Florenz/Firenze, 9.11.2002, "No alla Guerra - No War" - Eine Million Menschen aus ganz Europa protestieren gegen den KriegBilder

Megaprotest gegen Irak-Krieg

Georg Dacher und Wolfgang Pomrehn in 'junge Welt' vom 11.11.2002

Italien: Hunderttausende bei Friedensmanifestation

Hunderttausende Menschen aus ganz Europa haben in Florenz gegen den drohenden US-Angriff auf Irak demonstriert. Die bis dato größte europäische Manifestation gegen einen neuerlichen Golfkrieg bildete am Samstag den Höhepunkt des Europäischen Sozialforums (ESF) gegen Krieg, Neoliberalismus und Rassismus. Die Polizei und der gewerkschaftliche Ordnerdienst sprachen von 500000 Teilnehmern, die Veranstalter gar von einer Million. So oder so wurden sämtliche Erwartungen übertroffen. Mit 200 000 hatten die Organisatoren ursprünglich gerechnet. Wie schon beim Forum hatten sie ihre eigene Mobilisierungskraft unterschätzt. Statt der 30 000, auf die man bei der mehrtägigen Konferenz eingestellt war, kamen schließlich seit vergangenem Mittwoch über 60 000 aus allen Ländern Europas, darunter auch über tausend Teilnehmer aus Deutschland und Österreich.

Die Demonstration am Samstag war unterdessen von Antikriegstransparenten geprägt. Auf vielen wurde der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi wegen seiner Unterstützung für Washingtons geplanten Angriff auf den Irak attackiert. Neben den roten Fahnen des linken Gewerkschaftsverbandes CGIL, der Koordination der Gewerkschaftlichen Basiskomitees COBAS und der Rifondazione Comunista dominierten Regenbogenfahnen mit der Aufschrift »Pace« (Frieden) das Bild.

Daneben waren vor allem die Fiat-Arbeiter in den Blöcken verschiedener Gewerkschaften zahlreich vertreten. Das Management des italienischen Autoherstellers hatte vergangene Woche Massenentlassungen und die Schließung des Werks Termini Imerese bei Palermo angekündigt. Fiat ist eines der wichtigsten Industrieunternehmen des Landes. Hinzu kommt, daß vor allem auf Sizilien die Arbeiter kaum eine Chance haben werden, eine neue Arbeit zu finden. Entsprechend forderte der CGIL-Bezirk Palermo auf einem Transparent in Florenz den Generalstreik gegen die Massenentlassungen. Auch auf einem Podium des ESF hatten Vertreter von CGIL und COBAS davon gesprochen, daß die gesamte italienische Arbeiterbewegung auf die Fiat-Krise reagieren müsse.

Starke ausländische Gruppen waren vor allem aus Frankreich und Griechenland auf den Straßen von Florenz zu sehen. Die Französische Kommunistische Partei hatte sogar ihre Führung eingeflogen. Selbst Noch-Parteichef Robert Hue war trotz des aktuellen internen Konflikts gekommen, und so gehörte die deutsche PDS zu den wenigen westeuropäischen Linksparteien, die in der Metropole der Toskana nicht präsent waren. Auch von den italienischen Linksdemokraten (PDS) war wenig zu sehen, sieht man einmal von ihrem Jugendverband ab, der zahlreich vertreten war. Die florentinischen Studenten hatten einen eigenen Block organisiert, der allein etwa 10000 bis 15000 Menschen umfaßte. Die deutschen Teilnehmer gingen hingegen in der Riesendemo vollkommen unter. Nur einige wenige Fahnen der IG Metall und ein einsames ver.di-Banner waren zu sehen. Auffallend hingegen über alle Blöcke verstreut die palästinensichen und kubanischen Fahnen sowie die obligatorischen Flaggen mit dem Konterfei Che Guevaras.

Nach der friedlichen Großdemonstration in Florenz haben die Organisatoren des Europäischen Sozialforums für den 15. Februar »einen europäischen Tag gegen den Irak-Krieg« angekündigt. Diesem Aktionstag sollen Mitte Dezember und Mitte Januar zwei europaweite Antikriegsdemonstrationen vorangehen.

Quelle: http://www.jungewelt.de


Strategiesuche in Florenz

Wolfgang Pomrehn in 'junge Welt' vom 9.11.2002

Europäisches Sozialforum berät breites Spektrum von Themen. Widerstand gegen Irak-Krieg

»Es gibt keine Rechte mehr, sondern nur noch Waren.« Mit dieser Aussage trifft Rossana Rossanda, die Grande Dame der italienischen Linken, den Nerv der 30 000 Teilnehmer des Europäischen Sozialforums, das noch bis Sonntag in Florenz tagt. Aus allen Ecken Europas und des Mittelmeerraumes sind sie gekommen, um über den Kampf gegen den Abbau sozialer Rechte, über Neoliberalismus und Umweltzerstörung, über die Ausplünderung der Länder des Südens und die Privatisierung der öffentlichen Dienste in der EU zu diskutieren. Oder auch über die Weltschuldenkrise: »Die von den G-7 1999 in Köln gestarteten Entschuldungsprogramme sind reine Augenwischerei«, so Denise Cormann aus Belgien auf einem der über hundert Podien. Die Länder der Dritten Welt würden immer tiefer in den Strudel aus Verschuldung, Elend und Hunger gezogen. Die Nichtregierungsorganisationen sollten sich daher lieber nicht in die entsprechenden Initiativen der G7 einbinden lassen, sondern weiter politischen Druck mobilisieren.

Damit sprach sie eine der wesentlichen Konfliktlinien an, die im wilden Zickzack durch die in Florenz versammelten sozialen Bewegungen verläuft: Soll man versuchen, die Institutionen der Globalisierung von innen heraus zu verändern, oder sie ablehnen? Als zum Beispiel Bernard Cassen von ATTAC Frankreich am Mittwoch auf einem Europatreffen der Globalisierungskritiker vorschlug, das Netzwerk solle einen eigenen Vorschlag für eine EU-Verfassung erarbeiten, biß er damit vor allem bei den Skandinaviern auf Granit. Aber nach Ansicht mancher Teilnehmer führt die Zuspitzung dieses prinzipiellen Konflikts - reformieren oder generelle Ablehnung - eher auf Abwege. Man solle sich lieber auf die Dinge konzentrieren, die man gemeinsam bekämpfen müsse, und für eine Konvergenz der reformistischen und antikapitalistischen Bewegungen sorgen, meinte ein Teilnehmer in einer der zahllosen Diskussionen.

Eine dieser zentralen Fragen ist sicherlich der drohende Krieg gegen den Irak, um den sich in der toskanischen Metropole derzeit viele Diskussionen drehen. Auch wenn die Regierung in Rom, wie Rossana Rossanda meint, bereits ihre Zustimmung zum Angriff der USA gegeben habe. »Nach dem Wahlsieg der Republikaner bei den Parlamentswahlen«, erklärt Alex Callinicos von der University of York in Großbritannien, »ist der Beginn des Krieges nur noch eine Frage der Zeit«. Die USA wollen, so Callinicos, den Zugriff auf sichere Ölquellen, um ihre Vormachtstellung abzusichern und das Öl gleichzeitig als Joker gegen Konkurrenten zum Beispiel in Westeuropa zu nutzen. Eine Stärkung der EU als Gegengewicht kommt für ihn aber nicht in Frage, da es sich dabei nur um einen anderen »imperialistischen Machtblock« handeln würde.

Ähnlich sieht das Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen, der am Freitag vormittag auf dem gleichen Podium vor mehreren tausend Menschen sprach: »Wir wollen keine Weltmacht USA, aber auch keine europäische Weltmacht und schon gar keine deutsche.« Pflüger wies vor allem auf die im Aufbau befindliche Interventionstruppe der EU hin, die 2003 einsatzbereit sein solle. Dem 60000 Mann starken Truppenverband werden auch 18000 deutsche Soldaten angehören.

Rossana Rossanda nutzte das Podium, das über »Europa in der neuen Welt(un)ordnung« sprechen sollte, auch, um auf die bedrückende Situation der Flüchtlinge und Einwanderer hinzuweisen. Die Mauer, die die EU gegen diese Menschen errichtet habe, verstoße gegen die Menschenrechte. Für ihre Aufforderung, sich dem Irak-Krieg zu widersetzen, erntete sie unter den italienischen Teilnehmern stehende Ovationen.

