Berlin, 30.5.2003, Prof. Franz Hinkelammert, Costa Rica, beim ökumenischen Kirchentag auf Einladung der Rosa-Luxemburg-StiftungBilder

Der Angriff auf die Macht über die Welt

Vortrag von Prof. Franz Hinkelammert am 30.5.2003 auf dem ökumenischen Krichentag in Berlin

Wir erleben einen Angriff, der es zum Ziel hat, die Herrschaft über die Welt zu erlangen. Ich möchte im folgenden aber nicht nur über diesen Angriff sprechen, sondern ich möchte untersuchen, inwieweit das gesamte 20. Jahrhundert von Angriffen dieser Art geprägt gewesen ist. Sie sind in den gegenwärtigen Griff zur Macht eingemündet, und dieser ist der stärkste von allen.

Die Kämpfe um die Herrschaft über die Welt und die Angriffe, um die Weltherrschaft zu erlangen, begannen zweifellos mit dem 20. Jahrhundert. Und sie verschärften sich im Verlauf dieses Jahrhunderts.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beherrschten die Mächte Europas und der USA die Welt. Sie war bereits unter ihnen aufgeteilt. Es gibt keine nicht eroberten und nicht vom Zentrum aus beherrschten Länder mehr. Um die Eroberung fortsetzen zu können, mussten sie sich gegenseitig angreifen. Damit entsteht als Ziel, eine Macht zu schaffen, die allen anderen Mächten der Welt überlegen sein sollte und die die Herrschaft über die gesamte Welt übernimmt.

So kam es zu den Weltkriegen und zum Kalten Krieg. Den ersten großen Angriff auf die Macht über die Welt versuchte das Nazi-Deutschland mit dem 2. Weltkrieg durchzuführen. Es war ein illusorischer Angriff, aber er zeigt die Agressivität und die Zerstörungskraft, die so einen Angriff ausmachen.

Nach dem Kalten Krieg konstituiert sich eine mehrstaatliche Welt mit einer Supermacht, die ein “primus inter pares" ist: die “Erste unter Gleichen". Aber die Supermacht akzeptiert diesen Platz nicht. Mit der Präsidentschaft von Bush begann sie den Angriff, um die Herrschaft über die Welt zu erobern.

Noch während des Kalten Krieges ist so ein endgültiger Angriff unmöglich. Der Grund liegt in der atomaren Bedrohung und dem gegenseitigen Zerstörungspotential. Aber schon am Anfang der im Aufstieg befindlichen Präsidentschaft von Reagan war deutlich, dass sich der historische Sozialismus in einer Krise befand. In diesem Zusammenhang entsteht in den USA eine neue Ideologie des Angriffs, um die Weltherrschaft zu erobern. Aber obwohl man ihn vorbereitete, konnte man ihn angesichts der Macht der Sowjetunion noch nicht verwirklichen.

Der gegenwärtige Griff zur Macht über die Welt.

Mit Beginn der Präsidentschaft von Bush begann man dann von Neuem, diesen Angriff vorzubereiten: den Angriff, um die Macht über die ganze Welt zu bekommen. Der Anstoss dazu kommt von den “Falken" der US-amerikanischen Gesellschaft, die in enger Beziehung zum American Enterprise Institute (der Zentrale der US-amerikanischen Konzerne) stehen, und der gegenwärtige Präsident Bush gesellte sich zu ihnen, der eher die Funktion einer Marionette zu erfüllen scheint.

Nach dem Versuch des Nazi-Deutschlands handelt es sich hiermit um den zweiten großen Versuch, die Weltmacht an sich zu reißen. Diesmal ist er aber nicht illusorisch, wie es der Versuch der Nazis gewesen ist. Statt dessen gründet sich der Angriff auf eine militärische Macht, die größer ist als die Macht aller Länder der Welt zusammen. Das bedeutet, dass die militärische Macht schon vorhanden ist - fehlt noch eine neue Wirtschafts- und Finanzmacht, die sie stützt.

