Stuttgart, 3.4.2004 - 'Aufstehn, damit es endlich besser wird' - Europaweiter Aktionstag gegen SozialabbauBilder

Aufstehn, damit es endlich besser wird!

DGB-Aufruf zum Europäischen Aktionstag am 3. April 2004 - Berlin, Köln, Stuttgart

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,

dass Sie jetzt für Ihre Gesundheit tiefer in die Tasche greifen müssen, dass Arbeitgeber mit Lohn- und Gehaltskürzungen und Arbeitszeitverlängerungen drohen, dass Arbeitslose zunehmend sozial deklassiert statt vermittelt werden, dass in unseren Schulen Unterricht ausfällt und Studienplätze abstatt aufgebaut werden, alles das ist kein Zufall.

Niemand wird bestreiten, dass der Sozialstaat in Deutschland vor großen Herausforderungen steht. Zukunftsgerechte Reformen sind notwendig. Statt sich dieser Aufgabe mit aller Kraft zu stellen, soll uns weis gemacht werden, dass unsere soziale Sicherung und die öffentlichen Dienstleistungen zu teuer sind und es ohne Kürzungen nicht geht. Es wird von unten nach oben umverteilt. Nicht nur in Deutschland, überall in Europa singen marktradikale Politiker und Unternehmer das gleiche Lied: Die Löhne und Gehälter sind zu hoch, die Arbeitszeiten zu kurz. Überall die gleiche einfältige Predigt. Wie diese Arbeitgeber den Beschäftigten drohen, so drohen sie auch der Politik: Wenn der Sozialstaat nicht billiger wird und Arbeitnehmerrechte nicht abgebaut werden, wollen sie unserem Land den Rücken kehren. Sie wollen sich aus ihrer Verantwortung für die Sozialversicherungen stehlen. Und sie wollen keine Steuern mehr für Leistungen bezahlen, von denen gerade sie profitieren, seien es Schulen, Hochschulen und Kindergärten oder auch Straßen und Kultureinrichtungen.

Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer und ihre Familien lassen sich weder erpressen noch für kurzsichtige Gewinninteressen instrumentalisieren. Die Gewerkschaften Europas nehmen diese Politik nicht länger hin. Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger sowie alle demokratischen Organisationen und Bewegungen auf, am 3. April 2004 gemeinsam für sozial gerechte Reformen in Deutschland und Europa zu demonstrieren.

Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit in Europa!

Demonstrieren Sie mit Ihrer Familie und ihren Freunden für ein Europa, in dem alle Menschen die Chance haben, ein Leben in Freiheit und Würde zu führen. Werden Sie Teil einer Bewegung für eine europäische Wirtschafts- und Sozialordnung, die den Menschen dient. Wir wollen Arbeit für alle von der man in Würde leben kann. Stehen wir zusammen für eine solidarische Gesundheitsversicherung und für Renten, die ein würdiges Leben im Alter sichern. Und wir fordern mehr Geld für Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Demonstrieren Sie mit uns für ein Europa, in dem die Bürgerinnen und Bürger teilhaben können an allen für sie wichtigen Entscheidungen, in den Parlamenten genau so wie in den Betrieben und Unternehmen.

Zeigen Sie, dass Sie für ein sozial verfasstes Europa der Bürgerinnen und Bürger stehen.


Es geht auch anders! Gemeinsam Gegen Sozialabbau - Für soziale Gerechtigkeit

ver.di-Aufruf zum Europäischen Aktionstag am 3. April 2004 - Berlin, Köln, Stuttgart

Seit Monaten hören wir dieselbe Leier: Die Einkommen sollen runter - die Arbeitszeit soll rauf, die Arbeitslosenhilfe muss weg - jede Arbeit ist zumutbar, egal zu welchem Preis. Für die Gesundheit muss immer tiefer ins Portmonee gegriffen werden: Für Eintrittsgeld beim Arzt und höhere Zuzahlungen bei Medikamenten. Auch die Beiträge fürs Krankengeld sollen wir demnächst allein bezahlen.

Und jetzt geht`s noch an die Rente! Zug um Zug drohen Kürzungen. Auf unter 40 % des Bruttoeinkommens sollen die Einkünfte im Alter sinken. Das trifft vor allem die heute Dreißig- und Vierzigjährigen, also die künftigen Rentnergenerationen.

Öffentlich wird von Eliteuniversitäten geschwärmt, während den Hochschulen die Mittel gekürzt werden. Die Zahl der Ausbildungsplätze sinkt und die Ausbildungsplatzumlage ist noch immer umstritten.

