Algermissen, 16.11.2002, "Deutsche Realitäten angreifen. Rassismus bekämpfen"
Demonstration gegen den Rassismus in einem kleinen Ort bei Hildesheim
Deutsche Realitäten angreifen. Rassismus bekämpfen
Aufruf der Antifaschistischen Aktion Hannover zur Demonstration (Stand 13.11.02)
Algermissen. Ein ganz normaler deutscher Ort zwischen Hannover und Hildesheim.
Ein Ort im Grünen und eine ganz normaler Ort in Deutschland. Auf den Straßen von Algermissen herrscht rassistische "Betriebssamkeit". Immer wenn gerade mal ein sogenanntes Volksfest auf dem Plan steht, werden rassistische Stammtisch Parolen in die blutige Tat umgesetzt. So wurde das örtliche Asylheim mehrmals von einem rassistisch aufgeheizten Mob angegriffen.
Am Samstag dem 31. August wurde eine Gruppe von vier MigrantInnen von einer Horde von etwa 20 deutschen Jugendlichen, darunter vier erkennbare Nazis, auf dem Schützenfest angegriffen. Die Flüchtlinge wurden umzingelt, beschimpft und angepöbelt. Eine gaffende Menge sah diesem Schauspiel zu, ohne einzugreifen. Die Flüchtlinge flohen zurück in ihre Unterkunft, wurden jedoch von der Gruppe verfolgt und mehrfach geschlagen. Ein Flüchtling erlitt eine Verletzung am Arm, ein zweiter eine Platzwunde am Hinterkopf, die im Krankenhaus genäht werden musste. Die zu Hilfe gerufene Polizei schützte die Flüchtlinge vor weiteren Übergriffen, nahm jedoch keine Personalien der Täter auf. Lediglich die Personalien der betroffenen Flüchtlinge wurden registriert. Danach verließ die Polizei zunächst den Ort.
Nachdem die Polizei weg war, kamen die Täter zurück und zerschlugen mehrere Scheiben der Unterkunft. Ein Flüchtling wurde durch einen Glassplitter im Auge getroffen. Von der erneut gerufenen Polizei verlangten die Bewohner nunmehr ultimativ eine Unterbringung in einer anderen Unterkunft, was von der Polizei jedoch abgelehnt wurde. Wenigstens wurde das Gebäude über Nacht von der Polizei bewacht.
Am Sonntagabend dem 01. September 02 überfielen gegen 21 Uhr etwa 50, teils mit Eisenstangen bewaffnete Schützenfestbesucher erneut die Unterkunft. Diesmal handelte es sich nicht nur um Jugendliche, sondern auch um erwachsene DorfbewohnerInnen, die lauthals rassistische Parolen grölten. Einige BürgerInnen drangen in die – nicht abschließbare - Flüchtlingsunterkunft ein, zertrümmerten eine Zwischentür und versuchten, auch die abgeschlossenen Zimmertüren aufzubrechen, hinter die sich die in Angst und Schrecken versetzten Bewohner geflüchtet hatten. Auch als die Polizei eintraf, ließen sie nicht von ihrem Tun ab, sondern schlugen weiter gegen die Tür. Sie blieben mehr als eine Stunde im Haus. Die Polizei sah sich nicht in der Lage, zu den um Hilfe rufende Flüchtlingen in den ersten Stock zu kommen. Aus der Menge wurde die Polizei aufgefordert zu verschwinden und angegriffen, eine Person wurde daraufhin festgenommen. Erst nach mehr als einer Stunde verschwanden die Angreifer.
Doch dieser pogromartige Überfall war kein Einzelfall. Im Frühjahr 2002 wurde ein Flüchtling vor seinem Zimmer ins Gesicht geschlagen und erstattete Anzeige gegen den Täter. Vor drei Monaten wurden sämtliche Wände innerhalb der Flüchtlingsunterkunft mit rassistischen und faschistischen Parolen sowie Hakenkreuzen besprüht, welche die Gemeinde beseitigen ließ, offenbar ohne Strafanzeige zu stellen. Im Sommer 2002 wurden tamilische Flüchtlinge von einem Mann, der einen in der Flüchtlingsunterkunft lebenden Obdachlosen besuchte, mit einer Gaspistole aufgefordert, 'ins Haus' zu gehen. Ständig hat es nach Aussage der tamilischen Flüchtlinge Drohungen und Beschimpfungen durch Besucher dieses Obdachlosen gegeben, die offensichtlich ungehindert in der Unterkunft ein- und ausgehen konnten.
