzt, unsere Mandanten sofort nach der Festnahme zu besuchen, als sie in die Kaserne Bolzaneto gebracht wurden", klagt Simonetta Crisci, Anwältin des "Genoa Social Forum". Einigen Anwälten wurde nach der Razzia in der Schule Diaz verboten, mit ihren Mandanten zu sprechen. Die Staatsanwaltschaft erklärte dazu lapidar, es habe in der Kaserne keine Möglichkeit gegeben, einen Gesprächsraum einzurichten.
Quelle: http://www.jungewelt.de
Wer wen?
Artikel von Angela Klein aus 'junge Welt' vom 3.8.2001 - Neue englische Fotos widersprechen der offiziellen Version des Todes von Carlo Giuliani in Genua
Es ging nicht anders, sagt die Polizei, der 20jährige, noch wehrpflichtige Carabiniere, der Carlo Giuliani erschossen hat, habe in Notwehr gehandelt. Die überall veröffentlichten Fotos scheinen dem eine gewisse Glaubwürdigkeit zu geben. Sie zeigen einen Jeep der Carabinieri vor einer Häuserwand, drei Demonstranten, die ihn bedrängen, Giuliani mit erhobenem Feuerlöscher von hinten, eine ausgestreckte Hand aus dem Jeep herausragend, die eine Pistole hält und zielt. Doch die Fotos sind eine Momentaufnahme in der Endphase des Geschehens, sie zeigen den Tathergang nicht.
Der "Corriere della Sera" hat Ende Juli den Bericht eines Freundes von Carlo Giuliani veröffentlicht, der beim Angriff auf den Jeep neben ihm war. "Er war eher außer sich als voller Angst", sagt er über den zielenden Carabiniere, vor dem er sich in Sicherheit brachte. Schon dieser Bericht bringt neue Elemente: 1. Der Jeep der Carabinieri stand nicht allein, in der Nähe standen Uniformierte herum, die aber nicht eingriffen; 2. der Carabiniere zielte zunächst auf jemand anderen, der dann flüchtete.
Eine Fotoserie aus England, bestehend aus 14 Bildern, die der Zeitung Il Manifesto vorliegt, bestätigt nun die Aussagen des Freundes und legt einen anderen als den offiziellen Hergang nahe. Auch sie zeigt, daß der Jeep keineswegs allein dastand, sondern eine Gruppe Soldaten sich in der Nähe aufhielt, die den Vorgang beobachteten, ohne einzugreifen. Außerdem ist der Feuerlöscher, den Carlo Giuliani zum Zeitpunkt seiner Ermordung in der Hand hielt, zuerst aus dem Inneren des Polizeifahrzeugs nach draußen geschleudert worden.
Der Carabiniere, der Carlo erschießen wird, richtet seine Pistole auf einen Jungen, während Carlo auf den Feuerlöscher am Boden schaut. Der Junge flieht, nachdem er die Pistole gesehen hat - hat Carlo sie gesehen? Carlo hebt den Feuerlöscher auf. Er nähert sich dem Jeep, will den Feuerlöscher werfen. Der Rest ist bekannt: Der Carabiniere feuert zwei Schüsse auf ihn ab, Carlo fällt, der Jeep setzt zurück, überfährt ihn, legt den ersten Gang ein und überfährt ihn noch einmal.
Die Polizei hat zunächst versucht, den Mord zu vertuschen und sprach davon, ein Stein sei ihm an den Kopf geflogen. Ein Fotograf der Agentur Reuters entlarvte die Lüge noch am selben Abend. Seitdem spricht die Polizei - und natürlich auch die Regierung - von Notwehr. Aber legt die Fotosequenz nicht nahe, daß es Carlo gewesen sein könnte, der aus Notwehr gehandelt hat? Aus dem Jeep wird ein Feuerlöscher auf die Demonstranten geworfen, der Carabiniere zieht die Pistole und zielt auf den Jungen neben ihm, Carlo hebt den Feuerlöscher auf, um den Schuß zu verhindern - und wird erschossen?
Quelle: http://www.jungewelt.de
Unübliche Mittel
Artikel aus 'junge Welt' vom 4.8.2001 - Gegen den Staatsterror: Was war los in Genua? (I). Ein Diskussionsbeitrag der "gruppe genova libera"
*** Bisher ist die Berichterstattung über die Ereignisse während des G-8-Gipfels in Genua in den linken Medien vor allem von Augenzeugenberichten, Bilddokumentationen und brisanten Informationen geprägt. junge Welt dokumentiert im folgenden in zwei Teilen eine politische Einschätzung deutscher Aktivisten für eine notwendige Debatte. ***
Bei denjenigen von uns, die in Genua vor Ort waren, herrscht bisher vornehmlich Sprachlosigkeit angesichts eines Eskalationsniveaus militärischer Auseinandersetzungen vor, die keiner von uns in Westeuropa so vermutet hätte. In Genua hat der Straßenkampf, der seit Seattle die Antiglobalisierungsproteste kennzeichnet, regelrecht militärische Dimensionen angenommen. Das begann im Vorfeld in Form eines Informationskrieges, in dessen Verlauf die italienische Regierung die Bereitstellung zusätzlicher Kühlhäuser und Särge für die zu erwartenden Toten ankündigte. Doch auch vor Ort wurden Demonstranten, obwohl sie sich bereits auf dem Rückzug vom Hauptgeschehen befanden, von Panzern durch die Straßen getrieben. Eine Polizeiwache brannte aus, ein Gefängnis wurde gestürmt (La Repubblica, 22.7. 2001). Die militanten Straßenkämpfer haben mehrere Tankstellen in der Innenstadt geplündert, um serienmäßigen Nachschub an Molotowcocktails zu produzieren.