Quelle: http://www.jungewelt.de


McDonald’s versteckt sich

Georg Dacher und Wolfgang Pomrehn in 'junge Welt' vom 8.11.2002

Italien: In Florenz hat das Europäische Sozial Forum begonnen - ohne ver.di-Chef Bsirske

Am Bahnhof begrüßt ein Stand des Europäischen Sozialforums (ESF) die Ankommenden, dahinter eine Bretterwand ohne Aufschrift - der Eingang zu McDonald’s. Das wissen allerdings nur Eingeweihte, auch das Emblem ist entfernt. Das gleiche in der ganzen Stadt: Florenz ist für die Tage des Forums McDonald’s-frei. Auch die Shell-Tankstellen sowie die Luxusgeschäfte im Stadtzentrum sind geschlossen und zum Teil verbarrikadiert. Nach einer großen Eröffnungskundgebung am Mittwoch abend, auf der unter anderem der weltberühmte Theatermacher Dario Fo sprach, hat das Forum am Donnerstag unter zum Teil chaotischen Bedingungen seine Arbeit aufgenommen.

30000 Menschen aus ganz Europa sind gekommen, und nicht wenige Gäste und Redner haben einen noch weiteren Weg hinter sich. Die kanadische Autorin des globalisierungskritischen Bestellers »No Logo«, Naomi Klein, und der philippinische Ökonom Walden Bello zum Beispiel oder der ehemalige algerische Unabhängigkeitskämpfer und spätere Präsident, Ahmed Bella, oder Michael Warschawski von der israelischen Friedensbewegung. Nicht gekommen ist indes ver.di-Chef Frank Bsirske, um dessen Nominierung es zuvor in der deutschen Vorbereitungsgruppe einigen Ärger gegeben hatte. Laut Angaben der Veranstalter war Bsirske durch wichtige Verhandlungen verhindert.

Während die Regierungen von Florenz und der Toskana das Forum nach Kräften unterstützen, schießt man in Rom und seitens der Rechten weiter aus vollen Rohren. Die bekannte Starjournalistin Oriana Fallaci beschwor am Mittwoch auf der Titelseite der konservativen Corriere della Sera den »Untergang von Florenz«. Die Bürger sollten alle Geschäfte »wegen Trauer geschlossen« halten. Man solle den »Vandalen« offen Verachtung zeigen, mit ihnen nicht reden, jede Auskunft verweigern. Ausdrücklich bedauerte sie, daß die Polizei nicht einmal schießen dürfe. An den Grenzen kam es indes zu den erwarteten Behinderung. Im Hafen von Acona versuchte die Polizei, türkische, kurdische und palästinensische Teilnehmer zurückzuweisen, was allerdings am Widerstand der griechische Mitreisenden und italienischer Unterstützer scheiterte. Weniger Glück hatten an anderen Grenzübergängen - vor allem an denen, die nicht von Beobachtern besetzt werden konnten - etwa 1000 Menschen, zur Hälfte EU-Bürger.

Unterdessen steht das Sozialforum ganz im Zeichen des drohenden Krieges gegen Irak. Mehrere Seminare und eine Konferenz sind dem Thema gewidmet, und auf dem Gelände der Festung, die das Zentrum der Aktivitäten des ESF darstellt, sind zahlreiche Transparente angebracht, die sich in Italienisch und Englisch gegen die Aggression wenden. Am Mittwoch nachmittag hatten bereits 5000 Demonstranten, zumeist Mitglieder der Basisgewerkschaft COBAS und von Rifundazioni Communista, vor dem US-Armeestützpunkt Camp Darby bei Pisa protestiert.

Auch auf der für Samstag geplanten Abschlußdemonstration des Forums soll der Widerstand gegen den Krieg eine wichtige Rolle einnehmen. Das offizielle Motto lautet: »Ein anderes Europa ist möglich - Gegen Neoliberalismus, Krieg und Rassismus«. Angesichts der von der italienischen Rechten und der Regierung in Rom geschürten Hysterie habe man allerdings die Lehren aus Genua gezogen, so Peter Wahl von ATTAC Deutschland. Italienische und französische Gewerkschafter würden einen Ordnerdienst organisieren, der Provokationen unterbinden solle.

Quelle: http://www.jungewelt.de


Reise nach Florenz

Gerhard Klas (Rheinisches JournalistInnenbüro) in 'junge Welt' vom 7.11.2002

Europäisches Sozialforum: »Wir brauchen eine neue politische Strategie«

Weil in Nordrhein-Westfalen Studiengebühren eingeführt werden sollen und Deutschland bei weitem nicht das einzige Land in der EU ist, in dem Studiengebühren die Bildung wieder zu einem Privileg für Kinder reicher Leute machen, ist Sylvia Klemen zum Europäischen Sozialforum (ESF) gefahren. Sie ist 28 Jahre alt und studiert an der Kölner Universität Romanistik. Ihren Lebensunterhalt muß sie selbst verdienen, und seit einem Jahr engagiert sie sich für das Netzwerk ATTAC. Wie knapp eintausend andere aus Deutschland, darunter Erwerbslose, Gewerkschafter und Betriebsräte, ist sie in Florenz, um sich mit anderen gegen neoliberale Politik zu engagieren.

Alle 20 000 Teilnehmer aus West- und Osteuropa wollen ihre Politik besser koordinieren. Als Delegierter kann sich jeder für das Europäische Sozialforum im Konferenzzentrum, der historischen Festung da Basso, registrieren lassen. Voraussetzung ist lediglich, eine »Charta« zu unterschreiben, die der neoliberalen Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre, aber auch dem Krieg und Rassismus eine Absage erteilt. Diese »Charta der Prinzipien« hatte im Januar 2002 das zweite Treffen des Weltsozialforums im brasilianischen Porto Alegre verabschiedet. Dort haben sich insgesamt 60 000 Menschen aus aller Welt getroffen, um die Folgen der Globalisierung zu kritisieren und nach Wegen zu suchen, sie in den Griff zu bekommen. Wegen der Größe des Weltsozialforums finden jetzt kontinentale Sozialforen statt.

Regionalforen überall im Land

In Europa scheint Italien wie kein anderes Land für die Ausrichtung eines solchen Mammuttreffens prädestiniert zu sein. Im vergangenen Jahr demonstrierten 300000 Menschen gegen den G8-Gipfel in Genua. Veranstalter war das Genueser Sozialforum, das mehr als 1000 Organisationen und Gruppen umfaßte - angefangen von den »Tute Bianche«, den »Weißen Overalls«, die mit Bolzenschneidern in die abgesperrte Tagungszone der Regierungschefs eindringen wollten, bis hin zu Ordensleuten, die in einer Kirche an der Uferpromenade für den Frieden beteten. Seitdem sind regionale Sozialforen überall im Land wie Pilze aus dem Boden geschossen. Heute gibt es sie nicht nur in den großen Städten, sondern mittlerweile auch in vielen Dörfern. Sie machen nicht nur ihre eigenen Aktionen, sondern beteiligten sich auch an den beiden Generalstreiks in diesem Jahr.

Für Sylvia Klemen ist »der Startschuß eigentlich durch den G8-Gipfel in Genua gefallen«. Sie war selbst nicht vor Ort, aber »mir ist ein Widerspruch aufgefallen zwischen dem, was ich in der Zeitung gelesen habe, und dem, was ich von Freunden und Bekannten gehört habe.« Sie war einerseits wütend über die Berichterstattung, die Demonstrationen und Proteste in Genua auf Gewalt reduzierte, andererseits »habe ich mich mit den Themen auseinandergesetzt, die dort eigentlich die erste Rolle gespielt haben«.

Besonders interessierte sich die Studentin fortan für das internationale Dienstleistungsabkommen GATS, gegen das schon in Genua Tausende Studentinnen und Studenten demonstrierten. Dieses in der Welthandelsorganisation verhandelte Abkommen sieht vor, die nationalen und zum größten Teil noch staatlichen Bildungssysteme für privatwirtschaftliche Unternehmen zu öffnen - auf einem weltweiten Level. Dafür setzt sich mit Vehemenz auch der Handelskommissar der Europäischen Union, der Franzose Pascal Lamy, ein.