Begonnen haben diesen Angriff die USA. Deshalb geht es nicht einfach um das Öl des Iraks - obwohl es eine Rolle spielt. Aber das Öl kann man kaufen, und die Erdölländer verkaufen es auch. In Wirklichkeit geht es um die wirtschaftliche und finanzielle Macht über die Welt; das Öl ist lediglich einer der Schlüsselfaktoren für diese Herrschaft. Die USA wollen nicht mehr “Erste unter Gleichen", sondern “Herren über Beherrschte" sein.

Die Notwendigkeit eines Feindbildes.

Für den Angriff zur Eroberung der Macht über die Welt braucht man aber einen Feind, der in der ganzen Welt präsent ist, und der den Angreifer bedroht. Der Angreifer muss, um sich gegen diesen Feind zu verteidigen, die Macht über die ganze Welt ergreifen. Dieses Szenario wird als Weltverschwörung konstruiert. Die konstruierte Weltverschwörung zwingt denjenigen, der die Welt erobern will, dazu, tatsächlich die Macht über die Welt zu übernehmen. Aber den Feind, der den Angreifer bedroht, gibt es in Wirklichkeit nicht. Deshalb muss man ihn erfinden. Und man erfindet ein Monster der Weltverschwörung. Dieses Monster zwingt einen dann dazu, die ganze Welt zu erobern, um sich somit von ihm zu befreien. Und es ist derart furchterregend, dass man nur gegen es kämpfen kann, wenn man sich selbst zum Monster macht.

So werden die Kämpfe um die Weltherrschaft von Weltverschwörungen begleitet, gegen die man kämpft. Und aus diesem Grund beginnt man mit Ende des 19. Jahrhunderts, von Weltverschwörungen zu reden. Jeder Versuch zur Eroberung der Weltherrschaft schafft sich eine eigene Weltverschwörungstheorie. Das begann mit der Erfindung der Jüdischen Weltverschwörung. Im Namen des Kampfes gegen sie versuchte das Nazi-Deutschland, die Weltherrschaft zu übernehmen. Im Stalinismus folgte die Erfindung der trotzkistischen Weltverschwörung - auch wenn diese keine wirkliche Weltverschwörung sein sollte. Die nächste Weltverschwörung schafft man dann im Kalten Krieg. Es ist die Kommunistische Weltverschwörung, die ihre schärfste Ausarbeitung in der Zeit Reagans bekam. Reagan erfindet das “Reich des Bösen", das vom Kreml aus gesteuert wird und dem gegenüber sich die USA als das milenio erhebt: als “die Stadt, die von den Hügeln erstrahlt", in Anspielung auf das milenio der Offenbarung.

Heute schließt daran die terroristische Weltverschwörung an, die von der Regierung Bush erfunden wurde. Wie die anderen ist sie tatsächlich eine Erfindung, auch wenn viele Menschen an sie glauben. Sie basiert auf den Attentaten von New York, so wie das Nazi-Regime auf dem Reichstagsbrand aufbaute. Mit Hilfe dieser Fiktion erreicht man eine unmittelbare Wirkung , die dazu dient, in der Bevölkerung die Angst vor dieser Weltverschwörung zu schüren. Ist die Angst da, beginnt man dann mit dem Angriff zur Eroberung der Weltherrschaft, um die dunklen Kräfte, die weltweit agieren, unter Kontrolle zu bringen. Aber auch hier sind Verschwörung und die Existenz dunkler Kräfte reine Erfindung. Im Fall New York weiss man immer noch nicht, wer wirklich die Verantwortlichen waren. Und in den anderthalb Jahren danach hat es weder in den USA noch in Europa noch in Japan einen Anschlag gegeben. Es gibt keinen Grund, um an die Existenz irgendeiner terroristischen Weltorganisation zu glauben, die zur Bedrohung der Menschheit fähig wäre. Es gibt zwar terroristische Gruppen der verschiedensten Art, aber nichts deutet auf so eine Weltverschwörung, wie sie propagiert wird, hin.