Die italienischen Medien berichten, militärische Einrichtungen seien in Gefahr gewesen, was die Intervention der Marine notwendig gemacht habe. Auch wurden Menschen, die vor der Polizei ins Wasser flüchteten, von Polizeibooten aus angegriffen. Und es wurde an mehreren Stellen, zu mehreren Gelegenheiten scharf geschossen, nicht nur an dem Ort, wo Carlo Giuliani aus nächster Nähe exekutiert worden ist, sondern mindestens noch beim Angriff auf eine Polizeistation und bei den Krawallen am Samstag durch die sogenannte Finanzpolizei. Man kann also sagen, daß auf beiden Seiten Mittel der Auseinandersetzung gewählt wurden, die für Westeuropa zumindest im Kontext sozialer Bewegungen bisher unüblich waren.
Eskalation nach Plan
Zunächst stellen wir uns die Frage, wie dieses Eskalationsniveau erreicht werden konnte. Zuerst muß davon ausgegangen werden, daß jeder Ansatz von Bewegung, der es ernst meint, mit staatlicher Repression zu rechnen hat. Die historisch junge internationale Bewegung gegen die Globalisierung vermittelt in Teilen einen solch entschlossenen Eindruck. Geheimdienste gehen inzwischen sogar von der Gefahr einer "neuen Qualität des internationalen Gewaltpotentials" aus, da sich bei den Protestereignissen verschiedene Erfahrungen des Widerstandes verbinden und voneinander gelernt werden kann. Die staatlichen Reaktionen auf diese neue Stärke einer Protestbewegung sind eindeutig, neben dem Informationskrieg im Vorfeld wurde die Militarisierung des polizeilichen Handelns vorangetrieben. Das Schießtraining von Göteborg mag dafür ebenso stehen wie die wahllose Polizeigewalt in Genua selbst.
Vor dem Hintergrund dieser strategischen Konstellation sollten die Ereignisse der vorletzten Woche betrachtet werden: als taktischer Ausdruck einer politischen Konfrontation. Auch die bisher umstrittene Bewertung des "schwarzen Blocks" sollte aus dieser Perspektive unternommen werden. Augenzeugen berichten, daß die militanten Gruppen, die später von den italienischen Medien als "Anarchisten" und "schwarzer Block" homogenisiert wurden, sich am Freitag morgen über mehrere Stunden lang quasi unbehelligt in der Innenstadt austoben konnten. Ohne nennenswerte Eindämmungsversuche seitens der Polizei zerstörten sie in ganzen Straßenzügen die Geschäfte und Banken. Als die großen Demonstrationszüge in der Innenstadt ankamen, stiegen dort bereits Rauchsäulen auf. Erst als die Massendemos ankamen, startete die Polizei ihre Gegenangriffe durch massiven CS-Gas-Beschuß, mit Knüppeln und Wasserwerfern, wobei diese sich vornehmlich gegen die Demozüge richteten und nicht gegen die militanten Gruppen. Hierbei wurde nicht differenziert zwischen Gruppen mit einem erklärtermaßen gewaltfreien Konzept, den Anhängern der von den Tute Bianche propagierten defensiv/offensiv-Strategie und eventuellen "schwarzen Blocks". Die Repression richtete sich also ausdrücklich gegen die breite Masse, während im Stadtzentrum der Rock'n'Roll immer noch fortgesetzt wurde.
Defensive Offensive
Carlo Giuliani wurde am Rand der Tute-Bianche- Demonstration erschossen, als diese von der Polizei aufgehalten und zurückgeschlagen wurde. Diese Demonstration war straff organisiert, zielte in ihrer Militanz ausschließlich auf das Durchbrechen von Polizeikordon und Zaun auf dem Weg in die Rote Zone und wollte, um einer breiten Öffentlichkeit ein politisch gezieltes offensives Vorgehen zu vermitteln, explizit keinen Sachschaden in der Stadt anrichten. Ein siebenköpfiges, plural zusammengesetztes Gremium traf im Verlauf der Demonstration die Entscheidungen über das gemeinsame Vorgehen, die bis zum Schluß über den Lautsprecherwagen an die Teilnehmer vermittelt wurden. Auch das interne Infosystem hat offenbar den ganzen Tag sehr gut funktioniert. Es gelang so weitgehend, ein Vertrauen der Demonstranten untereinander herzustellen und Individualismen zugunsten eines geschlossenen Vorgehens zu vermeiden. Am Rande der Tute-Bianche-Demonstration kam es dann auch zu Handgemengen zwischen Demo- Ordnern und unorganisierten Militanten, die sich in die Masse flüchten wollten, um von dort zu agieren.