Private Schulen und Universitäten erheben in der Regel hohe Gebühren, und der Lehrstoff wird weitgehend von privaten Unternehmen bestimmt. Ein Trend, den Sylvia Klemen bereits in anderen Ländern sieht. Schon im Frühjahr haben deshalb Studenten und auch Schüler aus verschiedenen europäischen Mitgliedsstaaten einen Protesttag organisiert.

Mit »Partnern, die ähnliche Interessen vertreten«, will auch der Deutsche Gewerkschaftsbund die neoliberale Globalisierung angehen. Horst Mund, Leiter der Abteilung internationale und europäische Gewerkschaftspolitik beim DGB-Bundesvorstand in Berlin, geht davon aus, daß die Globalisierung für »viele arbeitende Menschen negative Folgen hat oder zumindest als Bedrohung empfunden wird«. Der Mittvierziger fürchtet wie die Studentin Sylvia Klemen das Dienstleistungsabkommen der Welthandelsorganisation. Denn bei einer weltweiten Liberalisierung der öffentlichen Dienste, dazu zählt auch die Gesundheitsversorgung, blieben soziale Garantien und Rechte der Arbeiter und Angestellten außen vor. Die Deutschen Gewerkschaften setzen sich dafür ein, daß soziale Standards völkerrechtlich festgeschrieben und Verstöße dagegen auch sanktioniert werden können.

Zu den Standards gehören die von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO festgelegten Kernarbeitsrechte: das Recht auf Mindestlohn, das Verbot von Kinderarbeit, die gewerkschaftliche Organisationsfreiheit und das Diskriminierungsverbot am Arbeitsplatz. Doch bisher stehen diese Kernrechte nur auf dem Papier. Auch in vielen europäischen Ländern mißachten Unternehmer und Konzerne die Bestimmungen der ILO. Die Arbeitsorganisation darf sie dann zwar verwarnen - aber bestrafen kann sie die Unternehmen nicht.

Deshalb setzt Horst Mund auf die Welthandelsorganisation mit ihren 144 Mitgliedsstaaten. Die Organisation kann ihren Mitgliedsstaaten bei Verstoß gegen ihr Regelwerk mit Strafzöllen sanktionieren. Der Haken: Bisher interessiert sich die Welthandelsorganisation ausschließlich für den möglichst ungestörten grenzüberschreitenden Handel mit Gütern und Dienstleistungen. Der gewerkschaftliche Appell für verbindliche soziale Rechte fand dort bisher kein Gehör. Obwohl z.B. auch die Bundesregierung gegenüber den Gewerkschaften immer wieder beteuert, sich dafür einzusetzen und dies auch im neuen Koalitionsvertrag wieder festgeschrieben hat. Die Zusammenarbeit der Gewerkschaften mit sozialen Bewegungen wie etwa ATTAC soll nun den Druck auf die Welthandelsorganisation erhöhen, endlich einzulenken. Eine Strategie, die auf dem ESF nicht unumstritten ist.

»Es gibt in der Tat massive Meinungsunterschiede zwischen Gewerkschaften einerseits und einem Teil der globalisierungskritischen sozialen Bewegungen andererseits«, konstatiert Horst Mund auf einem Vorbereitungstreffen zum ESF in Deutschland. Die Gewerkschaften seien der Meinung, »daß das internationale System reformfähig ist, während große Teile der Globalisierungskritiker dafür eintreten, daß manche Institutionen schlicht abgeschafft werden«, erklärt Mund weiter. Dazu gehören die Welthandelsorganisation, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank.

Nicht nur Gemeinsamkeiten

Aber auch innerhalb des Gewerkschaftslagers in Europa gibt es nicht nur Gemeinsamkeiten. Sie sind zwar in ihrem Dachverband, dem Europäischen Gewerkschaftsbund, zusammengeschlossen. Doch dem ist es bisher nicht gelungen, die jeweiligen Interessen der nationalen Gewerkschaftsverbände in Europa effektiv zu bündeln. Zu groß sind offenbar die Unterschiede. Allein zwischen den Gewerkschaften in Deutschland und Frankreich liegen Welten.

Frank Bsirske, der Vorsitzende der weltweit größten Einzelgewerkschaft ver.di, spricht auf dem ESF über »Ökonomie und Solidarität«. Er verdient 13800 Euro im Monat. Sein Kollege Bernard Thibault, Generalsekretär des größten französischen Gewerkschaftsdachverbandes CGT bezieht hingegen nur ein Facharbeitergehalt von 2500 Euro im Monat und spricht in Florenz über den Ausverkauf der öffentlichen Dienste. Während in Deutschland fast 30 Prozent der Erwerbstätigen gewerkschaftlich organisiert sind, sind es in Frankreich inzwischen nicht einmal mehr zehn Prozent. Doch Quantität ist nicht gleich Qualität: In Frankreich sind die Gewerkschaftsmitglieder aktiver am Geschehen in ihrer Organisation beteiligt, sind wesentlich streikfreudiger als ihre Kollegen in Deutschland und gehen auch regelmäßig gegen Privatisierungen auf die Straße - etwa Anfang Oktober gegen den geplanten Verkauf des staatlichen Energieversorgers EDF. Und daß, obwohl die französischen Gewerkschaften ihren Mitgliedern nicht einmal Streikgeld zahlen.

»Es gibt Länder wie Spanien, Italien, Frankreich, auch Griechenland, da mobilisiert die Gewerkschaftsbewegung massiv nach Florenz - in der Bundesrepublik sind die Gewerkschaften leider noch etwas zurückhaltend«, sagt Hermann Dierkes, der seit 20 Jahren in einem Duisburger Stahlbetrieb arbeitet und bei dem Thyssen-Krupp-Unternehmen seit zwei Jahren als stellvertretender Betriebsrat amtiert. Der Mittfünfziger hat sich aktiv an der Vorbereitung zum ESF beteiligt. Seit dem Frühjahr haben sich knapp hundert Aktivisten alle sechs Wochen getroffen, um in Deutschland die Werbetrommel für das Europäische Sozialforum zu rühren. Mit dabei sind Franziskanermönche, Migranten, Schülerinnen, Arbeiter, Lehrer, junge Anarchisten, Sozialistinnen in und außerhalb der PDS, eine Psychoanalytikerin, Vertreter einiger Gewerkschaftsvorstände und Anthroposophen.

Auf dem zweiten Vorbereitungstreffen im Gewerkschaftshaus in Frankfurt am Main diskutieren sie bisweilen verbissen-ernst, als ginge es in Florenz um das letzte Gefecht. Doch oft liegt auch ein Lächeln auf den Gesichtern. Zum Beispiel, wenn ein Anthroposoph von seiner Erleuchtung und der vielen positiven Energie auf dem letzten Weltsozialforum in Porto Alegre schwärmt, das er besucht hat. Das ist eine Sprache, die Gewerkschafter auf ihren Treffen nicht gewohnt sind. Ein junger Anarchist ist der Ansicht, nicht nur Parteien sollten am ESF nicht teilnehmen dürfen, sondern alle anderen großen Organisationen auch nicht. »Dann würdest du wohl mit einer Handvoll Freunden alleine im Saal sitzen«, spotten die anderen. Aber ausgeschlossen wird auf den Vorbereitungstreffen niemand, denn alle schätzen den pluralistischen Ansatz des Sozialforums, der gerade für viele Gewerkschafter auch eine Herausforderung bedeutet.

»Was die Gewerkschaften nun auch in der Bundesrepublik ausbauen müssen, sind ihre Aktivitäten in bezug auf die prekär Beschäftigten, auf die Scheinselbstständigen, auf das riesige Potential der Leiharbeiter und auf die Erwerbslosen«, meint der stellvertretende Betriebsrat Dierkes. Doch gerade das Verhältnis zwischen Erwerbslosen und den Gewerkschaften ist in Deutschland sehr gespannt. Während die Führungsriegen der großen Gewerkschaften den Vorschlägen der Hartz-Kommission zustimmen, sind die gewerkschaftlichen Erwerbslosenausschüsse, aber auch einige Landesbezirke der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, nicht damit einverstanden. Die unabhängigen Erwerbslosenverbände kritisieren, daß mittlerweile auch der Koalitionsvertrag Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenlegen, einen Niedriglohnsektor einführen und die Zumutbarkeitskriterien erweitern will. D.h., ein Erwerbsloser muß künftig auch einen Arbeitsplatz akzeptieren, der den Umzug in eine andere Stadt erfordert. Andernfalls riskiert er, daß das Arbeitsamt oder die geplanten Personal-Service-Agenturen seine monatlichen Bezüge kürzen oder sogar ganz streichen. Frank Bsirske, Chef der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, unterstützt diese Vorschläge und bezeichnet sie als »gelungenes Gesamtkonzept«. Nicht so Erika Biehn, die für die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen nach Florenz gefahren ist.