Für viele Politiker ist das alles noch lange nicht genug. Sie wollen den Kurs weiter radikalisieren: Mit Kopfpauschalen in der Krankenversicherung die soziale Schieflage verschärfen, Tarifverträge aushöhlen, Kündigungsschutz abschaffen, Mitbestimmungsrechte streichen.

Der soziale Kahlschlag sei notwendig, um den Sozialstaat zu retten und Arbeitsplätze zu schaffen, wird uns entgegen gehalten. Wir sagen: Damit wird der Sozialstaat nicht gerettet und Arbeitsplätze werden nicht geschaffen.

Das geht anders!

Wir wollen mit einer anderen sozial gerechten Wirtschafts- und Sozialpolitik den Sozialstaat zukunftsfest machen und Arbeitsplätze schaffen. Es gibt Alternativen zu Sozialabbau und Lohnsenkung. Andere Länder machen es uns vor: Skandinavier, Briten oder selbst die Amerikaner, sie alle haben mit öffentlichen Investitionen erfolgreich die Wirtschaft angekurbelt. Das schafft Beschäftigung und stabilisiert die sozialen Sicherungssysteme.

Wir müssen gegensteuern statt in die Krise hineinzusparen, mit Investitionen in Bildung, Umwelt, Forschung und Entwicklung. Und zwar jetzt!

Damit der Aufschwung, den alle erwarten, schneller kommt und kräftiger ausfällt und sich positiv auf die Menschen und den Arbeitsmarkt auswirkt. Die Binnennachfrage muss gestärkt werden statt sie durch Sozialabbau und Lohnsenkung zu schwächen. Dafür brauchen wir mehr Steuergerechtigkeit, denn auch die Unternehmen und die Vermögensmilliardäre und -millionäre müssen endlich ihren Beitrag leisten.

Wir wollen eine Politik, die soziale Reformen wieder auf die Tagesordnung setzt. Wir sind für eine Politik, die Arbeitslosigkeit bekämpft und nicht die Arbeitslosen.
  • Für Einkommen, die zum Leben reichen.
  • Für eine auskömmliche Rente.
  • Für den Ausbau der Bildungseinrichtungen und qualifizierte Ausbildungsplätze für unsere Jugend.
  • Für soziale Gerechtigkeit.
  • Für ein solidarisches Gesundheitssystem.
  • Für eine gerechte Besteuerung von Gewinnen, Vermögen und großen Erbschaften.
  • Für eine Gemeindefinanzreform, die die Städte und Gemeinden wieder handlungsfähig macht.
Dafür gehen wir am 3. April 2004 zeitgleich in Berlin, Köln und Stuttgart auf die Straße! Steht auf! Mit ver.di zum Europäischen Aktionstag für ein soziales Deutschland in einem sozialen Europa.


Für soziale Gerechtigkeit und demokratische Teilhabe!

Rede von Frank Bsirske, ver.di-Vorsitzender, in Stuttgart am 3. April 2004

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,

es ist ein wunderbares Gefühl, heute hier unter euch zu sein. Und es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass auch anderswo die Menschen heute demonstrieren. In vielen Ländern Europas geht es dabei um die gleichen Fragen:
  • Reichen die Löhne zum Leben?
  • Wie sicher sind die Renten?
  • Wird die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft?
  • Wie steht es um die Zukunft der Gesundheitsversorgung?
  • Und wie um die Ausgestaltung des Bildungssystems?
Deutschland macht da keine Ausnahme. Auch hier geht es darum, wie in Zukunft die Lebensbedingungen von Arbeitenden und Arbeitslosen, Auszubildenden, Rentnerinnen und Rentnern aussehen sollen!

Vor einem Jahr hat der Bundeskanzler seine Agenda 2010 vorgelegt, mit einschneidenden sozialen Verschlechterungen für breite Teile der Bevölkerung.

Jetzt haben CDU und CSU mit einer eigenen Agenda - gewissermaßen mit einem Regierungsprogramm 2006 - nachgezogen. Was diese Agenda wie ein schwarzer Faden durchzieht, ist das Motiv der Radikalisierung: „Wir haben noch nicht genug umverteilt, jetzt geht’s erst richtig los!“ - Das ist die Botschaft.