Das Konzept von zivilem Widerstand der Tute Bianche zielt auf eine Verbreiterung der Aktionsformen der Antiglobalisierungsbewegung nach dem Vorbild der mexikanischen Zapatisten. Dabei sind sie stark auf Transparenz und Vermittelbarkeit bedacht. Ihre Ausrüstung (Helme, Panzerungen aus Schaumstoff und Plastik, große Plexiglasschilde, Feuerlöscher und Flexgeräte) ist in Italien explizit legal, d.h. sie reizen die Legalität auf phantasievolle Art bis an ihre Grenzen aus. Zudem waren Anti-CS-Gas- Brigaden im Einsatz, die die Patronen in mit Wasser gefüllten Mülltonnen löschen sollten, und andere Gruppen mit besonderen Aufgaben im Handgemenge. Im Carlini- Stadion, der Homebase der Tute Bianche, wurden Konzepte und Entscheidungen auf Massenplena vorgestellt und so für alle zumindest nachvollziehbar gemacht. Entscheidungen fällte ein Delegiertentreffen der verschiedenen Städte und internationalen Unterstützergruppen. Dabei gelang es, Transparenz und demokratische Entscheidungsstrukturen nicht in Handlungsunfähigkeit umschlagen zu lassen, vor allem weil die einzelnen Gruppen den Erfolg des gemeinsamen Vorgehens im Auge hatten und nicht die genaue Durchsetzung einer eigenen Linie oder das politische Reinheitsgebot.
Wichtig für eine Einschätzung hierzulande ist auch, daß die Tute Bianche in der italienischen Öffentlichkeit sehr präsent sind. Bereits vor dem Gipfel haben sie über die Medien eine breite Debatte über die Legitimität ihres defensiv-offensiven Vorgehens geführt, flankiert von einer Umfrage nach dem Vorbild der Zapatisten, ob die Bevölkerung es für gerechtfertigt halte, in die von Polizei und Militär belagerte Rote Zone unter Einsatz legaler Mittel und des eigenen Körpers einzudringen. Gescheitert sind die Tute Bianche diesmal in der Auseinandersetzung mit der Polizei, aber nicht in der Öffentlichkeit, wo sie die Auseinandersetzung nach wie vor mitbestimmen, wie keine linksradikale Gruppe in Deutschland dies in den letzten 20 Jahren vermocht hat. Ein Engpaß in der Route und Fehler in der Aufstellung der Blöcke haben dazu geführt, daß die Demonstration, wenngleich sie zeitweise die erste Polizeisperre durchbrechen, den dadurch gewonnenen Raum nach massivem Gegenangriff nicht halten konnte. Doch war zum Zeitpunkt des Todes von Carlo Giuliani, der dann zum definitiven geschlossenen Rückzug führte, noch nicht das letzte Wort gesprochen.
Quelle: http://www.jungewelt.de
Recht auf Widerstand
Artikel aus 'junge Welt' vom 6.8.2001 - Gegen den Staatsterror: Was war los in Genua? (II und Schluß). Ein Diskussionsbeitrag der "gruppe genova libera"
Bisher ist die Berichterstattung über die Ereignisse während des G8-Gipfels in Genua in den linken Medien vor allem von Augenzeugenberichten, Bilddokumentationen und brisanten Informationen geprägt. junge Welt dokumentiert im folgenden den zweiten Teil einer politischen Einschätzung deutscher Aktivisten. Teil 1 erschien in der Ausgabe vom 4./5. August.
Schwarzer Block
Am Tag von Carlo Guilianis Tod tauchten die ersten Meldungen auf, unter den militanten Gruppen im Zentrum seien zahlreiche Provokateure der Polizei am Werk gewesen. Einen Tag später, am Samstag, den 21. Juli, belegen Filmaufnahmen, wie größere Gruppen von Schwarzvermummten aus den Polizeiwachen stürmten und sich aktiv unter die Randale mischten. Nach Einschätzung des Genoa Social Forum, des breiten Bündnisses vor Ort, das die Proteste getragen hat, diente die Polizeirazzia im Independent Media Center und der gegenüberliegenden Schule vor allem der Vernichtung von Beweismaterial, welches die aktive Beteiligung von Zivilpolizisten bei den Krawallen belegt. Immerhin wird der Sachschaden auf über drei Milliarden Lire geschätzt. (Zerstört wurden 83 PKW, 41 Geschäfte, 34 Banken, 16 Tankstellen, drei öffentliche Gebäude - darunter das Gefängnis, neun Postämter, vier Wohnhäuser etc. - Alle Angaben aus La Repubblica vom 22. Juli 2001.) Nach Angaben des Genoa Social Forum wurden unter den militanten Gruppen auch italienische und europäische Neonazis gesichtet.
Andererseits markiert diese Razzia aber auch den Beginn des entfesselten Staatsterrors, der den Globalisierungsgegnern in Genua und Umgebung entgegenschlug und in die Außerkraftsetzung sämtlicher Grundrechte mündete. Vermutlich ist es für die Bewegung politisch gewinnbringender, sich auf diesen Aspekt zu konzentrieren, als sich von den Meldungen über Provokateure und Nazis verunsichern zu lassen.
Erst als die Lage in der Innenstadt sich beruhigt hatte, also am Abend nach der großen Demonstration vom 20. Juli, begann die Polizei mit massiven Festnahmen. Ein beträchtlicher Teil davon fand unter extrem brutalen Bedingungen bei der nächtlichen Razzia statt, die sich wiederum nicht gegen einen Rückzugsort von Militanten richtete, sondern gegen die "Köpfe" der Bewegung, nämlich ihr Medienzentrum und das Headquarter des Genoa Social Forum. Alles deutet darauf hin, daß die Politik der Sicherheitskräfte auf die extreme Eskalation ausgerichtet war. Eine durchschnittliche Einsatzleitung hätte mit polizeitaktischen Mitteln die wenigen tausend Militanten leicht und frühzeitig stoppen können, wenn das gewollt gewesen wäre. Immerhin waren in Genua 18 000 Beamte verfügbar. Das ist jedoch nicht einmal ansatzweise passiert.
