Köln, 29.11.2003, "Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme" - Veranstaltung von KölnAlumni mit Bert Rürup und der Protest dagegenBilder

"Die Sozialräuber planen ihre nächsten Beutezüge! - Der Krieg nach innen"

Aufruf-Entwurf, veröffentlicht von attac Köln

...an der Universität Köln, geben sich Ende November einige der HauptstichwortgeberInnen für die Angriffe auf die soziale Existenz der Menschen ein Stelldichein.

Wir wollen diese Veranstaltung nicht ungestört stattfinden lassen. Einige Gründe dafür findet ihr in dem anliegenden Aufrufentwurf für eine Gegenveranstaltung am 29. November um 9.00 Uhr auf dem Albertus-Magnus-Platz vor dem Hauptgebäude der Uni

mit freundlichen Grüssen
Alternative Liste

Aufrufentwurf - Die Sozialräuber planen ihre nächsten Beutezüge!

Bundesgesundheitsministerin Schmidt (SPD), die selbst ernannten Sozialexperten Rürup und Lauterbach und weitere ihrer Spießgesellen treffen sich am 29.November an der Uni Köln zu einer Tagung über »die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme«. Sie wollen dort die nächsten Schritte und Pläne bei der Zerschlagung der letzten sozialstaatlichen Absicherungen bilanzieren und lassen sich diese Zusammenkunft vom BAYER-Konzern sponsern.

Wir rufen dazu auf, sie nicht in ihrem exklusiven Zirkel alleine diskutieren zu lassen. Mischt euch ein, sagt ihnen lautstark eure Meinung!

In langen Kämpfen haben Menschen soziale Absicherungen, Zeiten von Nichtarbeit und Freiheit vom Arbeitszwang und politische Rechte errungen. Seit Jahren werden diese kleinen Errungenschaften – die oft nicht mehr waren als staatliche Elendsverwaltung – sukzessive wieder beseitigt. Aufgrund der verschärften kapitalistischen Konkurrenz wird überall versucht, der Preis der Ware Arbeitskraft zu senken, die Ausbeutung der Lohnabhängigen zu steigern und als 'unproduktiv' angesehene Kosten u. a. für soziale Absicherungen der Masse der Menschen zu vermeiden.

»Die Leute gehen doch gern zur Arbeit, das ist doch kein Frondienst.« (Siemens-Chef Heinrich von Pierer) Die Menschen sollen bereit sein, die eigene Arbeitskraft zu noch schlechteren Konditionen herzugeben: Die Wochenarbeitszeit soll verlängert werden – in NRW sind für den Öffentlichen Dienst Arbeitszeiten von 41 Stunden und mehr geplant. Feiertage und Urlaubstage sollen reduziert werden. Siemens-Chef Heinrich von Pierer schlug gar vor, den Samstag als Arbeitstag ohne Lohnzuschlag einführen. Das nominelle Renteneintrittsalter soll auf 67 Jahre verlängert werden. Das führt zu niedrigen Renten für die große Mehrheit der Menschen, die wegen Krankheit, Erschöpfung oder Entlassung früher gehen müssen.

Dabei werden alle Register gezogen, um direkte und indirekte Lohnsenkungen einzuführen: Streichung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Zwang zu Privatzuzahlungen zu Kranken- und Rentenversicherung und flächendeckende gewerkschaftliche Tarifabschlüsse unterhalb der Inflationsrate.

Zwangs- und Arbeitsdressurmaßnahmen werden ausgeweitet: z. B. durch den Umbau der Arbeitsämter zu Kontroll- und Zeitarbeitsagenturen.

Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn möchte den Arbeitszwang für Jugendliche verschärfen: »Wer einen angebotenen Ausbildungsplatz ablehnt, dem sollte rigoros jede staatliche Unterstützung gestrichen werden«

»Niemandem wird künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen« (Bundeskanzler Gerhard Schröder)

Die SPD-Grüne Bundesregierung führt einen Generalangriff zur tendenziellen Zerschlagung aller erkämpften sozialen Rechte (Renten, Gesundheitsversorgung und Arbeitslosenversicherung, kostenlose Bildung): Schröder verkündete im März 2003 mit massiver grüner Schützenhilfe seine Agenda 2010. »Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.« Was er damit sagen will: JedeR soll sich selbst und der schrankenlosen Ausbeutung überlassen werden, ohne Hilfe bei Krankheit, Alter, Schwäche oder fehlendem Einkommen.

Millionen Menschen soll eine halbwegs sichere Zukunft im Alter geraubt werden. Die Renten sollen durch die Ankoppelung an die aktuelle Lohnentwicklung ('Nachhaltigkeitsfaktor') massiv gesenkt und tendenziell privatisiert werden.

Die jüngere Generation lässt man von vorneherein mit leeren Händen dastehen: Ausbildungszeiten sollen zukünftig nicht mehr angerechnet werden. Die Öffentliche Hand wird brutal ausgehungert.

SPD, Grüne und CDU/CSU wollen nach dem Modell der RentenDeform das Kapital schrittweise aus der bisherigen paritätischen Finanzierung der Krankenkassen herauslassen. Wesentliche Leistungen wie z. B. Zahnbehandlungen wurden auf Vorschlag des BDA-Präsidenten Hundt, der Grünen und der CDU aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen ausgegliedert. Dazu kommen die Erhöhung der Zuzahlungen für Medikamente und Eintrittsgelder für Arztbesuche, die Streichung der kostenlosen Krankenfahrten und die Entlassung der Unternehmen aus ihrer Beitragspflicht für das Krankengeld. Im Gegenzug sollen die Krankenkassenbeiträge für RentnerInnen erhöht werden.

Die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld wurde auf 12 Monate reduziert. Die Arbeitslosenhilfe ist faktisch abgeschafft, indem sie mit der Sozialhilfe zusammengelegt, sprich auf das Niveau der Sozialhilfe abgesenkt wird. Schröder will die Flächentarifverträge durch Betriebsvereinbarungen weiter durchlöchern, ebenso den Kündigungsschutz.