Die 'Stadtoberen' von Algermissen zeigen nun ihrerseits 'Toleranz' gegenüber den Flüchtlingen, indem sie ihren BürgerInnen mit der Parole 'Ausländer raus' Recht geben und ihrerseits 'das Problem' aus dem Ortskern entfernen möchte. Wörtlich: 'Um die Situation, falls sie noch so sein sollte, zu entschärfen, wird beabsichtigt, diesen Personenkreis dezentral im Gemeindegebiet mit Wohnraum zu versorgen.' Ein Mitarbeiter der 'Ausländerbehörde' kommentierte die Überfälle wie folgt: 'die Betroffenen könnten ja zurück nach Sri Lanka gehen' Algermissen, eine ganz normaler deutscher Ort im Grünen.
Rassismus fällt nicht vom Himmel, sondern kommt aus der Mitte der Gesellschaft
Rassismus fällt nicht vom Himmel, sondern ist ein fester und gewollter Bestandteil dieser Gesellschaft. Mit Kampagnen wie "Kinder statt Inder", BILD-Zeitungsartikeln à la "Der schlimmste und der ärmste Asylant" und der endlosen Debatte um ein "Zuwanderungsgesetz" sowie der Stimmungsmache konservativer und faschistischer Kreise wird ein rassistisches Klima gefördert, in dem es möglich ist, vorhandene Ressentiments blutig umzusetzen.
Das "neue Deutschland" im Zeichen des Rassismus tat seine ersten Schritte in Rostock, Hoyerswerda, Dolgenbrodt, Wurzen, manifestiert sich jetzt auch in entschlackter Form in Algermissen. Der deutsche Mob setzt die bürgerliche Definition der 'Schicksalsgemeinschaft aller Deutschen' durch rassistische Vertreibung beflissen in die Tat um. Dabei erweisen sich organisierte Neonazis und rassistische Schläger als Handlanger des deutschen Biedermanns.
Der rassistische Terror hat heute einen anderen Hintergrund als vor zehn Jahren. Rassismus besteht aus Ressentiment plus Rentabilitätserwägung. In nationalem Übermut konzentrierten sich die Konservativen in den neunziger Jahren auf die Beförderung des Ressentiments - vor allem gegen Flüchtlinge. Dabei gingen sie allerdings so weit, dass deren Ausbeutung erheblich erschwert wurde. Selbst CSU-Funktionäre fingen an, über eben jenen Mangel an Billiglöhnern in ihren Hotelküchen zu lamentieren, den sie durch Massenabschiebungen selbst verursacht hatten. Rassismus wurde zum kostspieligen Vergnügen. Rot-Grün hingegen forciert den Rentabilitätsaspekt und betont die Ausnutzbarkeit der Einwanderer. Hier preschte die Regierung allerdings mit der Green-Card-Regelung so weit vor, dass sich nunmehr der völkische Pöbel beleidigt fühlte und die rassistische Balance selbsttätig wieder herzustellen versucht. Gegenwärtig übernimmt also der Mob das Ressentiment und die Elite die Rendite. Frei nach dem Motto: getrennt schlagen, vereint diskriminieren.
Auch wenn die Interessen von Elite und Mob sich zuweilen widersprechen - in der Umsetzung rassistischer Ideologie ergänzen sich beide prächtig. Die neue globale Weltordnung und lokale faschistoide Schläger sind somit nur zwei Seiten derselben Medaille. Die hiesigen Völkischen müssen daher als höhnische Karikaturen der neoliberalen Utopien der Neuen Mitte begriffen werden und als deren konsequente Vollstrecker. Was sie seit Jahren brutal exekutieren, ist nichts anderes als die eigentliche Botschaft des derzeit überall verbreiteten Toleranzgefasels. Dessen Tenor ist, dass blanker Mord wohl etwas überzogen sei und den Standort schädige.
Blanker Hohn also, wenn sich eine rot/grüne Regierung, als 'Weltoffen' und 'Tolerant' präsentiert. Geht es doch letztlich darum, nur 'verwertbare' und 'nützliche' Arbeitskräfte zu rekrutieren. Letztendlich dreht es sich um die Verwertung des Menschen im Kapitalismus und da stehen nun mal die MigrantInnen mit an letzter Stelle.