»Die Hartz-Kommission fordert, daß sehr viel mehr Minijobs und prekäre Beschäftigung ermöglicht werden«, sagt die seit 1976 alleinerziehende Mutter von vier Kindern. Diese und ihre mittlerweile fünf Enkelkinder wohnen alle in der Region von Lippstadt in Nordrhein-Westfalen. Die 51 jährige hat mehr als zwanzig Jahre Sozialhilfe bezogen, Ende der 90er Jahre Sozialarbeit studiert und im Jahr 2000 ihre staatliche Anerkennung bekommen. Seitdem ist Erika Biehn, die sich gerne als ›bodenständig‹ bezeichnet, arbeitslos. Sie würde gerne denen die Meinung sagen, die den Vorschlägen der Hartz-Kommission und ihren neuen Zumutbarkeitskriterien etwas abgewinnen können. Denn sie will nicht aus Lippstadt wegziehen.

»Die Reichen verdienen immer mehr, und ich sehe nicht ein, daß gerade Erwerbslose und Sozialhilfeempfänger die Zeche bezahlen sollen«, moniert Erika Biehn. So in etwa lautete auch der Gründungskonsens des französischen Erwerbslosennetzwerks AC. AC steht für »Agir ensemble contre le Chomage« - »Gemeinsam gegen die Erwerbslosigkeit handeln«. Die französischen Erwerbslosen gaben entscheidende Anstöße für die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. 1994 gegründet, konzentrierte sich das Netzwerk zunächst auf die nationale Ebene. Dort veranstalteten sie Sternmärsche nach Paris, um mit mehreren zehntausend Teilnehmern gegen die sinkenden Monatszahlungen für Erwerbslose zu demonstrieren.

Doch schon bald erkannten sie die Grenzen nationaler Aktivitäten. Schließlich sei es die Europäische Union, die mit ihren großen wirtschaftspolitischen Leitlinien auch die nationale Beschäftigungspolitik bestimmte. Man müßte dort eingreifen, so hieß es damals, wo die Entscheidungen fallen, nämlich auf europäischer Ebene. 1996 trafen sich erstmals einige hundert Gewerkschafter und Erwerbslose in Florenz. Vor sechs Jahren diskutierten die Aktivisten über Armut und Erwerbslosigkeit und was dagegen zu tun sei. Sie beschlossen die ersten großen Proteste zum Abschlußgipfel der niederländischen Ratspräsidentschaft 1997.

Neoliberalismus in der Krise

»Wir sind das soziale Europa!«, tönte es am 14.Juni 1997 in den Straßen von Amsterdam, als die Regierungschefs die Amsterdamer Verträge verabschiedeten. Circa 30 000 Demonstranten waren in die niederländische Metropole gekommen. Schon Wochen zuvor waren viele von ihnen mit den »Europäischen Märschen gegen Erwerbslosigkeit« von überall aus Europa aufgebrochen.

Die Amsterdamer Verträge, so die Kritik der Marschierer, orientierten sich an der Stabilität der neuen Gemeinschaftswährung, dem Euro, und wollten auf Kosten sozialer Sicherungssysteme die Haushalte der Mitgliedsstaaten gesund sparen. Doch die Regierungschefs zeigten sich von der Großdemonstration wenig beeindruckt, sie verfolgten weiterhin ihre neoliberale Wirtschaftspolitik. In den darauffolgenden Jahren beteiligten sich immer mehr Interessengruppen an den Protesten gegen die EU-Gipfel. Zu den mitgliederstärksten gehören der Europäische Gewerkschaftsbund und die Confederation Paysanne, der europäische Alternativ-Bauernverband. Im März dieses Jahres demonstrierten eine halbe Million Menschen in Barcelona gegen einen Europäischen Ministergipfel. Denn die dort versammelten Minister der EU-Mitgliedsstaaten planten, die Arbeitslosen in Billigjobs zu vermitteln und so die Arbeitslosenquoten zu senken. Doch auch eine halbe Million Menschen konnte die politischen Entscheidungsträger der Europäischen Union nicht beeindrucken.

»Zunächst kann man den Eindruck haben, daß die Bewegung auf internationaler und europäischer Ebene wenig Einfluß hat«, räumt der Franzose Christophe Aguiton ein, der die neuen Bewegungen seit Mitte der 90er Jahre begleitet. Die offizielle Politik habe sich nicht verändert. »Aber das wäre ein zu kurzes und falsches Verständnis von dem, was tatsächlich passiert«, erläutert Aguiton. Denn noch zu Beginn des Jahres 1999 sei der Neoliberalismus als Sieger der Geschichte betrachtet worden. Sämtliche Vertreter der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds und auch auf dem Level der EU »waren absolut von ihrer Politik überzeugt«, so Aguiton weiter, »für sie war der einzige Weg: Mehr Liberalisierung, Privatisierung der öffentlichen Dienste und die Öffnung der Märkte - das ist jetzt vorbei.«

Christophe Aguiton organisiert gemeinsam mit anderen das Europäische Sozialforum in Florenz. Daß die neoliberale Politik in einer profunden Krise steckt, beweisen seiner Ansicht nach die zahlreichen Erschütterungen bei privaten Großunternehmen, die Wirtschafsexperten als Vorbilder galten. Dazu zählen die Bilanzfälschungen des US-Stromriesen Enron, die Selbstbedienungsmentalität des Vorstandes der Deutschen Telekom oder die tödlichen Unfälle der privatisierten Eisenbahngesellschaften in Großbritannien. Doch Anzeichen für die Krise sind nicht nur die zahlreichen Wirtschaftsskandale der jüngsten Zeit, sondern auch der Gesinnungswandel führender Vertreter des internationalen Finanzkapitals selbst: Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger und ehemaliger Chef-Ökonom der Weltbank, hat in diesem Jahr ein Buch veröffentlicht, in dem er sich für eine stärkere Regulierung der Wirtschaft ausspricht. George Soros, internationaler Finanzjongleur, unterstützt mittlerweile sogar die Forderung vieler Globalisierungskritiker nach einer Steuer auf grenzüberschreitende Spekulationsgeschäfte. Langfristig, so Christophe Aguiton, müsse jedoch eine Strategie her, die für konsequente und grundlegende Veränderungen stehe.

»Wir werden nicht in der Lage sein, in kurzer Zeit ein neues globales System oder eine globale Strategie zu entwerfen«, schätzt Aguiton, »für mich sind die konkreten Forderungen der Bevölkerung nach wie vor die Schlüsselfragen: bessere Arbeitsbedingungen und gute öffentliche Dienstleistungen für alle. Das sind kleine Dinge. Aber wenn sie der Ausgangspunkt sind, können wir möglicherweise eine neue politische Strategie entwickeln.«

Quelle: http://www.jungewelt.de


Festung an Sozialforum übergeben

Georg Dacher in 'junge Welt' vom 6.11.2002

In Florenz beginnt heute Mammuttagung der globalisierungskritischen Bewegung

Seine Königliche Hoheit, der Prinz von Wales, besichtigte am Montag an der Seite des Florentiner Bürgermeisters nicht nur die Uffizien, sondern informierte sich auch über die »Verteidigungsmaßregeln« - eine seinem Rang als Konteradmiral durchaus angemessene Tätigkeit. Doch nicht nur hoher Besuch trifft dieser Tage in der Hauptstadt der Toscana ein. Seit dem Wochenende füllen sich die Campingplätze vor allem mit französischen und deutschen Teilnehmern des Europäischen Sozialforums (ESF). Die Mammutveranstaltung der globalisierungskritischen Bewegung beginnt am heutigen Mittwoch. Die Veranstalter erwarten 20000 Teilnehmer. Manche freilich kommen nicht an: Allein an der Grenze zu Frankreich wurden Dutzende bei den seit 1. November stattfindenden Kontrollen zurückgewiesen. Am heutigen Mittwoch werden im Hafen von Ancona die »griechischen Anarchisten« erwartet. Die »Disubbedienti«, die Ungehorsamen, werden deren Einreise überwachen. Seit Dienstag sind mehrere Abgeordnete und Senatoren des »Olivenbündnisses« an den Landesgrenzen zu Frankreich, der Schweiz und Österreich, um sich von der korrekten Handhabung der Einreisekontrollen zu überzeugen.