Auf SozialhilfebezieherInnen wird der Druck verschärft. Sie werden vermehrt dazu gezwungen, Tätigkeiten wie sinnlose EDV-Kurse, Müllsammeln im Park etc.

für einen Hungerlohn zu übernehmen. Auch in den bürgerlichen Medien wird Menschen, die Sozialleistungen beziehen, immer mehr ein Image als 'SchmarotzerInnen', 'DrückebergerInnen' oder (besonders nichtdeutschen) 'SozialbetrügerInnen' aufgedrückt. Die BILD-Zeitung schaffte es mit ihrer Kampagne gegen einen angeblich in Florida im Luxus lebenden Sozialhilfebezieher innerhalb von vier Wochen eine Gesetzesänderung durchzusetzen.

»Früher sind die Leute auch auf Krücken gelaufen.« (Philipp Missfelder, JU- Bundesvorsitzender)

Gegen die, die nicht mehr dauerhaft vom Kapital gebraucht werden, werden brutale Maßnahmen eingesetzt: Saison- und Tagelöhnerarbeit, illegalisierte Arbeit von MigrantInnen, Armutsfürsorge in Form von Naturalien – auch für deutsche SozialhilfeempfängerInnen, Zwangsarbeit im Knast. Oder man überlässt die als überflüssig Erklärten dem stummen Zwang der Verhältnisse: schiebt sie ab, verjagt sie aus öffentlichen Räumen und Innenstädten, lässt sie ohne Wohnung, Einkommen, Gesundheitsversorgung in Suff und Kälte oder Sommerhitze sterben.

Das geht bis zu indirekten, faschistoiden Morddrohungen gegenüber alten Menschen: Nach einem Vorschlag des katholischen Theologen Prof. Joachim Wiemeyer (Uni Bochum) und des Sozialpolitik-Professors Friedrich Breyer (Uni Konstanz) sollen alte Menschen ab 75 keine medizinische Versorgung und lebensverlängernde Behandlung mehr erhalten, sondern nur noch schmerzstillende Mittel. Der Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, schlug Anfang August 2003 vor, Menschen über 85 kein künstliches Hüftgelenk und Rentnern keine Zahnprothesen mehr zu bezahlen.

All das ist nichts anderes als ein Krieg nach innen. Die Parolen der 'VordenkerInnen' und 'TabubrecherInnen' in allen bürgerlichen Parteien und ihrer akademischen HelferInnen lauten: den Brotkorb höher hängen, Strafen verschärfen, Zwangsarbeit ausbreiten. Ein Teil dieses Kriegs nach Innen, des Angriff auf Schwache, gegen 'Unproduktive', Kranke, überflüssig Gemachte sind die Medienhetze, die Gutachten vom selbsternannten Expertenkommissionen und scheinwissenschaftliche Propagandatagungen wie die am Samstag, den 29. November an Universität Köln (Aula der Universität, Albertus-Magnus-Platz, 9.45 Uhr).

Quelle: www.attac-netzwerk.de/koeln


Wir danken der Bayer AG für das Hauptsponoring

Symposium "Die Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme" - Ankündigung von KölnAlumni, Netzwerk zwischen Absolventen, Studierenden, Unternehmen und gesellschaftlichen Institutionen

Herausragendes Event für Mitglieder von KölnAlumni: I. KölnAlumni-Symposium "Die Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme"

Die Veranstaltung ist bis auf den letzten Platz ausgebucht. Weitere Anmeldungen können nicht mehr entgegen genommen werden!

am Samstag, dem 29. November 2003
Aula der Universität zu Köln

Einlass 9:45 Uhr
Beginn 10.30 Uhr
Ende ca. 13.00 Uhr

Begrüßung durch den Rektor der Universität zu Köln Prof. Dr. Tassilo Küpper

Grußwort des Präsidenten von KölnAlumni e.V. Professor Dr. Richard Köhler

Referenten

Prof. Dr. Dr. h.c. Bert Rürup
"Bevölkerungsalterung: Viel mehr als eine sozialpolitische Herausforderung"

Prof. Dr. Johann Eekhoff, Staatssekretär a. D
"Wettbewerb und Risikovorsorge in der Krankenversicherung"

Bundesministerin Ulla Schmidt
"Modernisierung der sozialen Sicherung in der praktischen Politik - Umbau statt Abbau"

Podiumsdiskussion mit den Referenten und
Prof. Dr. Eckart Bomsdorf
Prof. Dr.Dr. Karl W. Lauterbach

Am Vorabend findet der Ball der Universität zu Köln statt. Für den Ball können Sie sich als KölnAlumni-Mitglied und Ihre Begleitung statt für 19 (bzw. 14 Euro für Studenten) für nur 11 Euro anmelden. Für dieses Wochenende haben wir für Sie bis zum 10. November Hotelkontingente im Dorint Kongress Hotel und im Hyatt Regency reserviert.

Wir danken der Bayer AG für das Hauptsponsoring des I. KölnAlumni-Sympoiums.

Quelle: www.koelnalumni.de


"Professoren, Vorstände von Dax-Unternehmen, Bundestagsabgeordnete,..."

Presse-Information der Universität zu Köln vom 10.11.2003 zum I. KölnAlumni-Symposium: „Die Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme“

I. KölnAlumni-Symposium: „Die Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme“

Bundesministerin Ulla Schmidt und Professor Dr. Dr. h.c. Bert Rürup in der Universität zu Köln

Zum ersten KölnAlumni-Symposium über das Thema „Die Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme“

am Samstag, dem 29. November 2003, von 10.30 – ca. 13.00 Uhr in der Aula der Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, 50931 Köln-Lindenthal

lädt KölnAlumni, das Absolventennetzwerk der Universität zu Köln, alle Interessierten ein.

Zu dem Thema, das derzeit wie kein zweites in der Öffentlichkeit diskutiert wird, werden Bundesministerin Ulla Schmidt, der Vorsitzende der Rürup-Kommission und KölnAlumni-Mitglied, Professor Dr. Dr. h.c. Bert Rürup, und Staatssekretär a.D. Professor Dr. Johann Eekhoff sprechen. An der anschließenden Podiumsdiskussion werden neben den Referenten auch die beiden Kölner Professoren Dr. Eckart Bomsdorf und Dr. Dr. Karl W. Lauterbach teilnehmen. Das gesamte Programm ist im Internet unter abrufbar.