Eine solche Strategie kann eigentlich nur die Spaltung der Anti-Globalisierungs-Bewegung beabsichtigen. Indem man eine Situation anheizt und so eskalieren läßt, daß es Tote gibt, der Sachschaden immens ist und die nicht-militanten Teile der Bewegung angesichts der unverhältnismäßigen Repression unter Schock stehen, führt man deren dauerhafte Distanzierung vom sogenannten "schwarzen Block" herbei.
Ob die Unterwanderung des "schwarzen Blocks" Umsetzung einer solchen Spaltungsstrategie war, oder wie weit die Berichte der vielen Augenzeugen selbst Teil der Desinformation sind, muß in den nächsten Wochen geklärt werden.
Mediale Spaltungsversuche
Besonders in der Bundesrepublik hat die Strategie der Spaltung medial hundertprozentig angeschlagen. Die Sprecher von großen NGOs sehen sich hierzulande genötigt, sich von den Militanten zu distanzieren. Die deutsche Medienberichterstattung bildet dabei weniger die realen Ereignisse von Genua ab, als daß sie ein altbewährtes Debattenschema reproduziert, das schon mehrmals Anwendung fand, um soziale Bewegungen zu diskreditieren: Böse Gewalttäter hier, naive aber gute Friedfertige dort, die nun von Journalisten möglichst schnell zu ersteren auf Distanz gedrängt werden. Bestes Beispiel ist der Artikel "Gewalt in Weiß" in der Süddeutschen Zeitung vom 21./22. Juli: Hier wurde das Tute-Bianche-Konzept, das sich in obiges Schwarz-Weiß-Schema eben gerade nicht einfügt und u.a. daraus seine politische Brisanz bezieht, unter völliger Mißachtung der realen Begebenheiten dem Randaleflügel zugeordnet, nur um das Bewertungsmuster des Autors nicht durcheinanderzubringen.
Ganz anders in großen Teilen der italienischen Öffentlichkeit: Dort wurde diesen Spaltungsversuchen offensiv entgegengetreten und die Provokation der Polizei denunziert. Genoa-Social-Forum-Sprecher Vittorio Agnoletto beispielsweise schätzt die Proteste von Genua trotz des hohen Preises, der mit dem Tod von Carlo Giuliani bezahlt werden mußte, als Erfolg ein. Für ihn steht nicht nur die Oligarchie der G8 auf dem Spiel, sondern es geht bei diesen Auseinandersetzungen auch um konträre Konzepte von Demokratie - um Gegenentwürfe zu einer Demokratie, die angesichts von Ausreiseverboten, hemmungslosen Prügelorgien der Carabinieri, scharfen Schüssen auf Demonstranten, Folterungen in italienischen Gefängnissen, des tagelangen Verschwindens von Verhafteten etc. im Rahmen des entfesselten Neoliberalismus offenbar auf südamerikanisches Maß reduziert werden soll.
Das Genoa Social Forum setzt auf eine breite Massenbewegung, in der keine Gruppe und keine Aktionsform ausgegrenzt wird, um die illegitime neue Weltordnung und ihre Vorstellungen einer Demokratie der Mächtigen zu bekämpfen und das Recht auf Protest und Widerstand durchzusetzen.
Bewegung mit Zukunft?
Auch wenn die Randale aufgrund der Beteiligung von Provokateuren und Nazis im nachhinein wenig ruhmreich erscheint, geht es nun darum, sich vom politischen Gegner keine Debatte über die Legitimität von Mitteln des Protests aufzwingen zu lassen. Militanz war schon immer Teil jeder größeren sozialen Bewegung und hat auch wesentlichen Anteil an ihrer medialen Wahrnehmbarkeit und ihrem politischen Erfolg oder Mißerfolg gehabt. Auch wenn einige Aktionen mit Sicherheit zu hinterfragen sind, bleibt doch festzuhalten, daß der Sachschaden von Genua in keinem Verhältnis zu dem Elend steht, in dem Milliarden von Ausgegrenzten weltweit leben. Jetzt ist der Augenblick, in dem sich die politische Integrität der Nichtregierungsorganisationen wie ATTAC u.a. erweisen muß, und zwar auch im Verhältnis zu und in der Abhängigkeit von eventuellen Finanziers. Aber auch von seiten der radikalen Linken sollte der Wille zur Einheit der Bewegung die Abgrenzungsgelüste von "reformistischen Flügeln" erledigen, denn mittlerweile sollte klar sein, daß auch radikale Strömungen auf eine breite Massenbewegung angewiesen sind, wenn sie wirklich die Verhältnisse angreifen wollen.
Die Stärke dieser jungen internationalen Bewegung liegt genau im Aufeinandertreffen verschiedenster Erfahrungen aus lokalen Kontexten, die bei allen Beteiligten althergebrachte Bewertungsmuster in Frage stellen. So geraten z.B. eigene Positionen zur Gewaltfrage ins Wanken, wenn friedfertige deutsche Ökoaktivisten neben militanten Waldschützern aus Kanada stehen. Dies bezieht sich sowohl auf taktische Fragen der Auseinandersetzung mit der Repression als auch auf analytische Fragen. Offene, auf massive Beteiligung ausgerichtete Modelle der Meinungsbildung, wie das von den Zapatisten geprägte, erlangen darin neue Bedeutung.