Aber: Manch einem Hardliner in den Unternehmerverbänden und im Wirtschaftsflügel ist das noch lange nicht genug: Flächentarifverträge - erklärt der Industrieverbandschef Rogowski - sollten am besten alle verbrannt werden und die Krankenversicherung insgesamt privatisiert. Kranke sollten dann mehr zahlen als Gesunde und Ältere mehr als Jüngere.

Schröder hat aufgeschlagen, die CDU legt nach und die Unternehmerverbände erklären, dass das alles noch nicht weit genug geht. Das ist das Muster.

Rentenkürzungen? - Reichen nicht. Die Rente erst mit 67 und zwar schon ab diesem Jahr fordert Arbeitgeber-Präsident Hundt. Was schert es ihn, dass Menschen dann noch zwei Jahre länger arbeitslos sind und dafür anschließend mit noch niedrigerer Rente bezahlen? Hauptsache ist doch, die Lohnkosten sinken und der Profit steigt!

Arbeitslosenhilfe streichen? - Reicht nicht: Die Sozialhilfe muss gekürzt werden. Um 25 Prozent, sagtt Stoiber. Es müsse endlich Schluss sein - O-Ton Stoiber - mit der „rot-grünen Rumeierei“. Und dann kommt der Hundt. Und sagt: „Reicht alles nicht.“ Man müsse die Sozialhilfe um 30 Prozent kürzen. So läuft das gegenwärtig!

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, geht es nach den Rogowskis, Merzs und Westerwelles, dann ist die Agenda 2010 nur die Ouvertüre, die Ouvertüre zu einer Symphonie mit dem Namen „Systemwechsel“.

Von Seiten der Arbeitgeber- und Industrieverbände kommt das immer dreister, offener und aggressiver daher und CDU/CSU zieht mit, mit einer eigenen Agenda:
  • Einen Betriebsrat zu wählen - dassteht da drin - soll wieder schwerer werden.
  • Langzeitarbeitslose sollen ein Jahr unter Tarif arbeiten.
  • Leiharbeitnehmer sollen erst nach einem Jahr das Recht auf gleiche Bezahlung haben.
  • Arbeitslose sollen im ersten Monat erst mal 25 Prozent weniger Arbeitslosengeld kriegen.
So sieht sie aus, die schwarze Agenda.

Und mittenmang ein Kandidat für das höchste Amt, das dieses Gemeinwesen zu vergeben hat, der so tut, als sei es die Aufgabe des Bundespräsidenten, unter der Woche den Pressesprecher der CDU-Bundesgeschäftsstelle zu geben - und am Wochenende als Sprachrohr der Arbeitgeberverbände Stimmung gegen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu machen.

Da ist es wahrhaftig an der Zeit, aufzustehen und deutlich zu machen, dass wir so nicht gewettet haben!

Da machen wir natürlich nicht mit!

Da wird zunächst in der Metallindustrie der Angriff auf die 35-Stunden-Woche abgewehrt. Und dann kommt der Hundt und nennt den Abschluss beschäftigungsfeindlich. Und jetzt meint der Stoiber, er könne sich den öffentlichen Dienst für einen Durchbruch in Richtung 42-Stunden-Woche aussuchen - mit anschließender Übertragung auf die ganze Wirtschaft. Das ist beschäftigungsfeindlich, Kolleginnen und Kollegen, da stehen unsere Arbeitsplätze auf dem Spiel, zuerst im öffentlichen Dienst und dann in der Privatwirtschaft! Wer so einen beschäftigungspolitischen Unsinn durchsetzen will, wird sich überheben.

Da soll doch niemand glauben, dass wir tatenlos zugucken werden!

Und, Kolleginnen und Kollegen, da muss man auch ganz aufmerksam hinhören, wenn die CDU zum Regierungsprogramm erhebt, die Verbindlichkeit von Tarifverträgen auszuhebeln und ihre Nachwirkung zeitlich einzuschränken. Und der Arbeitgeberpräsident Hundt erklärt darauf hin: Es gehe aber nicht nur um eine gesetzliche Öffnungsklausel für Tarifverträge. Es gehe zugleich um die Verhinderung unverhältnismäßiger Arbeitskampfmaßnahmen und des Missbrauchs des Streikrechts durch Minderheiten in den Betrieben - alles O-Ton Hundt.

Kolleginnen und Kollegen, was da eingefordert wird, ist die Einschränkung des Streikrechts!

Ist es da nicht wahrhaftig an der Zeit, aufzustehen und deutlich zu machen, dass wir so nicht gewettet haben? Aufzustehen gerade angesichts der Einäugigkeit, mit der die Debatten geführt werden.