Die Veranstaltung beginnt um 10.30 Uhr mit der Begrüßung durch den Rektor der Universität zu Köln, Professor Dr. Tassilo Küpper, und dem Grußwort des Präsidenten von KölnAlumni e.V., Professor Dr. Richard Köhler. Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist jedoch erforderlich unter

Die Veranstaltung ist gesponsort durch die Bayer AG.

Der Verein KölnAlumni baut ein Netzwerk zwischen Absolventen, Studierenden, Unternehmen und gesellschaftlichen Institutionen auf. Getreu dem Motto des kölschen Liedes „Niemals geht man so ganz“ bietet KölnAlumni seinen Mitgliedern die Möglichkeit, den Kontakt zu ihrer Universität zu pflegen und gleichzeitig Teil eines effizienten Netzwerks von Absolventen, Studierenden, Unternehmungen und gesellschaftlichen Institutionen zu werden. Auf wissenschaftlichen, kulturellen, sportlichen und festlichen Events können sich Mitglieder fortbilden und ihre persönlichen Kontakte pflegen. Zu den rund 500 Mitgliedern gehören zahlreiche Professoren, Vorstände von Dax-Unternehmen, Bundestagsabgeordnete, eine Verfassungsrichterin und ein ehemaliger Bundesbankpräsident.

Für Rückfragen steht Ihnen Fridjof Lücke unter der Telefonnummer 0221/470-7734, der Fax-Nummer 0221/470-7724 und unter der Email-Adresse Luecke@KoelnAlumni.de zur Verfügung.

Quelle: www.uni-koeln.de


Prof. Dr. Dr. h.c. Bert Rürup

Biographische Angaben gemäß KölnAlumni

Universitätsprofessor für Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Technischen Universität Darmstadt

Geb. am 07.11.1943 in Essen. Studium der wirtschaftlichen Staatswissenschaften in Hamburg und Köln, Diplom-Kaufmannsexamen 1969 in Köln. Von 1969 bis 1974 Assistent am Seminar für Finanzwissenschaft der Universität Köln. 1974/75 freier wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes. Sommersemester 1975 Lehrstuhlvertretung "Finanzwissenschaft" an der Universität Göttingen. 1975 Professor für Volkswirtschaft - insbesondere Finanzwissenschaft - an der Universität Essen. Seit Februar 1976 Professor für Volkswirtschaftslehre - insbesondere Finanzwissenschaft - an der Technischen Universität Darmstadt. Mehrere Rufe an in- und ausländischen Universitäten und Forschungseinrichtungen.

Gastprofessuren

Seit Sommersemester 1988 Gastprofessor und Lehrbeauftragter der TU Wien sowie Lehrbeauftragter der Universität Wien und der Wirtschaftsuniversität.

1990-1993 Gastprofessor an der TH Leipzig für "Wirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft".

Vom 1.02.1991 bis 26.10.1993 Gründungsdekan für den Fachbereich "Wirtschaftswissenschaften" der TH Leipzig und der „Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät“ der Universität Leipzig.

Seit 1992 Gastprofessor an der Technischen Universität Bukarest.

Beratungsfunktionen, Beiräte, Kommissionen

1982/83 Consultant für die Bundesrepublik Deutschland bei der EG im Rahmen des Projektes "Social Policy under slow growth".

Vom 1.01.1986 bis 31.12.1991 Mitglied des Auswahl- und Bewilligungsausschusses für Sonderforschungsbereiche der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Dezember 1992 bis April 2002 Mitglied und wissenschaftlicher Berater der Enquête- Kommission des Deutschen Bundestages "Demografischer Wandel".

1993-1995 geld- und finanzpolitische Beratung des Präsidenten und der Regierung von Kasachstan.

Juni 1996 bis März 1998 Mitglied der Kommission der deutschen Bundesregierung "Fortentwicklung der Rentenversicherung".

Von Dezember 1995 bis November 1997 Berater des Sozialministeriums der Bundesrepublik Österreich zur Vorbereitung der Pensionsreform 1997.

Februar 1999 bis Mai 2001 Mitglied des Expertenkreises des Bundesarbeitsministers zur Vorbereitung der Rentenreform 2001.

Seit März 2000 Mitglied des „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“.

Seit Juni 2000 Mitglied und seit September 2000 Vorsitzender des „Sozialbeirats für die Rentenversicherung“.

Von März 2002 bis März 2003 Vorsitzender der „Sachverständigenkommission zur Neuordnung der Besteuerung von Altersvorsorgeaufwendungen und Alterseinkommen“.

Von November 2002 bis August 2003 Vorsitzender der „Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“.

Mitglied in mehreren wissenschaftlichen Vereinigungen und Gutachter für mehrere wissenschaftliche Zeitschriften.

Zahlreiche Bücher und Gutachten für das Bundeskanzleramt, das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, den Senat der Stadt Berlin, den nordrhein-westfälischen Landtag, das hessische Finanzministerium, das österreichische Sozialministerium, das österreichische Finanzministerium, die Landesrechnungshöfe von Hessen und Thüringen sowie diverser Verbände und Parteien. Aufsätze zu Fragen und Problemen der öffentlichen Planung und Effizienzkontrolle, der Steuer- und Finanzpolitik, der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik und insbesondere der Konsequenzen des technologischen, sozioökonomischen und demografischen Wandels für das System der sozialen Sicherung und die Zukunft der staatlichen und privaten Alterssicherung.

Herausgeber

Sozialökonomische Schriften (Lang-Verlag Zürich - New York - Frankfurt)

Taschenbuchreihe "Wirtschaft" (Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt)

Quelle: www.koelnalumni.de


Krise, Umbau und Zukunft des Sozialstaates

Betrachtung von Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln, vom April 2003

Kaum jemand bezweifelt, dass sich der Sozialstaat in einer tiefen Krise befindet. Aber es ist nicht, wie daraus kurzschlüssig gefolgert wird, die Krise des Sozialstaates, welche seine Fortexistenz gefährdet, sondern diejenige des bestehenden privatkapitalistischen Wirtschaftssystems, das schon seit längerer Zeit kein ausreichendes Wachstum (anhaltende Konjunkturschwäche) und keinen hohen Beschäftigungsstand (strukturelle Arbeitslosigkeit) mehr zu gewährleisten vermag.