Großen Respekt haben die italienischen Organisatoren verdient, sowohl die Tute Bianche als auch das Genoa Social Forum, das bis heute geschlossen gegen die Spaltungsversuche Front macht und die eigenen Inhalte nicht aus dem Blick verliert. Hier könnten deutsche Aktivisten einiges lernen, auch was Diskussionskultur anbelangt. Diskutiert werden muß, wie eine offene und trotzdem zuverlässige Informations- und Entscheidungsstruktur geschaffen werden kann. Die Struktur des Genoa Social Forum, ein morgendliches Delegiertentreffen und allabendliches Plenum zur Mitteilung der Ergebnisse, hat sich für die Tage vor dem Gipfel als tauglich erwiesen, wurde dann aber durch den Riot außer Kraft gesetzt. Vor allem hätte der gemeinsame Rückzug aus der Stadt von vornherein besser organisiert werden können, damit die Letzten nicht die Hunde beißen. Im Carlini- Stadion hat das zum großen Teil funktioniert, dort reiste die Mehrheit, auch aufgrund von Lautsprecherdurchsagen, noch am Abend des 21. Juli ab. Doch hätten hier Erfahrungen auch an andere Spektren der Bewegung vermittelt werden können.
Quelle: http://www.jungewelt.de
Augenzeugen und Fotos: Schüsse auf Carlo Giuliani keine Notwehr
Dario Azzellini, 3.8.2001 - Neue Bilder und Aussagen zum Tod des 20jährigen in Genua
Neue Bilder und Aussagen zur Erschießung des 23jährigen Carlo Giuliani in Genua werfen ein neues Licht auf das Vorgehen der paramilitärischen Polizeieinheit der Carabinieri während der Proteste gegen den G-8-Gipfel in Genua.
Nach Einschätzung eines direkten Augenzeugen handelte der Todesschütze nicht in Notwehr. In einem Interview mit der konservativen italienischen Tageszeitung "Corriere della Sera", das am Dienstag, den 31.7., veröffentlicht wurde, berichtet ein namentlich nicht genannter 23jähriger Genueser, er habe die gezogene Waffe des Carabiniere gesehen und ihn schreien gehört: "Bastarde, ich werde euch töten, ich werde euch töten." Daraufhin habe er umstehende Demonstranten, die wie er den Carabinieri-Jeep bewarfen, gewarnt und gerufen: "Lasst uns abhauen, der wird schießen." Nur kurze Zeit später habe er direkt hintereinander zwei Schüsse vernommen und anschließend noch einen dritten.
Bereits am 27. Juli hatte Luca Casarini, Sprecher der italienischen "Tute Bianche" (der Bewegung der "weißen Overalls"), neue Fotos über die Erschießung Giulianis vorgelegt, die "die Dynamik der Tötung verändern". Auf den Bildern eines britischen Fotografen - die zuerst auf der Webseite des linken Senders Radio Sherwood [0] und der koservativen Tageszeitung La Repubblica [1] veröffentlicht wurden und mittlerweile auch auf weiteren Seiten [2] einsehbar sind [3] - ist deutlich zu sehen, dass der Jeep der Carabinieri keineswegs isoliert war: Etwa 20 m entfernt befand sich eine größere Gruppe Carabinieri, die die Szenen beobachtete ohne einzugreifen.
Casarini kommentierte die neue Bildfolge auf einer Pressekonferenz und kündigte an, eine Reihe von Zeugen - nicht nur Demonstranten - hätten sich gemeldet und seien bereit, auch vor Gericht auszusagen. Auf den Bildern, so Casarini, werde deutlich, dass der Feuerlöscher, der Carlo Giuliani in anderen Bildern auf den Wagen zu werfen scheint, aus dem Innern des Fahrzeugs stammte. Er wurde kurz vorher von dem Todesschützen Marco Placanica nach außen auf die Demonstranten geschleudert. Bevor Carlo noch den Feuerlöscher vom Boden hebt, hält der Todesschütze bereits die Waffe im Anschlag und zielt auf einen grau gekleideten Demonstranten, der aber vermutlich die Waffe sieht und die Flucht ergreift. Daraufhin richtet er die Waffen auf Carlo Giuliani, der sich wahrscheinlich erst nach Aufheben des Feuerlöschers bewusst wird, dass eine Pistole auf ihn gerichtet ist. Die Pistole zielt direkt auf seinen Kopf. Laut Zeugenaussagen feuerte der Schütze zwei oder drei Schüsse auf Carlo Giulianis Kopf ab. Carlo Giuliani fällt getroffen zur Erde. Blut schießt aus seinem linken Auge, wo das Geschoss eingedrungen ist.
Die von der italienischen Polizei und Regierung bisher verbreitete These, der Beamte hätte angesichts einer konkreten Bedrohung durch den Feuerlöscher in Notwehr gehandelt, verliert mit den Bildern zunehmend an Glaubwürdigkeit, denn schließlich hatte der Carabinieri seine Waffe zeitlich vor der Bedrohung durch den Feuerlöscher gezogen und sie auf mehrere Angreifer gerichtet. Auf dem ersten Foto der Bildfolge ist neben dem fliegenden Feuerlöscher auch deutlich die Sohle eines schwarzen Stiefels zu erkennen. Es handelt sich dabei vermutlich um den Todesschützen, der die Rückscheibe des Wagens von Innen eintrat. Luca Casarini kündigte an, auch dafür Zeugen zu haben, darüber hinaus bestätigen diese auch, dass der Carabinieri, nachdem Carlo Giuliani unter seinen Schüssen tot zusammenbrach, sein Gesicht mit den Händen verdeckte und anschließend eine Sturmhaube überzog, um nicht identifiziert zu werden.