Man muss sich das einmal klar machen: Da wollten die Generalsekretäre von CDU und CSU zunächst für Menschen ab 50 Jahren jeden Kündigungsschutz wegfallen lassen - grade so, als hätten die Menschen mit Erreichen des 50. Lebensjahres jeden Kündigungsschutz ohnehin verwirkt! Dann wird das im letzten Augenblick abgemildert: Und dann maulen die Hardliner im Arbeitgeber- und Unternehmerlager, die Union sei nicht konsequent genug. Man muss sich das vorstellen: Zwischen den CDU-Beschlüssen zur Kopfpauschale - also dem Systemwechsel in der Krankenversicherung - und den Beschlüssen zur Steuerreform - mit weiteren Entlastungen für Kapitalgesellschaften - klafft so eine klitzekleine Finanzierungslücke von gut 50 Milliarden Euro. Wie kann man das anders nennen als absolut unseriös? Wer mit einem solchen - einmal neudeutsch gesagt - "Businessmodell", einem solchen Geschäftskonzept an eine Bank herantritt, der kriegt von ihr keinen roten Heller. Der kriegt Kredit nur von Vollidioten! Trotzdem werden aber finanziell total unseriöse Beschlüsse gefasst. Und was macht der Bankenverband? Er kritisiert. Aber was kritisiert er? Er kritisiert, dass CDU/CSU nicht den Mut gehabt hätten, noch weiter gehende Entlastungen auf dem Gebiet des Unternehmensbesteuerung zu beschließen. Da sind Leute am Werk, die den Hals nicht voll genug kriegen. Kolleginnen und Kollegen, die Menschen sollen weich geklopft, das Land sturmreif gemacht werden! Geht es nach den Rogowskis, nach den Merzs und Westerwelles, dann soll der Damm sozialer Sicherungen, in den die Agenda 2010 große Löcher geschlagen hat, 2006 auf breiter Front aufgebrochen werden:
  • Arbeitszeiten rauf, Löhne runter,
  • Tarifverträge lockern,
  • soziale Sicherungsstandards runter schrauben,
  • Gewerkschaften biegen und wenn das nicht geht: brechen!
  • So weht der neoliberale Wind gegenwärtig durch alle Stuben der Republik!
Diesen Gassenhauer hören wir nun schon etliche Jahre: dass wir uns das alles nicht mehr leisten können, dass die Löhne sinken müssen, damit Deutschland im internationalen Standortwettbewerb bestehen könne.

Doch wo im internationalen Standortwettbewerb stehen wir eigentlich? Exportweltmeister sind wir! Exportweltmeister sind wir in den letzten Jahren geworden - mit noch größerem Vorsprung vor der Konkurrenz als in den Vorjahren!

Exportweltmeister - Nicht zuletzt wegen der niedrigen Lohnstückkosten. Und diese Position hat die Wirtschaft in den ersten Monaten diesen Jahres noch weiter ausbauen können - trotz des gestiegenen Eurokurses.

Und trotzdem verschlechtert sich der Geschäftklimaindex. Und trotzdem beginnt das Vertrauen in den Aufschwung erneut zu wanken. Woran, so frage ich, krankt dann aber die Konjunktur im Exportweltmeister-Land?

Sie krankt an der schwachen Inlandsnachfrage.

Die Inlandsnachfrage ist schwach, der Konsum ist eingebrochen, weil die Einkommen stark gesunken sind - so stark wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Genau das ist das akuteste Konjunkturproblem - und die Agenda-Politik gibt darauf die falschen Antworten: Sie entzieht Kaufkraft, wo es Impulse braucht, und sie vergrößert die soziale Unsicherheit, wo wir Vertrauen in die Zukunft schaffen müssen.

Das gilt ganz gewiss für die Pläne von CDU/CSU. Das gilt aber eben auch für die Schrödersche Variante, die Agenda 2010.

Was der Bundeskanzler mit der Agenda 2010 macht, ist Politik gegen die Interessen der eigenen Stammwählerschaft. Es ist sozial nicht nur höchst einseitig in der Lastenverteilung, sondern noch dazu ökonomisch schädlich.

Und deswegen sage ich: Die Agenda-Politik bietet nicht nur keine Lösung für die aktuellen wirtschaftspolitischen und sozialen Probleme - sie ist selbst ein Teil des Problems.

Kolleginnen und Kollegen, dass wir Reformen brauchen, ist sonnenklar bei weit mehr als vier Millionen Arbeitslosen! Die Arbeitslosigkeit muss bekämpft werden - keine Frage!