Die gängigen Muster zur Erklärung der akuten Probleme des Sozialstaates

Als für die "Krise des Sozialstaates" ursächlich werden in der oft kampagnenartig geführten Diskussion darüber hauptsächlich vier Faktoren bzw. Entwicklungsdeterminanten genannt:

1. Übertriebene Großzügigkeit/Generosität: Der deutsche Wohlfahrtsstaat sei in seiner Leistungsgewährung zu freigiebig, was ihn finanziell zunehmend überfordere und das Gegenteil dessen bewirke, was eigentlich intendiert sei. Arbeitslosigkeit und Armut könnten nicht mehr wirksam bekämpft werden, weil es sich für die Betroffenen kaum lohne, Erwerbsarbeit zu leisten, wenn sich die Höhe der Lohnersatzleistungen auf nahezu demselben Niveau bewege.

2. Massenhafter Leistungsmissbrauch: Da es keine wirksamen Kontrollen gebe, lasse sich auch nicht verhindern, dass Menschen von Sozialleistungen profitieren, die gar nicht anspruchsberechtigt seien. Gemäß der "Logik des kalten Büfetts" bediene man sich auch dann, wenn kein ernsthafter Hilfebedarf existiere. So würden z.B. medizinische Behandlungen nur deshalb in Anspruch genommen, weil der Arztbesuch für gesetzlich Krankenversicherte kostenfrei sei.

3. Demografischer Wandel: Durch die sinkende Geburtenrate der Deutschen und die steigende Lebenserwartung aufgrund des medizinischen Fortschritts komme es zu einer "Vergreisung" der Bundesrepublik, die das ökonomische Leistungspotenzial des Landes schwäche und die sozialen Sicherungssysteme (Renten-, Pflege- und Krankenversicherung) überfordere. Dem könne nur mittels einer (Teil-)Privatisierung auf der Beitrags- sowie einer Leistungsreduzierung auf der Kostenseite begegnet werden.

4. Globalisierungsprozess und Standortschwäche: Infolge der sich verschärfenden Weltmarktkonkurrenz müsse der kränkelnde "Standort D" entschlackt und der Sozialstaat "verschlankt" werden, wolle man die Konkurrenzfähigkeit und das erreichte Wohlstandsniveau halten. Der (nordwest)europäische Wohlfahrtsstaat gilt seinen Kritikern als von der ökonomisch-technologischen Entwicklung überholt, als Hemmschuh der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und als Investitionshindernis, kurz: als Dinosaurier, der ins Museum gehört, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.

Kritik an den dominierenden Erklärungsmustern

Diesen (größtenteils "interessierten", d.h. von Gegnern des Sozialstaates gezielt verbreiteten) Missverständnissen und Fehlurteilen gegenüber ist Folgendes geltend zu machen:

1. Die empirische Wohlfahrtsstaatsforschung hat nachgewiesen, dass die Bundesrepublik - entgegen den hierzulande dominierenden Medienbildern wie dem davon geprägten Massenbewusstsein - keineswegs den "großzügigsten" europäischen Sozialstaat besitzt, sondern hinsichtlich der Leistungsgewährung im Vergleich mit den übrigen 14 EU-Staaten seit der Weltwirtschaftskrise 1974/76 und vor allem nach dem Regierungswechsel Schmidt/Kohl im Herbst 1982 weit zurückgefallen ist und heute höchstens noch im unteren Mittelfeld (Platz 8 oder 9) rangiert.

2. Auch der Missbrauch des Wohlfahrtsstaates durch nicht Anspruchsberechtigte hält sich trotz zahlreicher Berichte (vor allem der Boulevardpresse) über spektakuläre Einzelfälle, ausgeprägter Vorurteile bezüglich sozialer Randgruppen, die existenziell auf Sozialleistungen angewiesen sind, und des Stammtischgeredes über "Sozialschmarotzer" in Grenzen. Alle seriösen Studien gelangen zu dem Schluss, dass es sich bei dem beklagten Leistungsmissbrauch weder um ein Massenphänomen handelt noch der Sozialstaat dadurch finanziell ausgezehrt wird. Vielmehr lenkt man dadurch von einem extensiveren Missbrauch in anderen Bereichen (Einkommensteuererklärungen von Besserverdienenden und Kapitaleigentümern; Subventionsschwindel) ab.

3. Die demografischen Entwicklungsperspektiven werden in Öffentlichkeit und Medien zu einem wahren Schreckensszenario verdüstert. Dabei fehlen keine Babys, sondern Beitragszahler/innen, die man etwa durch eine konsequente(re) Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Erhöhung der Frauenerwerbsquote, die Erleichterung der Zuwanderung und/oder die Erweiterung des Kreises der Versicherten gewinnen kann. Statt zu klären, wie man aus einer längerfristigen Veränderung der Altersstruktur resultierende Schwierigkeiten solidarisch (z.B. durch die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze und/oder die Verbreiterung der Basis des Rentensystems, also die Einbeziehung von Selbstständigen, Freiberuflern und Beamten) bewältigen kann, benutzt man sie als Hebel zur Durchsetzung unsozialer "Sparmaßnahmen".

4. Leistungskürzungen sind keine Sozialreform, sondern sind ein Rückfall ins vorletzte Jahrhundert, als die Gesellschaft ihre Mitglieder nicht vor allgemeinen Lebensrisiken aufgrund fehlender Ressourcen zu schützen vermochte. Heute ist sie so reich wie nie und der Wohlfahrtsstaat für die Gesellschaft insgesamt und erst recht für sozial Benachteiligte unverzichtbar. Gerade die Bundesrepublik, deren exportorientierte Wirtschaft zu den Hauptgewinner(inne)n des Globalisierungsprozesses zählt, kann sich einen entwickelten Sozialstaat aufgrund ihres kontinuierlich wachsenden Wohlstandes, der allerdings immer ungleicher verteilt ist, nicht nur weiterhin leisten, sondern darf ihn auch nicht abbauen, wenn sie einerseits die Demokratie und den inneren Frieden bewahren sowie andererseits konkurrenzfähig bleiben will. Selbst im Rahmen der neoliberalen Standortlogik gibt es gute Gründe für eine - im Vergleich mit anderen, weniger erfolgreichen "Wirtschaftsstandorten" - expansive Sozialpolitik.