Von der Weltverschwörung zur Verteufelung.

Hinter diesen Weltverschwörungen entwickelt man immer einen Teufel, der sie organisiert. Im Fall der Jüdischen Weltverschwörung war der Teufel “Luzifer", den man stürzen und in die Hölle schicken musste. In der Zeit Reagans war es das “Reich des Bösen", das man genausogut als “Reich des Teufels" übersetzen kann. Bush sieht hinter seinen erfundenen Terroristen und ihrer “Achse des Bösen" das “Gesicht des Teufels" (evil's face), und ganz besonders sieht er es im Gesicht von Saddam Hussein.

In diesem Zusammenhang wird die Politik des Angriffs zur Eroberung der Weltherrschaft als Exorzismus dargestellt. Und in Korrspondenz zum Bild des Teufels schafft sich Bush seinen Gott. Dieser Gott besitzt die Staatsbürgerschaft der USA, und scheint ein hoher Beamter des Weissen Hauses zu sein: “Gott segne Amerika". Ein “Gott segne die Welt" kommt nicht über seine Lippen. Aber das ist alles reiner Narzissmus. Auch Popper dachte in diesen Begriffen , als er sagte, dass die Demokratie eine Methode zur Kontrolle der Dämonen sei.

Dies ist der Griff zur Macht über die Welt. Die Folgen sind die, die man erwarten kann, wenn die Politik durch einen Exorzismus ersetzt wird.

Als Folge davon verändert sich die Bedeutung des Wortes “Freiheit".Es ist die Freiheit, die keine französischen Pommes frites (engl: french fried potatoes) mehr isst, sondern die sie “Freiheitskartoffeln"nennt. Weil Frankreich sich gegen den Krieg sperrte, darf man in den USA seinen Namen nicht mehr erwähnen. Der Kongress selbst traf die Entscheidung, diese Kartoffeln “Freiheitskartoffeln" zu nennen. Wenn ich “Freiheitskartoffeln" essen müsste, würde mir schlecht werden. Und das, obwohl ich gerne Pommes Frites esse. Es gibt auch keinen französischen Toast mehr, nur noch den Freiheitsttoast. Auch der russische Salat heisst jetzt Freiheitssalat - nach Vorgabe durch den US-Kongress. Vierzig Jahre Kalter Krieg haben diesen Namen nicht verändert, die ganze Zeit über ass man in den USA russischen Salat. Jetzt, wo Russland gegen den Irak-Krieg ist, gibt es nur Freiheitssalat. Auch wenn man diesen Salat isst, wird einem schlecht, obwohl er als russischer Salat sehr lecker ist. Denn nicht der russische Salat hat sich verändert. Das, was sich verändert hat, sind die USA. Symbole bedeuten etwas. Das was sich verändert hat, ist die Bedeutung der Freiheit.

Es ist nicht die Freiheit von früher. Es ist eine Freiheit, die es einem schlecht werden lässt, genauso wie die Freiheitskartoffeln und der Freiheitssalat. Es ist die Freiheit der freien Vernichtung der Anderen. Die üben die USA jetzt im Irak aus, und sie haben sie vorher in Afghanistan praktiziert. Und sie kündigen an, dass sie sie in Zukunft über eine lange Zeit hin ausüben werden, die bis zu hundert Jahre umfassen kann. Sie haben Listen von den Ländern, die sie vernichten wollen, und im Weissen Haus entscheidet man während des Frühstücks am Morgen - mit Freiheitstoasts - welches Land als nächstes dran sein wird. Die Listen können wir lesen, denn sie werden veröffentlicht, auch wenn sie immer nur provisorisch sind. Sie sind Ergebnisse von Zusammenkünften, die den berühmten Treffen des Ríos Mont ähneln. Sie fanden immer nach seinem sonntäglichen Besuch in der Kirche statt. Bei ihnen wurden Listen von politischen Gegnern diskutiert, und man entschied darüber, welche man am folgenden Morgen verschwinden liess. Das Weisse Haus hat diese Praxis globalisiert. Man gründet eine Weltdiktatur der Nationalen Sicherheit.