Die »Fortezza da basso«, die geradezu geometrisch regelmäßige fünfeckige untere Festung gleich beim Hauptbahnhof von Florenz, nicht von der Stadt, sondern vom »Reich« unter Karl V. gebaut und ein guterhaltenes Beispiel damaliger Militärarchitektur, wurde am Montag dem ESF »übergeben«. Alle wesentlichen Veranstaltungen, zu denen teilweise mehrere tausend Teilnehmer erwartet werden, finden in dem ummauerten Gelände statt, das nur durch zwei enge, nebeinander liegende Eingänge zu betreten ist.

Für die beiden Großdemonstrationen - heute bei Pisa vor der US-Basis Camp Darby sowie am Sonnabend in Florenz - gegen den drohenden US-Krieg am Golf haben die Gewerkschaften, vor allem die linke CGIL, ihre Ordnerdienste zur Verfügung gestellt. Kern der kräftigen Truppe werden Hafenarbeiter aus Livorno sein. Im Interview mit dem Corriere della Sera rühmte sich deren »Einsatzleiter«: »Wir haben die linksradikale Potere Operaio gestoppt, wir stoppen auch jeden schwarzen Block!«

Sollte die Ordnertruppe dennoch erfolglos sein, stehen über 6000 aus ganz Italien zusammengezogene Ordnungshüter bereit. Kommandiert werden diese von den Büros des Florentiner Präfekten, nicht - wie in Genua - direkt aus dem römischen Innenministerium. Es wird befürchtet, daß einige der »servizii«, der Dienste, Rache für Genua nehmen wollen und, wie in Italien keineswegs unüblich, »aus dem Ruder laufen« könnten. Dr. Giovanni Aliquò, Chef der »Direzione Investigativo Antimafia« und Sekretär einer Gewerkschaft höherer Polizeibeamter, scheint solche Befürchtungen bestätigen zu wollen: »Um eine Stadt der Kunst wie Florenz gegen die Risken der Guerilla zu verteidigen, müssen wir denselben Grad an Entschlossenheit aufbringen, wie die Russen im »Blitz« gegen die tschetschenischen Terroristen.«

Quelle: http://www.jungewelt.de


Sozialforum in Florenz beginnt: Ist ein anderes Europa möglich?

Thomas Klein im Gespräch mit Hugo Braun (ATTAC Deutschland) in 'junge Welt' vom 6.11.2002

jW sprach mit Hugo Braun, Mitglied im Koordinierungskreis von ATTAC-Deutschland, der das 1. Europäische Sozialforum in Florenz vom 6. bis 10. November mit vorbereitet hat

Heute beginnt in Florenz das Europäische Sozialforum unter dem Motto »Ein anderes Europa ist möglich - gegen Rassismus, gegen Krieg und gegen Neoliberalismus«. In welcher Tradition steht dieses Treffen?

Das Europäische Sozialforum ist das Ergebnis eines politischen Prozesses, der seinen Niederschlag in Porto Alegre gefunden hat. Dort haben sich nun schon zweimal viele tausend Menschen von sozialen Bewegungen aus der ganzen Welt zusammengefunden, die seitdem den lockeren Verbund des Weltsozialforums darstellen. Das Ganze ist ein Versuch, für unsere Grundforderungen nach einer gerechteren Welt ohne Armut und Krieg einen gemeinsamen Nenner zu finden und einen weltweiten Diskussionsprozeß in Gang zu setzen. Die Unterschiede der politischen und ökonomischen Situation auf den Kontinenten hat dazu geführt, daß nun jeweils kontinentale soziale Foren stattfinden. Florenz ist der erste Versuch, die Bewegung auf europäische Probleme zu fokussieren, ohne dabei den Rest der Welt zu vergessen.

Können Sie abschätzen, wie viele Menschen am Sozialforum teilnehmen werden?

Die internationale Vorbereitungsgruppe und die Organisatoren vor Ort sind darauf eingerichtet, 20000 Gäste zu empfangen. Aus Deutschland werden etwa 1000 Menschen anreisen.

Der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi hat nichts unversucht gelassen, die Veranstaltung zu verhindern. Mit welcher Begründung?

Es gibt schon seit langem Vorstöße der Regierung, Stimmung gegen die Veranstaltung zu machen. Beispielsweise hat Berlusconi behauptet, die Kulturschätze der Stadt seien wegen möglicher Angriffe gewaltbereiter Gruppen in Gefahr. Doch dem Versuch, Angst zu schüren und Schreckensszenarien an die Wand zu malen, haben sich die lokalen Behörden entgegengestellt. Sie haben betont, daß hier eine friedliche Diskussionsveranstaltung geplant ist, auch wenn es natürlich, angesichts der drohenden Kriegsgefahr am Golf, zu einer größeren Demonstration kommen wird.

Am Dienstag hat Berlusconi während einer Parlamentsdebatte betont, daß er die Veranstaltung verbieten würde, wenn er zu entscheiden hätte.

Das hat einen heftigen Proteststurm in aller Welt ausgelöst. Nachdem es die Behörden daraufhin offenbar nicht gewagt haben, ein Verbot der Veranstaltung auszusprechen, wurden nun Teile des Schengener Abkommens außer Kraft gesetzt, um wieder verstärkt Grenzkontrollen durchführen zu können.

War es nicht auch in Genua den staatlichen Stellen zumindest anfangs gelungen, ein sehr negatives Bild der globalisierungskritischen Bewegung zu zeichnen?

Das ist so nicht ganz richtig. Über das Zusammenspiel von Polizei und agents provocateurs bestand schon am Ende der Demonstrationen in Genua Klarheit. Der berühmte Film, der die Zusammenarbeit von Polizeiagenten und der Polizeiführung dokumentiert, ist damals bereits auf der Abschlußpressekonferenz in Genua gezeigt worden. Richtig ist allerdings, daß viele Medien sich viel Zeit damit gelassen haben, über diese Hintergründe zu berichten. Was der Spiegel vor einigen Wochen in diesem Zusammenhang ganz richtig dokumentiert hat, ist mittlerweile eine ein Jahr alte Wahrheit.

Haben Sie Befürchtungen, daß es in Florenz wie während des G-8-Gipfels in Genua zur Zusammenarbeit von Polizei und agents provocateurs kommt oder Polizeikräfte aus dem Ruder laufen könnten?

Nach meinen persönlichen Erfahrungen, die ich vor Ort gemacht habe, traue ich der italienischen Polizei so ziemlich alles zu. Dennoch: Wir werden den Bürgern in Florenz und in Europa zeigen, daß die neue soziale Bewegung in Europa eine politisch starke, aber friedfertige Bewegung ist. Wir werden deutlich machen, daß wir die Menschen in Europa mit Argumenten für eine Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse gewinnen wollen.

Quelle: http://www.jungewelt.de


Der globalisierte Widerstand verlief friedlich

aus einem Artikel von Peter Linden im 'Kölner Stadt-Anzeiger' vom 11.11.2002

Befürchtungen, es könne zu einem Ausbruch der Gewalt kommen, zerschlugen sich - der Protest des „Europäischen Sozialforums" verlief friedlich.

... Noch während des durchweg friedlichen Forums hielten zudem die Polemiken der berühmten Publizistin Oriana Fallaci an, die im regierungsfreundlichen „Corriere della Sera" die Globalisierungskritiker pauschal als „elende Söldner" bezeichnet hatte und sie mit den deutschen Truppen verglich, die 1944 in Florenz Brücken gesprengt und komplette Straßenzüge verwüstet hatten. Fallaci rief ihre Mitbürger auf, „Türen und Fensterläden zu schließen, die Kinder nicht in die Schulen zu schicken", und überall ihre „Verachtung" zu zeigen. Erfolg hatte sie vornehmlich bei zahlreichen Geschäftsleuten, die sich am Samstag wahrscheinlich hohe Einnahmen entgehen ließen; jene, die öffneten und mit dem überall präsenten Schild „Florenz - Offene Stadt" um Kunden warben, konnten sich vor Andrang jedenfalls kaum retten.