Wenn nun der oder die Vorurteilsbeladene annehmen darf, daß die Obrigkeit genauso denkt wie er/sie oder dass alle irgendwie so denken wie man selbst, verdichtet sich das Vorurteil zur Gewissheit. In diesem Kontext wirken Staat und Gesellschaft als Manipulatoren der Gewaltentladung.
Nicht zu vergessen ist auch, über Fluchtursachen und Migration nachzudenken. Im Zeichen marktstrategischer kapitalistischer Globalisierung, deren Auswirkung die Verreicherung der 1. Welt und die Verarmung der sogenannten 3. Welt ist, wird überhaupt Migration produziert. Denn wo es Krieg gibt, wo der Hunger und Elend einen in den Wahnsinn treiben, ist Flucht oder Emigration die einzige Möglichkeit zum Überleben!
Kein Anfang vom Ende
Unsere Absicht ist es nicht, Algermissen zu rehabilitieren . Wir wollen keinen Zirkus des sogenannten Aufstand der Anständigen veranstalten. Es geht uns vielmehr darum, Rassismus als eine Form der Widerwärtigkeit der herrschenden Politik zu entlarven. Es wird noch hunderte Orte wie Algermissen geben, in denen ein rassistischer Mob zuschlagen kann und Erfüllungsgehilfe des völkischen Mainstreams sein wird. Grundsätzlich bedeutet dies, den Kapitalismus im Ganzen, als eine mörderische Form der Unterdrückung, zu entlarven.
Realitätsnah, ohne die Perspektive einer sozialen Revolution, bedeutet dies aber auch, sich mit den Flüchtlingen zu solidarisieren und sie vor dem Mob von StammtischtäterInnen, Nazis und Stadt zu beschützen. Diese Demonstration soll nicht der Anfang vom Ende sein, sondern vielmehr der Anfang vom Aufbau progressiver Kräfte. Denn nur durch die Stärkung ländlicher antirassistischer und antifaschistischer Strukturen ist zumindest ein gewisser Schutz vor Pogromen gewahrt.
Ebenfalls soll die Stadt Algermissen zu einem deutlichen Schutz der MigrantInnen gezwungen werden, da wir sonst die Stadt mit einer Vielzahl von Aktionen übersehen werden.
Antirassismus muss praktisch werden!
Für den Aufbau antifaschistischer Strukturen!
Überregionale Demonstration in Algermissen (bei Hildesheim)
Samstag 16. November 2002, 15.00 Uhr, Bahnhof
Aufrufende Gruppen:
Antifaschistische Aktion Hannover [AAH], Schwarze Strolche/Jugendantifa, Unabhängige Antifa Wunstorf, Antifaschistisches Plenum Braunschweig, Jugend Antifa Aktion Braunschweig, Autonome Antifa (M) Göttingen, Antifa Wennigsen, Aktionsbündnis "Langenhagener Gegen Rechte Gewalt", Autonome Antifa Gruppe Bremen (AAGB), Antifaschistisches Komitee (AK) Bremen
Die Demonstration wird unterstützt durch:
Gruppe M.A.D. Hannover, Kooperative Flüchtlings Solidarität (KFS), VVN-BdA Hannover, PDS Region Hannover, Antifaschistische Aktion Lüneburg/Uelzen, Antifaschistische Aktion Hamburg/Harburg, Autonome Antifa Bad Nenndorf, yafago Erfurt, Autonome Antifa Südharz, Autonome Jugend Antifa Kassel, Autonome Antifa Kassel, Jugendantifa Franken, Sprühspaßjugend-Braunschweig, Linksruck Hannover, Antifaschistische Aktion Hameln-Pyrmont, Antifaschistische Jugend Gruppe Leverkusen, Altmark Antifa, Antifaschistische Aktion LEVerkusen - [AALEV], [`solid] Hannover, Sozialistische Jugend-Die Falken- Kreisverband Wolfsburg, Antifa-AG der TU Braunschweig, Sozialistische Jugend-Die Falken, Kreisverband Braunschweig, Landesverband der VVN-BdA Niedersachsen, AG für Internationale Solidarität Wolfsburg, Frank Laubenburg, Mitglied des Rates der Stadt Düsseldorf (PDS), AAL - Autonome Antifa Lüdenscheid
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Antifaschistische Aktion Hannover