Das für dieser Machtausübung entsprechende Vorgehen ist das des Ultimatums. Die USA regieren jetzt per Ultimatum. Sie stellte dem Sicherheitsrat der UNO ein Ultimatum, und sie verliessen dann die UNO, weil diese nicht erfüllte, was Bush als “Verantwortung des Sicherheitsrates" bezeichnete. Sie stellten auch Saddam ein Ultimatum. Da er es nicht erfüllte, vernichten sie ein Land. Von solchen Ultimaten wird es immer mehr geben. Und wenn alle unterworfen sind, wird es weiterhin Ultimaten geben. Alles sind Ultimaten dieser neuen Freiheit.

Was tun? Diesen Angriff kann man nicht mit Waffen aufhalten. Auch nicht mit irgendwelchen Terrorakten. Der Angreifer ist in allen Waffenarten überlegen, und terroristische Anschläge würden ihm nur Vorwände liefern, um mehr Länder und mehr Gruppen von Menschen zu vernichten.

Die Regierung der USA glaubt heute, dass die Macht aus den Gewehrläufen kommt. Das ist falsch. Ohne Legitimation dienen die Waffen nur der Zerstörung, und es gibt kein “Leben danach". Aber die Legitimation entsteht im Kontext einer humanisierten Machtausübung..

Das heisst, dass wir, wenn wir etwas ändern wollen, nie vergessen dürfen, dass wir nur dann etwas erreichen, wenn wir dieser Macht der Waffen ihre Legitimität entziehen. Das geschieht heute. Vor den Augen der Welt steht der Kaiser nackt da. Man muss ihn immer wieder bloßstellen, denn er wechselt jeden Tag seine Kleider. Seine Brutalität ist offensichtlich, auch sein unmenschlicher Zynismus, seine Missachtung aller Werte, die die Menschheit im Verlauf von Jahrtausenden entwickelt hat. Wir müssen diese Entmenschlichung der Macht zeigen, um sichtbar zu machen, was geschieht.

Wenn wir das erreichen, können wir etwas bewirken.

Ich möchte mit einem Satz Gandhis enden, der von den DemonstrantInnen in Sevilla übernommen wurde: “Es gibt keine Wege zum Frieden. Der Frieden ist der Weg."


'Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein' (Jesaja 32,17) - Sozialraub zerstört Demokratie

Bericht über die Sonntagsvorlesung mit Dr. André Brie, MdEP, Horst Schmitthenner, IG Metall, Peter Wahl, Weed/ATTAC, Prof. Dr. Franz Hinkelammert, Costa Rica

Die Präsens der Rosa Luxemburg Stiftung auf dem ersten ökumenischen Kirchentag stand unter dem Motto von Franz Hinkelammert, Befreiungstheologe aus Costa Rica: "Leben ist mehr als Kapital“. Die Theologie der Befreiung - auf dem Kirchentag selbst in die Nische gedrängt - wurde von uns mit seiner Person auf die Tagesordnung der Agora gesetzt. Damit füllte die Stiftung nicht nur eine inhaltliche Lücke, sondern entwickelte ihren eigenen roten Faden von Rosa Luxemburgs "Kirche und Sozialismus", Fragen des christlich-marxistischen Dialogs, über Befreiungsbewegungen Afrikas und Lateinamerikas, sozialen Bewegungen bis hin zur Sonntagsvorlesung:

Zu Beginn der Veranstaltung informiert Peter Senft, IG Metall, Bezirksleitung Berlin-Brandenburg-Sachsen, über das Ergebnis der Urabstimmung zu den geplanten Streiks. 83 % der verbandsgebundenen Industrie, 84 % der nicht verbandsgebundenen Industrie und fast 80 % der Elektroindustrie haben für den Streik gestimmt.„Wir wollen endlich wissen, wann die Arbeitszeit zwischen Ost und West ausgeglichen sein wird. Es geht um Gerechtigkeit, um Beschränkung derr Arbeitslosigkeit und nicht zuletzt auch darum, gesund alt zu werden. Und „die Situation ist anders, als sie uns immer darstellen wollen. So hat das Gewerbe seinen Umsatz um 13 % gesteigert“.