Wie die Demografie unter dem Kampfruf nach "Generationengerechtigkeit" zum Mittel sozialpolitischer Demagogie degeneriert

Als prioritäres Ziel der angeblich unabdingbaren Sozialreformen wird in Gerhard Schröders Regierungserklärung vom 14. März 2003 genauso wie im Auftrag der sog. Rürup-Kommission die Generationengerechtigkeit benannt. "Generationengerechtigkeit" ist seit geraumer Zeit eines der am meisten bemühten sozialpolitischen Schlagwörter in der Bundesrepublik. Darunter versteht man die Forderung nach fairer Aufteilung der Ressourcen und Lasten zwischen den Generationen (z.B. für das Sozialversicherungssystem). Ihre gegenwärtig massive Propagierung setzt implizit oder explizit eine ungerechte Verteilung zu Lasten einer, und zwar der jüngeren, Generation voraus (vgl. Alterssicherung, Staatsverschuldung etc.). Mittels der Forderung nach (mehr) Generationengerechtigkeit werden aber soziale Ungerechtigkeiten innerhalb aller Generationen in einen "Kampf von Alt gegen Jung" umgedeutet. Der politische Kampfbegriff "Generationengerechtigkeit" lenkt von einer hier wie in anderen Teilen der Welt dramatisch wachsenden Ungleichheit innerhalb aller Generationen ab. Kinderarmut wird als geistig-politischer Hebel benutzt, um Teile der Armutspopulation, aber auch Eltern und Kinderlose ganz allgemein, gegeneinander auszuspielen. Ähnliches gilt für Diskussionen zum demografischen Wandel, zur "Vergreisung" unserer Gesellschaft und zu den daraus (angeblich) erwachsenden Finanzierungsproblemen für das System der sozialen Sicherung. Insofern degeneriert die Demografie zur Ideologie und fungiert als Mittel einer familien- und sozialpolitischen Demagogie.

Die neoliberale Modernisierung als gesellschaftspolitisches Großprojekt und Frontalangriff auf den Sozialstaat

Anstatt in der Globalisierung einen naturwüchsigen Prozess zu sehen, der entwickelte Industriestaaten wie die Bundesrepublik zwingt, soziale und Umweltstandards zu senken, damit sie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben können, wäre es notwendig, die neoliberale Modernisierung bzw. Umstrukturierung fast aller Lebensbereiche nach dem Vorbild des Marktes als ein gesellschaftspolitisches Großprojekt zu kritisieren, das überall auf der Welt, d.h. sowohl zwischen den einzelnen wie auch innerhalb aller Staaten, noch mehr soziale Ungleichheit schafft und die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft.

Ulrich Beck sprach in seinem 1986 erschienenen Buch "Risikogesellschaft" von einem sozialen "Fahrstuhl-Effekt", der zuletzt alle Klassen und Schichten gemeinsam nach oben befördert habe. Betrachtet man den weiteren Verlauf der Gesellschaftsentwicklung, kann zumindest seither von einem Paternoster-Effekt die Rede sein: In demselben Maße, wie die einen nach oben gelangen, geht es für die anderen nach unten. Mehr denn je gibt es im Zeichen der Globalisierung ein soziales Auf und Ab, das Unsicherheit und Existenzangst für eine wachsende Zahl von Menschen mit sich bringt. Wenn die "Amerikanisierung" des Sozialstaates (genannt sei nur die Teilprivatisierung der Altersvorsorge durch das am 11. Mai 2001 von Bundestag und Bundesrat endgültig beschlossene Altersvermögensgesetz) fortgesetzt wird, dürfte eine Amerikanisierung der Sozialstruktur (Vertiefung der gesellschaftlichen Kluft zwischen Arm und Reich) nicht ausbleiben. Jenseits des Atlantiks ist die sozialräumliche Trennung von Bevölkerungsgruppen noch klarer erkennbar, samt ihren verheerenden Folgen für den Zusammenhalt der Gesellschaft: einer gestiegenen (Gewalt-)Kriminalität, des Drogenmissbrauchs und einer Verwahrlosung der öffentlichen Infrastruktur.

In einer Hochleistungsgesellschaft, die Konkurrenz bzw. Leistung geradezu glorifiziert und letztere mit Prämien, Gehaltszulagen oder Lohnsteigerungen prämiert, ist Armut funktional, weil sie nur die Kehrseite dessen verkörpert, was die Tüchtigeren und daher Erfolgreichen - übrigens in des Wortes doppelter Bedeutung - "verdient" haben. Armut bildet keinen unsozialen Kollateralschaden des neoliberalen "Umbau"-Projekts, sondern dient seinen Befürwortern als Disziplinierungsinstrument, während materieller Wohlstand und Reichtum das Lockmittel darstellen, mit dem "Leistungsträger" zu besonderen Anstrengungen motiviert werden sollen.

In der neoliberalen Weltsicht erscheint Armut nicht als gesellschaftliches Problem, vielmehr als selbst verschuldetes Schicksal, das im Grunde eine gerechte Strafe für Leistungsverweigerung oder die Unfähigkeit darstellt, sich bzw. seine Arbeitskraft auf dem Markt mit ausreichendem Erlös zu verkaufen, wie der Reichtum umgekehrt als angemessene Belohnung für eine Leistung betrachtet wird, die auch ganz schlicht darin bestehen kann, den Tipp eines guten Anlageberaters zu befolgen. Dagegen sind hohe Löhne bzw. Lohnnebenkosten der wirtschaftliche Sündenfall schlechthin und müssen als Ursache für die Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche in Deutschland herhalten.

Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Senkung der Lohnnebenkosten und Entlastung der Arbeitgeber als neoliberales Dogma

Fast allen bekannten Plänen, die den Sozialstaat sanieren sollen, wie den Konzepten der sog. Hartz-Kommission "zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit" sowie der sog. Rürup-Kommission "für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme" und der von Bundeskanzler Gerhard Schröder präsentierten "Agenda 2010" liegt das neoliberale Dogma zugrunde, wonach die Massenarbeitslosigkeit in erster Linie durch Senkung der Lohnnebenkosten bekämpft werden muss. Es kommt aber in Wirklichkeit gar nicht auf die Höhe der (gesetzlichen) Personalzusatzkosten, also der von den Arbeitgebern zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge, an. Entscheidend ist vielmehr die Höhe der Lohnstückkosten, welche in der Bundesrepublik aufgrund einer überproportional wachsenden Arbeitsproduktivität seit Jahren stärker sinken als in den meisten mit ihr auf dem Weltmarkt konkurrierenden Ländern, was im letzten Jahr zu einem Rekordüberschuss in der Handelsbilanz führte. Nicht zufällig ist Deutschland - bezogen auf die Leistungsfähigkeit pro Kopf der Bevölkerung - mit großem Abstand "Exportweltmeister". Hinge das Wohl und Wehe einer Volkswirtschaft von niedrig(er)en Lohn- bzw. Lohnnebenkosten ab, wie Neoliberale behaupten, müssten in Bangladesch und Burkina Faso längst Vollbeschäftigung und allgemeiner Luxus herrschen!

Wer die Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik auf gestiegene Personalzusatzkosten zurückführt, wie es die Arbeitgeber, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und die Bundesregierung tun, verwechselt Ursache und Wirkung: Die hohe Erwerbslosigkeit ist zwar für die hohen Lohnnebenkosten verantwortlich, aber nicht umgekehrt. Daher erwies sich der Glaube, die (teilweise) Umstellung des Sozialsystems von der Beitrags- auf Steuerfinanzierung schaffe Arbeitsplätze, wirtschaftliche Stabilität und mehr soziale Gerechtigkeit, in der jüngsten Vergangenheit genauso als Illusion wie die der Riester’schen Rentenreform zugrunde liegende Auffassung, das Kapitaldeckungsprinzip löse die Probleme der Alterssicherung einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung (zumindest besser als das Umlageverfahren). Wer die Lohnnebenkosten senken will, um "den Faktor Arbeit zu entlasten", macht ihn in Wahrheit billiger für das Kapital und belastet damit die Arbeitnehmer/innen zusätzlich.

Gegen eine Zurückdrängung der Beitrags- und einen Ausbau der Steuerfinanzierung des sozialen Sicherungssystems sprechen im Wesentlichen drei Gründe: Erstens unterliegen steuerfinanzierte - im Unterschied zu beitragsfinanzierten - Sozialausgaben den staatlichen Haushaltsrestriktionen; sie fallen deshalb eher den allgemeinen Sparzwängen der öffentlichen Hand zum Opfer; ihre Höhe ist von wechselnden Parlamentsmehrheiten und Wahlergebnissen abhängig. Wie sollen die ständig sinkenden Steuereinnahmen des Staates zur Finanzierungsbasis eines funktionsfähigen Systems der sozialen Sicherung werden? Schließlich haben alle Parteien die weitere Senkung von Steuern auf ihre Fahnen geschrieben. Zweitens muss man sich bloß die Struktur der Steuereinnahmen ansehen, um erkennen zu können, dass Unternehmer und Kapitaleigentümer im "Lohnsteuerstaat" Deutschland kaum noch zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen; diese Schieflage der steuerlichen Belastung (nicht nur, aber vor allem bei indirekten Steuern) führt zu ihrer einseitigen Finanzierung durch Arbeitnehmer/innen, wohingegen die (bisher nur im Pflegebereich und bei der sog. Riester-Rente durchbrochene) Beitragsparität der Sozialversicherung für eine angemessene(re) Beteiligung der Arbeitgeberseite an den Kosten sorgt. Zu fragen ist auch, welches Interesse die Unternehmer an einem Abbau der Arbeitslosigkeit, die ja ihre gesellschaftliche Position stärkt und die Gewerkschaften schwächt, überhaupt noch haben sollten, wenn sie die Kosten der Arbeitslosigkeit fast ganz auf die Allgemeinheit, hauptsächlich die Lohn- und Mehrwertsteuer zahlenden Massen abwälzen könnten. Drittens ist die Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen für die Betroffenen weniger diskriminierend als die Abhängigkeit von staatlicher Hilfe, deren Inanspruchnahme ihnen wahrscheinlich noch mehr Missbrauchsvorwürfe eintragen würde, weil ihr keine "Gegenleistung" in Form von Beitragsleistungen entspricht.

Alternativen zum neoliberalen Um- bzw. Abbau des Sozialstaates

M.E. geht es darum, die spezifischen Nachteile des deutschen Sozialstaatsmodells auszugleichen, ohne seine besonderen Vorzüge preiszugeben. Strukturdefekte des "rheinischen" Wohlfahrtsstaates bilden seine duale Architektur (Spaltung in die Sozialversicherung und die Sozialhilfe), seine strikte Lohn- und Leistungsbezogenheit (Äquivalenzprinzip) sowie seine Barrieren gegen Egalisierungs-tendenzen (Beitragsbemessungsgrenzen; Versicherungspflichtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung; Freistellung prekärer Beschäftigungsverhältnisse von der Sozialversicherungs- bzw. Steuerpflicht). Der entscheidende Pluspunkt des Bismarck’schen Sozialsystems gegenüber anderen Modellen liegt jedoch darin, dass seine Geld-, Sach- und Dienstleistungen keine Alimentation von Bedürftigen und Benachteiligten aus Steuermitteln darstellen, die je nach politischer Opportunität widerrufen werden kann, sondern durch Beitragszahlungen erworbene (und verfassungsrechtlich garantierte) Ansprüche.

Das in der Bundesrepublik bestehende System der sozialen Sicherung speist sich nur zu etwa einem Drittel aus Steuereinnahmen; zwei Drittel der Finanzmittel stammen aus Beiträgen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber. Umso wichtiger wäre es, durch eine Übertragung des Prinzips der ökonomischen Leistungsfähigkeit auf dieses Gebiet für mehr Beitragsgerechtigkeit zu sorgen. Statt alle nicht dem Äquivalenzprinzip entsprechenden Leistungen gleich als "versicherungsfremd" zu brandmarken, was der Logik gewinnorientierter Privatversicherungen entspricht, müsste man überlegen, wie ein Mehr an solidarischer Umverteilung innerhalb der Sozialversicherungzweige zu realisieren und die Öffentlichkeit dafür zu gewinnen ist. Nahe lägen die Aufhebung der im Grunde systemwidrigen Versicherungspflichtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung sowie die An- oder Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen (unter Beibehaltung der Leistungsobergrenzen).