Die italienische Regierung wird indes nicht müde, der Polizei und den Carabinieri für ihren lobenswerten Einsatz zu danken. Den spontanen Worten des Premiers Silvio Berlusconi, der für den Tod von Carlo Giulianis Verantwortliche solle sich einen Urlaub gönnen, folgten nun konkrete Taten: Der Ortsverband Avellino der Berlusconi-Partei "Forza Italia" lud den Todesschützen zu einem Gratisurlaub ein. "Eine sehr gravierende Provokation", so die sozialdemokratische DS, die vom Innenminister fordert, die Einladung zu verurteilen.
Währenddessen beharrte Filippo Ascierto, Feldwebel der Carabinieri und Verantwortlicher des Bereichs "Sicherheit" für die, aus der faschistischen MSI hervor gegangene Regierungspartei Alleanza Nazionale in einem Radiointerview auf der Notwehrversion und fügte hinzu:
Wäre jemand mit mehr Erfahrung an der Stelle jenes Carabinieri gewesen, hätte er mehr als einen umgelegt, denn juristisch war die Notwehrsituation ja gegeben.
Dass Schusswaffen bei den in Genua eingesetzten Ordnungskräften locker saßen, wird im nachhinein immer deutlicher. Am Mittwoch präsentierte Willer Bordon, Fraktionsvorsitzender des moderaten bürgerlichen Bündnisses, im italienischen Senat eine neue Videoaufzeichnung, gedreht am 20. Juli zwischen 17.00 und 18.00 in der Via Tolemaide, nahe dem Ort, an dem Carlo Giuliani kurze Zeit später mit einem Kopfschuss getötet wurde. In dem Video [4]; (Fotos [5]) ist zu sehen, wie Demonstranten Steine auf Einsatzfahrzeuge werfen und ein Carabinieri aus der hinteren Tür eines Polizeitransporters mit einer Pistole auf Demonstranten zielt. Aufgrund des Lärmpegels lässt sich jedoch bisher nicht sagen, ob Schüsse abgegeben wurden.
Sollten die Bilder jedoch Schüsse in die Demonstration nachweisen, wäre dies der Beweis dafür, dass im Gegensatz zu dem, was der Herr Minister Scajola behauptet hat, Schusswaffen sehr wohl präsent waren und nicht lediglich benutzt wurden, um einer immanenten Gefährdung zu begegnen, so Bordon.
Die rechte Regierungsmehrheit lehnte am Mittwoch mit ihren Stimmen dennoch sowohl das von der Opposition gestellte Misstrauensvotum gegen Innenminister Claudio Scajola als auch die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission ab. Gebildet wurde eine 36köpfige Kommission aus Parlamentariern und Senatoren (Abgeordnete der zwei Kammern Italiens), deren Untersuchungsergebnisse und Schlussfolgerungen keinen bindenden Charakter haben.
Links:
[0] http://www.sherwood.it
[1] http://www.repubblica.it/gallerie/online/politica/uccisione/index.html
[2] http://www.sooth.de
[3] http://www.megraphics.de/aktuell/giuliani/giuliani.html
[4] http://www.repubblica.it/video/2001/08/02/01.html
[5] http://www.repubblica.it/online/politica/gottosedici/video/video.html
Quelle: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/free/genova/schuesse.htm
Carlos Tod
Ausführungen von Peoples' Global Action (AGP)
Notwehr sei es gewesen, sagt die Polizei, und die überall veröffentlichten Fotos und Augenzeugenberichte scheinen dem eine gewisse Glaubwürdigkeit zu geben. Die Fotos zeigen einen Jeep der Carabinieri, gegen eine Häuserwand gelehnt, drei Demonstranten, die ihn bedrängen, Carlo mit erhobenem Feuerlöscher von hinten, eine ausgestreckte Hand aus dem Jeep herausragend, die eine Pistole hält und zielt. Die Fotos sind eine Momentaufnahme in der Endphase des Geschehens, sie zeigen den Tathergang nicht.
Der Corriere della Sera hat Ende Juli den Bericht eines Freundes von Carlo Giuliani veröffentlicht, in dem dieser selbstanklagend sagt: "Ich war dabei, als Carletto durch einen Pistolenschuß ins Gesicht ermordet wurde. An dem Freitag war ich in der Gruppe der Demonstranten, die den Jeep der Polizei angegriffen haben. Auch ich habe mich beteiligt, Steine und andere Gegenstände gegen den Jeep zu werfen. Dann habe ich die gestreckte Waffe gesehen, hab' den Carabiniere gehört, wie er schrie: ,Bastarde, ich bring euch alle um, bring euch alle um." Dennoch glaubt er nicht an die These der Notwehr. "Mehr als voller Angst war er außer sich." "Die Situation war aufs Äußerste gespannt. Nach den wiederholten Tränengasangriffen der Polizei hat sich ein kollektiver Zorn entladen. Da schien es uns gar nicht wahr zu sein, daß wir einen Jeep erobert hätten..."
Der "entfesselnde Moment" sei der Steinhagel von der Eisenbahnbrücke durch Gruppen des Schwarzen Blocks gewesen. Die darunter stehenden Demonstranten aus dem Block der Tute Bianche schreien: ,Aufhören, aufhören.' Tränengas wird verschossen, Chaos bricht aus, die Demonstration teilt sich in zwei; die Spannung steigt, das Barometer steht auf Straßenschlacht. "Aber niemand von uns hat versucht, den Carabiniere aus dem Wagen zu zerren, wie dieser behauptet hat, es gab keinen Körperkontakt." Der Freund beschreibt, wie andere Ordnungskräfte in der Nähe standen, die zu dem Zeitpunkt nicht eingegriffen hätten. Er sieht den Carabiniere auf einen Nebenstehenden, nicht Carlo, zielen und ruft:
"Wegrennen, der schießt." Dann sieht er den Feuerlöscher am Boden, sieht wie Carlo, den er zu dem Zeitpunkt nicht erkennt, ihn aufhebt, hört zwei Schüsse, dann einen dritten.