Auch, wenn Berlusconi angesichts der friedfertigen Massen noch am Samstag rückwärts ruderte und verkünden ließ, seine Regierung habe schließlich die Demonstrationsfreiheit „geschützt" - den Erfolg des Forums können sich allein die Veranstalter sowie die linke Stadtregierung unter Bürgermeister Leonardo Domenici auf ihre Fahnen schreiben. Domenici sagte am Rande der Demonstration, es gebe nun wohl einige Personen, „die sich bei uns entschuldigen müssen". Von Anfang an hatte er das Forum begrüßt und den Teilnehmern sogar Briefe aushändigen lassen, die ermäßigten oder freien Eintritt in die angeblich bedrohten Museen garantierten. Das Forum selbst war ein chaotisches, aber auch ein produktives Treffen einer Bewegung, die 2001 nach dem G8-Gipfel von Genua aus dem Schattendasein trat und seither Hunderttausende mobilisiert...

Quelle: http://www.ksta.de


"A-Anti-Anticapitalista!" (Sprechchor in Florenz)

Artikel von Axel Köhler-Schnura

Beim Europäischen Sozialforum in Florenz meldete sich das Gewissen Europas mit Macht zu Wort

„Seht wie der Zug von Millionen, endlos aus Nächtigem quillt, und unser Sehnsucht Verlangen Himmel und Nacht überschwillt.“ - Die Worte dieses kampferprobten Arbeiterliedes wurden Anfang November 2002 in Florenz Realität. Sie standen als Wiedergeburt der Kämpfe gegen Unterdrückung und Ausbeutung, als Bindeglied zwischen den Kämpfen gestern und den heraufziehenden Kämpfen morgen allgegenwärtig in überwältigender greifbarer Intensität in der Luft der jahrtausendealten ehrwürdigen Kulturmetropole im Herzen der Toscana.

VertreterInnen verschiedener Gruppierungen der Sozialen und Arbeiterbewegung aus den verschiedensten Teilen Europas einigten sich auf ein Treffen, ein European Social Forum, in Florenz. Angestoßen durch einen Impuls aus Brasilien, wo sich bereits zum zweiten Mal innerhalb der letzten beiden Jahre in gleicher Weise Menschen in Porto Allegre zum World Social Forum zusammengefunden hatten. Getrieben von der gemeinsamen Sorge um die Zukunft der Menschheit und des Planeten, ausdrücklich geplant als sichtbare Alternative zur menschenverachtenden Arroganz des World Economic Forum, bei dem die mächtigsten der Konzernherren einmal jährlich in Davos/Schweiz die Optimierung der Weltprofitproduktion beraten. Gedacht als Ort der Diskussion, des Erfahrungsaustauschs und der gemeinsamen Beratung aller, die von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung betroffen sind.

Erfahrungsaustausch und gemeinsame Beratung aller, die von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung betroffen sind

Bereits die beiden Welt Sozial Foren übertrafen in der Beteiligung alle Erwartungen der ursprünglichen IdeengeberInnen. Der Wille der Menschen, der Menschheit, ihr eigenes Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, wurde spür- und fühlbar. Sachte noch, doch erkennbar für jeden, der zu sehen bereit war.

Und nun Florenz. Kaum war der Konferenzort für das Europäische Sozial Forum bekanntgegeben, brach eine beispiellose Hetze über die Stadt, über Italien und sogar über Euopa herein. Das Schreckensbild eines von terroristischen Vandalen gebrandschatzten städtischen Kleinods wurde an die Wand gemalt, die Aufhebung der Reise- und Bewegungsfreiheit gefordert, gar das komplette Verbot der Veranstaltung erörtert. Erst in der Woche vor Beginn des Sozialforums war klar, dass es wie geplant stattfindet und dass an den Grenzen Italiens zwar die im Rahmen eines geeinten Europas vor Jahren abgeschafften Passkontrollen wieder eingeführt werden, aber die Reisefreiheit als solche nicht angetastet wird.

Den Untergang von Florenz beschworen und Schußrecht für italienische Politzisten gefordert

Dennoch riefen die Reiseveranstalter ihre auf Florenz gebuchten KundInnen persönlich an, um ihnen „kostenfrei“ eine Umbuchung auf andere touristische Ziele „wegen der erwarteten Krawalle“ zu ermöglichen; die bekannte Autorin Oriana Fallaci verkündete auf der Titelseite der konservativen Corriere della Sera den „Untergang von Florenz“ und bedauerte ausdrücklich, dass die Polizei nicht schießen dürfe; an den Grenzen wurde versucht, Tausenden als „unerwünschten Personen“ die Einreise zu verweigern; in vielen Fällen scheiterte dies an der Entschlossenheit der Mitreisenden, für ca. 1.000 EU-BürgerInnen war die Reise nach Florenz jedoch in der Schweiz, in Österreich und anderswo zu Ende; in Florenz selbst vernagelten die Unternehmer die Schaufensterfronten ihrer Geschäfte, die Hotels bewirteten und versorgten Polizisten statt Touristen; die USA verhängten in Italien für ihre Staatsbüger eine Alarmstufe, die US-amerikanischen Sicherheitskräften - auch in der Florenzer Botschaft - scharfe Waffen und weiträumige Schutzmaßnahmen vorschrieb; in der Bevölkerung wuchsen aufgrund solcher Maßnahmen und der bis zuletzt andauernden Hetze und Lüge tatsächlich Angst, Furcht und Verunsicherung.

Da konnte auch die Initiative „Firenze aperta“ nur bedingt gegensteuern. In ihr arbeiteten Tausende von FlorentinerInnen zusammen, um die Ideale der Gastfreundschaft und der Weltoffenheit hochzuhalten; um Quartiere und Logistik für die Konferenz bereitzustellen, mehr als eintausend BürgerInnen nahmen privat Gäste auf, die Stadt stellte ihre gesamte Konferenz- und Messelogistik kostenfrei zur Verfügung; um die Mitbürgerinnen und die Geschäftswelt der Stadt von dem Unsinn ihrer Furcht und Angst zu befreien. Was allerdings nur teilweise gelang, wie die relativ selten im Stadtbild zu sehenden Begrüßungsplakate von „Firenze aperta“ und die nur in wenigen Fenstern hängenden weißen Tücher und „benvenuto“-Grüße zeigten. Und wie vor allem die bis oben hin vernagelten Hausfronten in der Altstadt und die komplett geschlossene „Ponte vecchia“ demonstrierte. Das Klima in der Stadt war weitgehend geprägt von der Ablehnung der Gäste und der kalten Schulter der Stadt.

Tausende von parallel laufenden Konferenzen, Seminaren und workshops zu allen brennenden und aktuellen Problemen Europas und des Planeten

Und so rollte ab Ende Oktober das Sozialforum auf Florenz zu. Erwartet wurden für den Zeitraum 6. bis 10.11. ca. 20.000 TeilnehmerInnen an den Tausenden von parallel laufenden Konferenzen, Seminaren und workshops zu allen brennenden und aktuellen Problemen Europas und des Planeten, an den Theater-, Sanges- und Kulturspektakeln sowie den Ständen der großen Messe der politischen Bewegungen Europas. Manchmal schwankte die Zahl nach unten, manchmal nach oben. In manchen Ländern gab es nationale Vorbereitungsgruppen, so auch in Deutschland. In anderen gab es gar keine organisatorischen Zusammenhalt, jeder reiste für sich alleine. Niemand jedoch wusste am 6. November, wie viele Menschen sich tatsächlich von woher auf den Weg nach Florenz gemacht hatten. Doch am 7. November gegen Mittag waren alle 33.000 gedruckten Karten für Gäste und Delegierte ausverkauft. Bereits am zweiten Tag des Forums waren damit alle Erwartungen gesprengt. Und es war klar, es sind nicht 20.000 BesucherInnen, sondern die doppelte bis dreifache Zahl.