Der bestehende Sozialstaat ist erwerbsarbeits-, ehe- und erwachsenenzentriert. Durch gesellschaftliche Strukturveränderungen wie die Globalisierung bzw. neoliberale Modernisierung, Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen wird er auf folgenden Ebenen verstärkt unter Druck gesetzt:
  • Im Produktionsprozess löst sich das Normalarbeitsverhältnis, von der Kapitalseite unter den Stichworten "Deregulierung" und "Flexibilisierung" vorangetrieben, tendenziell auf. Es wird zwar keineswegs ersetzt, aber durch eine ständig steigende Zahl atypischer, prekärer, befristeter, Leih- und (Zwangs-)Teilzeitarbeitsverhältnisse, die den so oder gar nicht (mehr) Beschäftigten wie ihren Familienangehörigen weder ein ausreichendes Einkommen noch den erforderlichen arbeits- und sozialrechtlichen Schutz bieten, in seiner Bedeutung stark relativiert.
  • Im Reproduktionsbereich büßt die Normalfamilie, d.h. die z.B. durch das Ehegattensplitting im Einkommensteuerrecht staatlicherseits subventionierte traditionelle Hausfrauenehe mit ein, zwei oder drei Kindern, in vergleichbarer Weise an gesellschaftlicher Relevanz ein. Neben sie treten andere Lebens- und Liebesformen, die zumindest tendenziell weniger materielle Sicherheit für Kinder gewährleisten (sog. Ein-Elternteil-Familie, "Patchwork-Familie", gleichgeschlechtliche Partnerschaft usw.).
  • Hinsichtlich der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates bedingt der Wettbewerb zwischen den "Wirtschaftsstandorten" einen Abbau von Sicherungselementen für "weniger Leistungsfähige", sofern man der Standortlogik folgt und eine neoliberale Politik dominiert.
Sinnvoll wären daher der Um- und Ausbau des bestehenden Systems zu einer Art "Bürgerversicherung". Denn die noch vorhandenen Sicherungslücken können nur durch eine Universalisierung geschlossen werden: Eine allgemeine Versicherungs- und Mindestbeitragspflicht für sämtliche Wohnbürger/innen (eben nicht nur Arbeitnehmer/innen) würde die Sozialversicherung auf eine breitere Grundlage stellen, wobei der Staat die Beiträge im Falle fehlender oder eingeschränkter Zahlungsfähigkeit voll oder teilweise subventionieren, grundsicherungsorientiert und bedarfsbezogen zuschießen müsste.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge, geb. 1951, leitet die Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.

Es folgt eine Auswahl seiner wichtigsten Buchveröffentlichungen zum Thema:
  • Butterwegge, Christoph: Wohlfahrtsstaat im Wandel. Probleme und Perspektiven der Sozialpolitik, 3. Aufl. Opladen (Leske & Budrich) 2001
  • Butterwegge, Christoph/Klundt, Michael (Hrsg.): Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel, 2. Aufl. Opladen (Leske & Budrich) 2003
  • Butterwegge, Christoph (u.a.): Armut und Kindheit. Ein regionaler, nationaler und internationaler Vergleich, Opladen (Leske & Budrich) 2003
  • Butterwegge, Christoph/Kutscha, Martin/Berghahn, Sabine (Hrsg.): Herrschaft des Marktes - Abschied vom Staat?, Folgen neoliberaler Modernisierung für Gesellschaft, Recht und Politik, Baden-Baden (Nomos) 1999

Reform-Propaganda und eine (fast) geschlossene Gesellschaft

Kommentar zum Symposium 'Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme' aus 'Lokalberichte Köln' vom 10.12.2003

Samstag, 29. November 2003, Hauptgebäude der Universität zu Köln: auf dem Albertus-Magnus-Platz vor dem Hauptgebäude sind zahlreiche Polizeifahrzeuge aufgefahren, und im Gebäude selbst hält sich Polizei mit Schilden für eine Abwehrschlacht versteckt. Was gilt es zu sichern? Und was ist mit der Gewalt des Staates abzuwehren? Es geht an diesem Tag um die "Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme". Also dient die Polizei der Sicherung unseres sozialen Systems, könnten wir vermuten. Und abzuwehren sind die Kräfte, die das System zu zerschlagen trachten, folgern wir. Wir können nur Vermutungen darüber anstellen, ob diese Annahme richtig ist.

Angekündigt sind eine Reihe gefährlicher Personen, deren erklärtes Ziel es ist, das soziale System in Deutschland zu demontieren, darunter Bundesministerin Ulla Schmidt und der Vorsitzende der Rürup-Kommission und KölnAlumni-Mitglied, Professor Dr. Dr. h.c. Bert Rürup. Und angekündigt ist eine Kundgebung gegen die Demontage, zu der insbesondere die Hochschulgruppe von attac eingeladen hat. Ist die Polizei zu deren Unterstützung und Sicherung gekommen?

Wer oder was ist KölnAlumni? Das ist ein Zusammenschluß von "Professoren, Vorständen von Dax-Unternehmen, Bundestagsabgeordneten" (so die Selbstdarstellung) und anderen Stützen unserer Gesellschaft. Das ist eine Organisation, die am 29. November 2003 das erwähnte Symposium mit dem Ziel, den Sozialabbau als unumgängliches Schicksal darstellen zu lassen, geplant hat und für die Durchführung die Bayer AG als Hauptsponsor auf ihrer Seite hat. Die Veranstaltung hat den Titel "Die Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme". Sie trägt nicht den Titel: "Über die Notwendigkeit der Sicherung unserer sozialen Systeme durch deren Zerschlagung", obwohl diese Formulierung der Absurdität der vorherrschenden Argumentation deutlich näher käme.