Der Augenzeugenbericht bringt neue Elemente (die in der Nähe stehenden Uniformierten und daß der Carabiniere zunächst auf jemand anderen zielt), scheint aber die Version von der Notwehr zu bekräftigen, auch wenn der Freund das Motiv bestreitet. Eine Fotoserie aus England, bestehend aus 14 Fotogrammen, legt jedoch einen anderen Hergang nahe. Auch sie zeigt, daß der Jeep keineswegs allein dastand, sondern eine Gruppe Soldaten sich in der Nähe aufhielt, die den Vorgang beobachteten, ohne einzugreifen. Sodann ist der Feuerlöscher, den Carlo Giuliani zum Zeitpunkt seiner Ermordung in der Hand hielt, zuerst aus dem Inneren der Wanne nach draußen geschleudert worden. Der Carabiniere, der Carlo erschießen wird, richtet seine Pistole auf einen Jungen, während Carlo auf den Feuerlöscher am Boden schaut. Der Junge flieht, nachdem er die Pistole gesehen hat - hat Carlo sie gesehen? Carlo hebt den Feuerlöscher auf. Er nähert sich dem Jeep, hält den Feuerlöscher hoch. Der Rest ist bekannt: Der Carabiniere feuert zwei Schüsse auf ihn ab, Carlo fällt, der Jeep setzt zurück, überfährt ihn, legt den ersten Gang ein und überfährt ihn noch einmal.
Die Polizei hat zunächst versucht, den Mord zu vertuschen und sprach davon, ein Stein sei ihm an den Kopf geflogen. Ein Fotograf der Agentur Reuters entlarvte die Lüge noch am selben Abend. Seitdem spricht die Polizei - und natürlich auch die Regierung - von Notwehr.
Aber legt die Fotosequenz nicht nahe, daß es Carlo gewesen sein könnte, der aus Notwehr gehandelt hat? Aus dem Jeep wird ein Feuerlöscher auf die Demonstranten geworfen, der Carabiniere zieht die Pistole und zielt auf den Jungen neben ihm, Carlo hebt den Feuerlöscher auf, um den Schuß zu verhindern - und wird erschossen.?
Wer war Carlo Giuliani?
Wie Regierung, Polizei und der Großteil der Presse in Italien mit vereinten Kräften versuchen, die These aufrechtzuerhalten, das Genoa Social Forum habe in Wirklichkeit mit dem Schwarzen Block unter einer Decke gesteckt und als Deckung für Gewalttaten gedient, so wird auch Carlo Giuliani und seinem Freund umstandslos dem Schwarzen Block zugeordnet. Das ist nicht wahr. Die beiden aus Genua stammenden Freunde hatten sich dem Demonstrationszug der Tute bianche angeschlossen; der Freund hatte sich einen passiven Schutz aus Helm, Schwimmweste und Gelenkschützern zugelegt, Carlo war im Unterhemd und hatte nur eine schwarze Kappe übergezogen.
Carlo Giuliani, 23 Jahre, Sohn eines Sekretärs der CGIL, war ein Punk. "Er war auf der Suche, er wußte selbst nicht nach was. Es ist eine Schweinerei, wenn gesagt wird, er habe die Gewalt gewählt", zitiert der Corriere della Sera einen Freund von ihm. "In Wirklichkeit verstand er es nicht zu wählen, er wußte nicht, was mit sich und seinem Leben anzufangen, er konnte sich nicht entscheiden. Auch deshalb wurde er Carletto genannt, weil er innerlich nicht stark war. Er hatte keine Fahnen, und versucht auch nicht, ihm eine anzuhängen!"
Er hatte aus pazifistischen Gründen den Kriegsdienst verweigert und war vorbestraft wegen Tragens eines Messers und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Drei Monate lang war er Mitglied in der Jugendorganisation von Rifondazione, dann hat er der Politik der Rücken gekehrt. Er hatte eine Leidenschaft für die harten Texte von Public Enemy und Assalti frontali, und eine große Leidenschaft für den AS Rom. Die Fahne des AS Rom war es auch, die am Schluß seinen Sarg bedeckte. Er kehrte dem Elternhaus den Rücken, lebte eine Zeitlang auf der Straße, geriet in die Drogenabhängigkeit, ging auf Entzug. Zwei Wochen vor seinem Tod meldete er sich als Freiwilliger bei einer Initiative zur Bekämpfung von AIDS. Er hatte auch die Gefährtin seines Freundes aufgenommen - sie hatten sich getrennt - mitsamt ihrer 17 Monate alten Tochter, um die er sich kümmerte als wäre es seine eigene.
"Carlo war kein Gewalttätiger, er hatte einen eigenen Begriff von Ehre und Gerechtigkeit, er hatte beschlossen, sein eigenes Leben zu leben. Er hat sich nie zuvor bei einer Demonstration etwas zuschulden kommen lassen."