Florenz füllte sich unaufhaltsam mit einem Völkergemisch, das nicht mit blassiertem Touristengehabe durch die Gassen wandelte, sondern mit fröhlich-ernster Interessiertheit an Diskussion und Problemlösung zu den zentralen Themen der Gegenwart durch die Stadt wuselte. Kein Florentiner, der nicht alsbald höchstpersönlich einem von jenen, vor denen auf allen Kanaälen in übelster Art und Weise gewarnt worden war, gegenüberstand. Keine Florentinerin, die nicht alsbald von einem radebrechenden Gast überwältigend charmant nach dem Weg zu einer der unzähligen Veranstaltungen gefragt wurde. Und so wandelte sich nach und nach Mißtrauen in Neugier. Zumal die BewohnerInnen im Themenangebot der mittlerweile vergriffenen und in hoher Auflage neu aufgelegten und in der ganzen Stadt verkauften Programmzeitung ihre Sorgen und Nöte wiederfanden: Privatisierung, Entlassungen, Armut, Klimakatastrophe und immer wieder Krieg, Krieg, Krieg.

Fröhlich-ernste Interessiertheit an Diskussion und Problemlösung zu den zentralen Themen der Gegenwart

Und selbst die vernagelte Geschäftswelt begann sich zu fragen, ob es nicht besser sei, die Türen wieder zu öffnen und an Versorgung der Massen mit Lebensmitteln, dem Tagesbedarf und durchaus auch mit Postkarten und Mode zu verdienen? Am Freitag, dem Tag vor der als Untergang von Florenz verteufelten Großdemonstration hatte der Charme des Völkergemischs und insbesondere die unbekümmerte Leichtigkeit der die Stadt überflutenden Jugend das Klima derart gewandelt, dass ein Teil der Kaufmannschaft öffentlich verkündete, die Geschäfte wieder zu öffnen.

Zugleich wurde den OrganisatorInnen des Sozial Forums durch immer neue Meldungen von Sonderzügen und Bussen nach und nach klar, dass die für den nächsten Tag um 15 Uhr angekündigte Demonstrantion groß und größer wurde: 50.000, 100.000, 200.000 TeilnehmerInnen - stündlich wuchs die Zahl und erlangte gigantische Bedeutung angesichts der 381.000 EinwohnerInnen der Stadt.

Vorgesehen war, dass die offiziellen Delegationen aus ganz Europa die Spitze des Demonstrationszuges stellen sollten. Ab Freitagmittag jedoch verschob sich die Uhrzeit, wann die Delegationen sich zur Sicherung ihrer Plätze aufstellen sollten, permanent: 14 Uhr, 13 Uhr, 12 Uhr, 11 Uhr. Am Samstagmorgen schließlich die Information, dass um zehn Uhr der Platz eingenommen sein musste. Doch bereits um 9 Uhr war der Platz überfüllt und so ging es denn fort, alle 10 bis 15 Minuten musste über fünf Stunden hinweg die Spitze der Demonstration immer weiter vorverlegt werden, damit unendliche Menschenströme weiter hinten in den Zug geschleust werden konnten. Ab 13 Uhr die Nachricht, dass weit mehr als eine halbe Million Menschen, also mehr Menschen als die gesamte Stadtbevölkerung, sich eingereiht hatte. Und als sich um 15 Uhr dann schließlich der Zug in Bewegung setzte, wußte niemand mehr, waren es 1 Million oder anderthalb oder wieviele?

Zehnttausende applaudierende FlorentinnerInnen säumten die Route der demonstrierenden Millionenmassen

Die Frage nach der exakten Größe der Demonstration lässt sich schon alleine deshalb nicht beantworten, weil wie bei einem Narrenzug in den karnevalistischen Hochburgen Deutschlands zehnttausende FlorentinnerInnen die Route der demonstrierenden Millionenmassen säumten und zunächst höflich, dann enthusiastisch applaudierten, um sich schließlich dem Grundkonsens des Marsches, der Sehnsucht nach Frieden und der Wut auf den Kapitalismus hinzugeben und sich mit den DemonstrantInnen zu verbrüdern und zu verschwestern. Die ZuschauerInnen fielen zu Tausenden und ohne Ausnahmen mit ein in die Sprechchöre des Zuges, die Fenster öffneten sich, die Balkone, nicht nur in den Straßen des Zuges, sondern weit in alle Nebenstraßen hinein, wurden von den BewohnerInnen - soweit sie sich nicht auf den Gehsteigen befanden - besetzt, weiße Laken und schnell gemalte Schilder mit den Aufschriften „Pace“ (Frieden), „No alla guerra“ (Nein zum Krieg) oder „anticapitalista“ wurden den demonstrierenden Massen entgegengehalten; Zeitungen wurden in kleine Stücke geschnitten und als Zustimmungsbekundung aus den oberen Stockwerken über den Zug geschüttet; Kaffee, Wasser, alles was der Kühlscharan hergab, wurde verteilt. Innerhalb weniger Stunden gab Florenz die aufgrund wochen- und monatelanger Medienhetze gegen die „Gewalttäter“ und „Terroristen“ des Europäischen Sozialforums verbreitete Skepsis und auch Angst auf und begrüßte das soziale Gewissen Europas in einer unbeschreiblichen Herzlichkeit. Gleichgesinntheit brach sich mit elementarer Gewalt Bahn. Die Demonstration skandierte „Grazie Firenze“, die Florentiner skandierten „Grazie ESF“.

Zugleich wurde die Gewißheit materiell, dass unter der Oberfläche die Macht des Volkes schlummert. Wie der Blitz aus heiterem Himmel wurde deutlich, die Herrschenden haben das Volk nicht im Griff. Ein Volk wurde Tatsache, das mitten in einer europäischen Großstadt massenhaft zu bester Sendezeit am Samstagnachmittag den Fernseher links liegen lässt, das Fenster öffnet und spontan mit den Hunderttausenden auf der Straße skandiert: „Frieden, Freiheit, Revolution! - El pueblo unido no massera vencido!“, in die Internationale einfällt und die Faust trotzig drohend gen Himmel reckt.

Erhebend, dass trotz aller vorhandenen und durchaus berechtigten Wut die Unversehrtheit des Weltkulturerbes geachtet und gewahrt wurde

Erhebend, dass die aus allen Nähten platzenden Demonstrationsmassen trotz aller vorhandenen und durchaus auch berechtigten Wut auf das Kapital und seine Statthalter in aller Selbstverständlichkeit das Ansehen und die Unversehrtheit des Weltkulturerbes in Florenz achteten und wahrten. Ohne jede Ermahnung, ohne besondere Anstrengung. Wo die Herrschenden keine Minute zögern, um Schätze des Altertums in Grund und Boden zu bomben oder auf dem Grund von Stauseen verschwinden zu lassen oder unter Mega-Projekten zuzubetonieren, lassen sich zurecht auf das kapitalistische System zornige und wütende Menschenmassen zu keinerlei Übergriffen hinreißen. Nicht ein gesprühter Spruch, nicht ein Farbbeutel, ja nicht einmal eine Attacke auf das altehrwürdige, von Mc Donalds, Benetton und anderen Konzernen verschandelte Gebäude. Gleichzeitig jedoch alle Planken an vernagelten Geschäften beschriftet mit Sprüchen wie „Mente chiuso“ (Gehirn geschlossen). Souverän wurde der Gegner Lügen gestraft und in die Ecke gestellt.

Doch damit das Kapital nicht auf falsche Gedanken kommt angesichts durch und durch friedlicher DemonstrantInnen, wurde im Rahmen des Sozialforums auch gezeigt, dass es anders geht: Die Fabrik von Caterpillar wurde im Rahmen des Sozialforums gestürmt und die Maschinen mit roter Farbe besudelt, da dieser US-Konzern das schwere Gerät liefert, mit dem die Israelis die palästinensischen Wohngebiete niederwalzen. Und vor der US-amerikanischen Luftwaffenbasis in Pisa fand bereits zu Beginn des Sozialforums eine mächtige Demonstration mit rund 50.000 TeilnehmerInnen statt.