Doch nicht jedem leuchtet die Logik "Sicherung durch Zerschlagung" ein. Und deshalb sehen sich die Planer des Symposiums dazu berufen, zu steuern, wer die Veranstaltung zu besuchen hat und wer nicht. Sicher ist sicher. Denn die Erkenntnis, daß die Zerschlagung der Sozialsysteme ein Resultat der Politik des globalen Kapitals ist, wird offenbar als fauler Apfel betrachtet, der das 'saubere' Gedankengebäude verseuchen könnte. Ein starkes Aufgebot von Security-Kräften sorgt dafür, daß nur angemeldete Personen Zutritt erhalten und daß jegliches Gepäck draußen bleibt. Trotzdem lassen sich kritische Stimmen nicht gänzlich unterdrücken. Zutritt besteht nur nach Anmeldung. "Die Veranstaltung ist bis auf den letzten Platz ausgebucht. Weitere Anmeldungen können nicht mehr entgegen genommen werden!", heißt es sicherheitshalber auf der website von KölnAlumni. Wir sehen in der Aula der Universität, wo die Veranstaltung stattfindet, allerdings zahlreiche freie Plätze. Wie ist das zu erklären? Auch die Plätze der Hauptsponsoren, der Bayer AG, bleiben frei. Und auch Ministerin Ulla Schmidt kommt nicht..

Wir spüren die Unruhe unter denen, die die Umverteilung von unten nach oben durchführen wollen. Die Verfechter des sozialen Kahlschlags werden nervös, wenn hundert kritische Studenten kommen. Sie könnten ja die tatsächlichen Zusammenhänge durchschaubar machen und die Reform-Propaganda als solche entlarven. Doch ganz können die Veranstalter nicht bei ihrer fundamentalistischen Haltung bleiben. Aufgrund der Proteste gegen die Art der Veranstaltung sehen sie sich gezwungen, kurzfristig einen Referenten auf's Podium zu holen, der doch tatsächlich die Zusammenhänge zwischen Sozialabbau und der 'neoliberalen' kapitalistischen Politik zum Thema macht: Christoph Butterwegge, Leiter der Abteilung für Politikwissenschaften an der Uni Köln.

Wenn wir für ein Glas Bier zu bezahlen haben, warum dann nicht auch für einen Studienplatz. So oder ähnlich formuliert Bert Rürup in seinem Vortrag und versucht damit, den meisten Anwesenden nach dem Munde zu reden. Nun gut, ganz so hat Herr Rürup es nicht formuliert. Aber wenn wir das Glas Bier durch Kindergartenplätze ersetzen, dann ist es genau das, was er allen Ernstes von sich gegeben hat. Prof. Christoph Butterwegge folgt dieser destruktuiven Logik nicht. Er zieht den umgekehrten Schluß. Nicht nur auf Studien- sondern auch auf Kindergartenplätze besteht ein Anrecht - und zwar kostenlos. Und sogar die Umverteilung von unten nach oben, die mit dem Sozialabbau vollzogen wird, ist für Christoph Butterwegge Thema. Und er wagt es - unter den entgeisterten Blicken der meisten Anwesenden - den Millionären in diesem unseren Lande eine stärkere Beteilung an der Sicherung der Sozialsysteme abzuverlangen. (an)


Prof. Butterwegge unter Beschuß wg. Alumni Veranstaltung

Politisches Engagement von Professoren unerwünscht - Artikel von Raphaela Häuser und Beate Schulz in der 'taz Köln' vom 16.1.2004

Dem Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge drohen Disziplinarmaßnahmen. Der Senat der Uni Köln unterstellt ihm, er habe im November bei einer Podiumsdiskussion Studierendenproteste initiiert. Rektor Küpper wirft ihm vor, den Programmablauf gestört zu haben.

Der Senat der Kölner Universität droht einem Politikprofessor mit Disziplinarmaßnahmen, nachdem dieser im November auf einer Podiumsdiskussion im Uni-Hauptgebäude Kritik am Sozialabbau geübt hat. Das geht aus einem Protokoll des Senats vom Dezember 2003 hervor, das jetzt öffentlich wurde. Das Verhalten des Professors vermittle "der Öffentlichkeit ein schlechtes Bild der Universität zu Köln", heißt es dort.

Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaft an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät und bundesweit bekannt für seine Publikationen über Rechtsextremismus und Neoliberalismus, hatte Ende November auf dem Podium einer Veranstaltung des universitären Fördervereins "Köln-Alumni" Platz genommen - auf Drängen von protestierenden Studierenden und auf Bitten des Rektors Tassilo Küpper, wie er betont.

Zu der vom Bayer-Konzern gesponserten Veranstaltung zum Thema soziale Sicherungssysteme waren neben einem Vertreter des Gesundheitsministeriums und dem Gesundheitsökonom Karl Lauterbach ausschließlich Wirtschaftswissenschaftler als Redner geladen. Kein ausgewogenes Verhältnis, fand ein Bündnis von Kritikern und rief zu einer Protestkundgebung auf. Laut Dieter Asselhoven, Mitglied der Hochschulgruppe "Alternative Liste", der die Kundgebung angemeldet hatte, bot der Rektor den Studierenden als Kompromiss an, eine Person für das Podium zu benennen. Daraufhin schlugen diese den im Publikum anwesenden Butterwegge vor.

Von diesem Kompromissangebot will Rektor Küpper heute nichts mehr wissen. Auf der Senatssitzung im Dezember wurde von professoraler Seite spekuliert, Butterwegge sei der eigentliche Initiator der Proteste gewesen, berichtet Karsten Kratz, studentischer Vertreter im Senat. Begriffe wie "disziplinarrechtliche Maßnahmen" und "akademische Rüge" seien in der hitzigen Diskussion gefallen. Zu einem Nachspiel im Senat kam es am 7. Januar. Kratz beanstandete das Protokoll der vorherigen Sitzung, in dem von einer "einvernehmlichen Missbilligung" die Rede sei. Sein Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, eine andere Formulierung würde die Rüge zu sehr abschwächen.

Butterwegge selbst hat bisher von der Universität noch keine Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Asselhoven erläutert, durch seine Teilnahme habe Butterwegge "zur Deeskalation des Konflikts beigetragen und eine Podiumsbesetzung verhindert". "Dass man mir hinterher unkollegiales Verhalten vorwirft, finde ich äußerst merkwürdig", kritisiert Butterwegge. Für den Rektor ist jedoch "uninteressant", wer Butterwegge um seine Teilnahme gebeten habe. Er wirft ihm vor, den Programmablauf gestört zu haben, was Butterwegge von sich weist. Zu den angedrohten Konsequenzen befragt, wiegelt Küpper ab: "Da wird wohl nichts mehr kommen." Es müsse aber noch ein Gespräch mit Butterwegge stattfinden.