Und sein Freund, der neben ihm am Jeep war, und doch beide jeder für sich, voneinander nichts wissend? Aus guter Familie, Vater Psychoanalytiker, Mutter Hausfrau, Abschluß des humanistischen Gymnasiums, danach orientierungslos, lebt von Gelegenheitsjobs wie Tellerwäscher oder Aushilfe bei Großkonzerten. Auch er vorbestraft wegen lächerlicher Angelegenheiten: fünf Gramm Haschisch mit 17 und Beamtenbeleidigung mit 21, als er in eine Fahrkartenkontrolle geriet. Seitdem wird er als "sozial gefährlich" geführt.
aus: Corriere della Sera, 26.7.2001
Quelle: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/free/genova/carlo.htm
Attac verurteilt Schusswaffeneinsatz gegen Demonstranten
Erklärung von Attac Deutschland - Verden, den 20.07.01 (korrigiert 26.7.)
Attac ist entsetzt über den gewaltsamen Tod eines Demonstranten bei den Protesten gegen den Wekltwirtschaftsgipfel in Genua. Nach Berichten von DemonstrationsteilnehmerInnen, hatten Polizisten den Demonstranten mit einem Kopfschuss aus nächster Entfernung umgebracht, als er ihren Wagen mit einem Feuerlöscher angriff. Anschließend überfuhr das Auto seine Begleiterin, die lebensgefärliche Verletzungen davontrug und im Krankenhaus liegt."Wir verurteilen den Einsatz von Schusswaffen gegen Demonstranten, dazu darf es in einem demokratischen Land nicht kommen", erklärte Attac-Sprecher Felix Kolb. Er fuhr fort, ein Feuerlöscher sei keineswegs eine lebensgefährliche Waffe, so dass auch die Annahme einer Notwehrsituation ausscheide. "Hier muss vielmehr Absicht unterstellt werden; der Mordverdacht liegt nahe und muss untersucht werden."
Schon im Laufe des Tages waren Aktionen von GegnerInnen der wirtschaftlichen Globalisierung von der Polizei angegriffen und gezielt aufgelöst worden. Dabei machte sie kaum einen Unterschied zwischen den einzelnen Veranstaltern, ob es sich nun um gewaltfrei Gruppen, GewerkschafterInnen, 3.Welt-AktivistInnen oder Militante handelte. Die Beamten gingen meist ziemlich brutal vor, der Einsatz von Tränengas war die Regel.
Attac ist nicht der Meinung, dass die Zerstörung von Innenstädten, wie sie auch in Genua wieder vorkam, dem Protest und dem Widerstand gegen die Politik der G8 dienlich ist. "Wir halten solche Aktionen für falsch und sagen das auch den Akteuren in aller Deutlichkeit", erklärte Kolb: "Für Attac ist Gewalt kein Mittel der politischen Auseinandersetzung."
Trotz dieser Kritik liegt die Verantwortung für die Eskalation des Geschehens eindeutig bei den italienischen Behörden. Ihre Weigerung, einen gesichrten Rahmen für die Proteste zu garantieren, ihre unverantwortliche Hetze gegen die GlobalisierungskritikerInnen schon im Vorfeld und schließlich die gezielte Tötung eines jungen Menschen schaffen eine unerträglich Spannungssituation. Attac appelliert dringend an die italiensiche Regierung, die für morgen geplante Großdemonstration nicht zu verbieten und ihre friedliche Durchführung dadurch sicher zu stellen, dass die Polizei betont zurückhaltend und unbewaffnet auftritt.
Bei Rückfragen: Felix Kolb (Pressesprecher): 04231/957-593 o. 0178 / 35 94 212, eMail: f.kolb@attac-netzwerk.de
Um 14.00 Uhr beginnt die Großdemonstration gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Genua als Trauermarsch
Quelle: http://www.attac-netzwerk.de
Attac fordert G8 zum Einlenken auf
Erklärung von Attac Deutschland - Verden, den 21.07.01
Wegen des Todes von Carlo Giuliani, der gestern durch Schüsse eines Polizisten ums Leben kam, wird die heutige Großdemonstration der Globalisierungskritiker in Genua als Trauermarsch durchgeführt werden. "Um gegen die tödlichen Schüsse zu protestieren und unserer Bestürzung Ausdruck zu verleihen, werden wir die Demonstration als Trauermarsch durchführen und dazu schwarze Armbinden tragen, ohne aber dabei von unseren Forderungen an die G8 abzurücken", erklärte Attac-Pressesprecher Felix Kolb. "Die Regierungschefs der G8 müssen endlich einsehen, dass es für die Fortsetzung ihrer Politik von ökonomischer Liberalisierung und Deregulierung keinen gesellschaftlichen Rückhalt gibt. Eine soziale und ökologische Regulierung des Globalisierungsprozesses ist längst überfällig", so Kolb weiter. In einer aktuellen Umfrage des Spiegels hatten 65% aller Deutschen Verständnis für friedliche Proteste der Globalisierungskritiker geäußert.
Deshalb fordert Attac von den G8-Staaten, eine radikale Neuordnung des internationalen Finanzsystems zu beschließen. Dazu gehören insbesondere die Einführung einer Devisentransaktionssteuer (der so genannten Tobin-Tax), Schuldenstreichung für die Entwicklungsländer, die Schließung von Steueroasen und Offshore-Zentren sowie die Demokratisierung der internationalen Finanzinstitutionen wie des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Außerdem lehnt Attac eine neue Welthandelsrunde der WTO ab.
Bei Rückfragen: Felix Kolb (Pressesprecher): 04231/957-593 o. 0178 / 35 94 212, eMail: f.kolb@attac-netzwerk.de
Quelle: http://www.attac-netzwerk.de