Franz Hinkelammert, Befreiungstheologe aus Costa Rica, beginnt seine Ausführungen mit Kar Marx. Marx sagte, dass die kapitalistische Gesellschaft ihren ungeheuren Reichtum produziert, aber dabei die Quellen dieses Reichtums untergräbt. In dieser Logik steht die Betrachtung des Menschen als Humankapital und Kriege, wie der Krieg gegen den Irak. Entwicklungspolitik ist abgeschafft. An deren Stelle ist Marktpolitik getreten, nur die leere Hülle - der Name ist geblieben - so wie die Forderung nach Reformen, die Abschaffung von Reformen zum Inhalt hat. Es ist längst nicht mehr der Staat, der über Normen der Wirtschafts- und Sozialpolitik entscheidet. Abgekoppelt vom Markt, in den er nicht intervenieren kann, bestimmt die private Bürokratie im Interesse des Kapitals über vermeintliche Sachzwänge die Politik und legitimiert sich so als Politik der Sachzwänge. Damit ist Kapital mehr als Leben. So wird Demokratie ausgehöhlt. Demokratie zurückzugewinnen heißt also in diesem Sinne Rückgewinnung des Staats, seiner sozialen Funktionen zum Schutz des Einzelnen, zur Durchsetzung der sozialen Bindungen des Eigentums an das Gemeinwohl. Der Sozialstaat war verbunden mit dem kalten Krieg. Der ist vorbei. D.h. der Sozialstaat muss auf neue Weise eingefordert und ausgehandelt werden. Dazu werden aber Akteure gebraucht, die das unmöglich gemachte neu denken. Also jenseits der Sachzwänge nicht nur das Machbare, sondern das Mögliche denken und dabei nicht in Einzelmaßnahmen stecken bleiben.

Horst Schmitthenner, Bundesvorstand IG Metall Frankfurt, fordert den Erhalt von Aufgaben und Funktionen des Sozialstaates. Die kapitalistische Produktionsweise schafft aus sich heraus ungleiche Einkommens- und Lebenschancen. Deshalb ist es Aufgabe des Sozialstaates, diese Ungleichverteilung zu korrigieren. Dazu ist er jedoch nur in der Lage, wenn seine Grundprinzipien: Paritätische Finanzierung, Lebensstandardsicherung und der Grundsatz der Rechtsansprüche erhalten bleiben und wenn seine Akteure bereit und willens sind, einen Teil der Wertschöpfung in gesellschaftlichen Wohlstand umzuwandeln. Leistungen des Sozialstaates sind eben keine Almosen, sondern beruhen auf Bürgerrechten, die eingefordert werden müssen, so, wie die am nächsten Tag beginnenden Streiks zur Angleichung der Arbeitszeit von Ost und West. Gegenwärtig finden die Gewerkschaften wie auch die sozialen Bewegungen auf der Ebene der Parteien keinen Ansprechpartner. Die Zeiten der Gewerkschaften am Tische der SPD seien vorbei, erklärte er, die PDS fällt als Träger eines alternativen Gesamtkonzeptes auf der parlamentarischen Ebene herraus. Für die Gewerkschaften ist es deshalb notwendig, ihre Autonomie zu entwickeln, unabhängig davon, wer an der Regierung ist.