Florenz im November 2002 einte jung und alt, ArbeiterInnen und StudentInnen, Frau und Mann in der Wut auf den Kapitalismus, in der Sehnsucht nach Frieden

Florenz im November 2002 einte jung und alt, ArbeiterInnen und StudentInnen, Frau und Mann. Alle füllten sie dichtgedrängt zu Massen die Straßen. Sechstausend Hafenarbeiter stellten den Kern des Ordnerdienstes für die Demonstration. Mächtig die Blöcke der FIAT-ArbeiterInnen, die den Generalstreik gegen Massenentlassungen forderten. Dazwischen die Bediensteten der Gesundheitsdienste und selbst Hochschulprofessoren. Und immer wieder Jugend, Jugend, Jugend - arbeitende, lernende und studierende Jugend. Geeint in der bitteren Enttäuschung über den endlosen Verrat demokratischer Versprechungen; geeint im Streben nach Frieden und Gerechtigkeit; geeint in der Wut über die Schamlosigkeit und Brutalität des kapitalistischen Systems; geeint in der Sehnsucht nach einer besseren und menschlicheren Zukunft, frei von Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung.

Und Deutschland? Wo waren die Fahnen der auf ihre antikapitalistischen Kampftraditionen so stolzen deutschen Gewerkschaften? Wo waren die Belegschaften der großen deutschen Konzerne, wo die politische Linke Deutschlands, wo die zahllosen deutschen Nichtregierungsorganisationen? Aus Frankreich, Griechenland, Spanien, Großbritannien - ja selbst aus kleineren Ländern wie Portugal waren große starke Blöcke der Linksbewegungen, der Gewerkschaften, der Belegschaften und der sozialen Bewegungen vor Ort. Auch wenn die deutschen TeilnehmerInnen insgesamt mehrere tausend Personen ausmachten, so war diese Teilnahme gemessen an der Beteiligung aus anderen Ländern doch eher erbärmlich ärmlich. Die politische Linke, die Arbeiter- und soziale Bewegung unseres Landes haben Florenz weitgehend verpennt oder gar aktiv ignoriert. Daran ändert auch die Beteiligung einzelner GewerkschafterInnen, von Attac, Linksruck und einzelnen anderen nichts. Der ver.di-Vorsitzende Bsirske hatte zwar einen Redeplatz in einer zentralen Konferenz in Florenz reklamiert, dann aber aus „bedeutsamen Grund“ abgesagt. Eine offiziell legitimierte Vertretung schickte er weder zu seinem Termin noch zur Demonstration. Vorbereitung auf den nächsten Kirchen- und Gewerkschaftstag scheint hierzulande bedeutsamer zu sein.

Damit wird die Bewegung der Sozialforen bereits zum Spielball rechter Sozialdemokratie, insbesondere der deutschen

Damit wird die Bewegung der Sozialforen bereits zum Spielball rechter Sozialdemokratie, insbesondere der deutschen. Diese mobilisiert Personal, Kraft und Geld, um in Welt- und Europäischem Sozial Forum die Schaltstellen und die Themen zu besetzen und den „Aufbruch gegen den Kapitalismus“ in einen gegen „den liberalen Kapitalismus“ zu wandeln. Nicht das System soll abgeschafft, sondern innerhalb des Systems soll ein Wandel herbeigeführt werden. Immerhin haben die mächtigen sozialdemokratischen deutschen Gewerkschaften mit ihrem Einfluss auf die europäischen und internationalen gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse einen nach den diesjährigen Generalstreiks in Spanien und Italien für Oktober dieses Jahres ins Gespräch gebrachten europaweiten Streiktag ausgehebelt. Derart besteht die Gefahr, dass der Bewegung bereits im Stadium der Entstehung die Spitze geraubt wird und dass Frustration an die Stelle von Hoffnung tritt. Für die Jugend, die in dieser Bewegung erstmals massenhaft politisch aktiv wird, wäre dies eine verheerende Erfahrung.

Einer der Drahtzieher hinter allem neben Tony Blair unser „Genosse der Bosse“, Bundeskanzler Schröder. Er war es, der noch in Nizza „härtestes Vorgehen“ gegen Globalisierungsgegner forderte, der in Genua die Gewaltexzesse der faschistoiden Berlusconi-Polizei incl. des Mordes an einem Demonstranten offen absegnete und selbst Mitgliedern seiner eigenen Partei die Solidarität bei der verzweifelten Suche nach ihren Kindern und Angehörigen in italienischen Gefängnissen verweigerte. Doch bereits einige Wochen nach Genua der deutliche Wandel: Die sozialdemokratischen Wölfe fressen Kreide und biedern sich an, um den von ihnen gedeckten und sogar offen geförderten neoliberalen Kurs nicht zu gefährden. Angesichts des immer realer drohenden Schulterschlusses von Gewerkschaften und Antiglobalisierungsbewegungen der offensichtliche Entschluss, den GegnerInnen der kapitalistischen Globalisierung entgegenzugehen, sie zu spalten und sie durch verdeckte Steuerung auf Schmusekurs zu bringen.

Florenz 2002 ist ein Beginn, weit, weit entfernt vom Ziel - ein schwieriger und komplizierter Weg liegt vor der Bewegung der Sozial Foren

So zeigt sich: Florenz 2002 ist ein Beginn, weit, weit entfernt vom Ziel. Ein schwieriger und komplizierter Weg liegt vor der Bewegung der Sozial Foren. Alles ist noch offen, nichts ist entschieden. Viele Kräfte, insbesondere die reformistischen, versuchen Schlüsselstellungen innerhalb der Bewegung zu erobern.

Dennoch ist Florenz ermutigend in einer für die letzten Jahrzehnte unbekannter Weise. In Seattle, Toronto und Genua zeigte die Bewegung gegen kapitalistische Globalisierung ihre Kampfkraft in der direkten Auseinandersetzung mit der hochgerüsteten Soldadeska des Kapitals; in Davos ihre Kreativität und Intelligenz; in Florenz ihre Gelassen- und Erhabenheit, ihre Mobilisierungsfähigkeit. Florenz könnte durchaus das sanfte Vorbeben künftiger gewaltiger Eruptionen sein. Entsprechend könnte es gut sein, das die Kräfte, die sich mit dem System arrangiert und in der herrschenden Macht gut eingerichtet haben, bis weit in die Sozialdemokratie hinein, sich von einer gewaltigen Kraft beiseite gespült und am Rande zurückgelassen wiederfinden. Florenz jedenfalls öffnete diese Vision.

Das Zusammengehen von Sozialer und Arbeiterbewegung kann die Macht der Konzerne tatsächlich ins Wanken bringen

Für die Herrschenden ist Florenz - ebenso wie Seattle oder Genua - Anlass zu ernster Besorgnis. In Florenz bestätigte sich erneut, was in Seattle erstmals deutlich wurde: Nachdem Soziale und Arbeiterbewegung sich in den 70er Jahren offen befehdeten, sich in den 80er/90er Jahren beschnupperten, droht jetzt tatsächlich das Zusammengehen, das seit Jahrzehnten beschworene breite Bündnis. Ein Akt, der die Macht der Konzerne tatsächlich ins Wanken bringen kann. Zumal die treibende Kraft der Jugend hinter allem steht.

Für alle an gesellschaftlichem Fortschritt interessierten Kräfte ergeben sich entsprechend drei Aufgabenstellungen:
  • Die breitestmöglichen Mobilisierung aller vom Kapitalismus enttäuschten und ausgebeuteten Kräfte muss forciert werden. Dazu gehören vor allem die Gewerkschaften, die politische Linke und die Sozialen Bewegungen.
  • Die Formel von der „anderen Welt, die möglich ist“ muss glaubwürdig und überzeugend gefüllt werden; untauglich aufgrund Selbstdiskreditierung sind unkritische Neuaufgüsse des „realen Sozialismus“ und auch das „chinesische Modell“.
  • Die organisatorische Durchschlagskraft der Bewegung muss entwickelt werden durch Strukturen, die breitestmögliche demokratische Einbeziehung bei gleichzeitiger Benennung klarer Ziele und Schritte gewährleisten.
Es geht also nicht um die Frage, die derzeit auch die Kommunistischen Parteien diskutieren, ob die Arbeiterbewegung sich auf die Sozialen Bewegungen orientieren soll oder nicht? Es geht vielmehr darum, dass die Arbeiterbewegung klar gegen die Transnationalen Konzerne Front beziehen muss. Und dann wird sie automatisch die Sozialen Bewegungen an ihrer Seite finden.

Resist Corporate Dictatorship! - Widerstand gegen die Diktatur der Konzerne!
Fight Corporate Power! - Brecht die Macht der Konzerne!



Links

ESF - Europäisches Sozialforum