Peter Wahl, Weed/Attac spricht von der weltlichen „Dreifaltigkeit“, die in der Losung der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ ihren Ausdruck fand und Grundbedingung für ein Menschenwürdiges Leben in Gerechtigkeit ist. Mit der „Amerikanisierung“ dieser Fassung in: „liberty, freedom, and power of happyness“ fällt diese Dreifaltigkeit auseinander, Gleichheit und Gerechtigkeit bleiben auf der Strecke. Aber bereits der Ökonom Keynes erklärte, dass die Spaltung der Welt in Inseln des Wohlstands in einem Meer von Armut ohne eine konkrete Perspektive des Aufschließens zu immer neuer Gewalt führen wird. Knapp die Hälfte der Menschheit muss täglich mit weniger als 2 € auskommen. Darin liegen natürlich Ursachen für strukturelle Gewalt, gegen die sich die Welt des Reichtums mit einer „pax americana“ schützen muss. Aber zu den Akteuren befragt, erklärt Peter Wahl, dass die Chance und Schwierigkeit darin besteht, dass niemand mehr da ist, der bestimmt, wie es richtig ist. Es gibt nicht mehr die Alternative, die Theorie, die Partei. Die Bedeutung und der Einfluss von Parteien sinken aus seiner Sicht - siehe Berliner Politik. D.h. die ausschließliche Fixierung auf Parteien auf parlamentarische Politik muss durch komplementäre Institutionen ergänzt werden. Notwendig ist die strategische Zusammenführung, Bündelung von Initiativen, NGO’s und anderen Akteuren zur Entwicklung und Durchsetzung emanzipatorischer Politik. Heute gilt das Motto der Zapatistas „Fragend gehen wir voran“ und gefragt wie geantwortet wird pluralistisch.

André Brie, MdEP, erklärte dass es nicht sein kann, dass die öffentlichen Kassen leer sind, während sich gleichzeitig der private Reichtum von 1,5 Billionen € auf 3 Billionen € verdoppelt hat. Inzwischen verfügen 5 % der Hauhalte über 40 % des Reichtums, eine Schere, die unter Rot-Grün weiter auseinandergegangen ist. Bei der Durchsetzung neoliberaler Politik ist Europa Triebkraft, obwohl Europa den Raum für einen europäischen Sozialstaat bieten könnte. 80 % des Handels findet innerhalb Europas statt. Aber die Chance für einen solchen Sozialstaat erfordert die Entwicklung von Gegenkräften, Gegengewichten, die verhindern, dass das Mögliche aus der Hand gegeben wird. Dazu müssen strategische Interessen artikuliert werden, dazu müssen Gegenkräfte aus der Politik kommen, die dem anarchischen Charakter des Kapitalismus, dem Kultur- bzw. Coca Cola-Imperialismus eine emanzipierte Außen- und Friedenspolitik sowie Sozialpolitik entgegenstellen. Die gegenwärtige Entwicklung führt zum Verlust von Demokratie. Ihre Institutionen sind noch da, aber sie sind entleert, so dass die Möglichkeiten zerstört sind, mit ihnen zu kämpfen.

In diesem Zusammenhang muss er ein eindeutiges Versagen der PDS feststellen, die sich z.T. als Instrument zur Durchsetzung neoliberaler Politik missbrauchen lässt. So ist die Berliner Politik der PDS nicht von Transparenz, von Bürgernähe geprägt, nicht davon, mit Betroffenen zu sprechen. Die PDS muss Prinzipien definieren, was mit ihr zu machen ist, was nicht. So geht die Aufgabe der Lernmittelfreiheit in Berlin an die Substanz von PDS Politik.

Vor der PDS liegt ein langer Weg, sagt André Brie, aber die Zeit drängt. „Wir sind verurteilt erfolgreich zu kämpfen, schon heute. ... Was wir brauchen ist eine Werkstatt von Alternativen.“, erklärt er. Aber Chancen gibt es, in Deutschland, Europa weltweit - siehe MAI. So wie die Zivilgesellschaft erfolgreich gegen das MAI kämpfte, muss sich die europäische Zivilgesellschaft gegen neoliberale Konzepte wie der Agenda 2010 wehren, auch gegen das falsche Bewusstsein, gegen den gefährlichen Konsens mit einer falschen Therapie soziale Probleme lösen zu wollen. Das geistige Klima in diesem Land kann und muss verändert werden und dieser Kampf ist unabhängig von den parlamentarischen Verhältnissen.