Aber was passiert denn gegenwärtig?

Werden die öffentlichen Investitionen ausgeweitet? Nein! Wir brauchen doch nur in unsere Städte zu schauen, um zu sehen, dass dort das Gegenteil passiert.

Die Briten, die Dänen, die Schweden, ja selbst die Amerikaner haben uns vorgemacht, wie es geht: mit einer aktiven Zinspolitik und mit einer Ausweitung öffentlicher Investitionen auch um den Preis höherer Neuverschuldung. Und sie haben damit gute Erfolge erzielt.

Aber - so heißt es - die öffentlichen Kassen seien doch leer und die Verschuldung ohnehin schon hoch. Nur: Warum hat sich das eigentlich so entwickelt? Und ist das gottgegeben oder kann das beeinflusst werden?

Was wir steuerpolitisch in den letzten 25 Jahren erlebt haben, ist eine massive Umverteilung von unten nach oben.

Deutschland hat mittlerweile die zweitniedrigste Steuerquote aller Industriestaaten, nur die Steuerlasten verteilen sich sehr ungleich: Der Anteil der Lohnsteuer am Steueraufkommen ist 25 Jahre lang fortgesetzt gestiegen, während sich der Anteil von Gewinn- und Vermögensteuer von 29 Prozent im Jahre 1980 auf 14 Prozent mehr als halbiert hat. Die fehlenden 15 Prozentpunkte entsprechen gegenwärtig über 70 Milliarden Euro jedes Jahr. Das ist Geld, das fehlt, um in der Krise gegenzusteuern, Geld, das fehlt für die Bewältigung wichtiger gesellschaftlicher Aufgaben.

Und da will es nicht länger einleuchten, dass auf der einen Seite die Knappheit öffentlicher Kassen beklagt wird und auf der anderen Seite offensichtlich genug Geld da ist, um den Reichsten im Lande weiterhin Milliarden zu schenken durch den Verzicht auf die Vermögensteuer.

In einer Situation, wo sich hier und heute unheimlich viele Leute darüber Gedanken machen, ob es den Erwerbslosen und Sozialhilfeempfängern nicht viel zu gut gehe, ist das nichts anderes als Sozialhilfe auf allerhöchstem Niveau für eine Gruppe in dieser Gesellschaft, die das am allerwenigsten nötig hat.

Und das das können wir uns in der Tat nicht länger leisten! Ebenso wenig wie einen europäischen Stabilitätspakt, der das notwendige Gegensteuern in der Krise behindert. Eine Reform des Stabilitätspakts ist ebenso nötig wie eine andere Zinspolitik der Europäischen Zentralbank.

Und genau so nötig ist eine Reform unseres sozialen Sicherungssystems.

Die Sozialversicherungen ächzen unter der Massenarbeitslosigkeit, unter den Privilegien von Pharmalobby und Kammerärzten und unter der Tatsache, dass der Aufbau Ost massiv von den Versicherten getragen wird statt aus Steuermitteln.

Aber werden diese Aufgaben angepackt? Wird stärker auf eine Steuerfinanzierung umgestellt? Wird daran gegangen, den Versichertenkreis in Richtung Bürgerversicherung auszuweiten?

Zu vieles ist da liegen geblieben. Statt dessen wird das Heil in Kürzungen gesucht.

Bei der Rente - bis zu 20 Prozent weniger. Das trifft die heute 35- bis 40-Jährigen besonders - ohne dass mal jemand gefragt hat, was den Menschen eigentlich eine auskömmliche Rente wert ist.

Braucht man offenbar nicht, warum auch, wenn es einen selber nicht betrifft, weil die eigene Altersversorgung als Abgeordneter großzügig ausgepolstert ist oder weil man als Unternehmensvorstand mit seinen Tantiemen schon nicht auf den Hund kommt.

Es kann nicht sein, dass jemand, der 35 jahre gearbeitet hat, um seine Rente bangen muss.

Das Heil in Kürzungen sucht man in der gesetzlichen Krankenversicherung - beim Krankengeld und Zahnersatz und Praxisgebühr.

Und das Heil in Kürzungen wird in der Arbeitslosenversicherung gesucht, wo grad so getan wird, als mangele es nicht an Arbeitsplätzen, sondern vor allem an Arbeitsbereitschaft und als müssten die Arbeitslosen nur ordentlich unter Druck gesetzt werden - dann würde es schon Arbeit geben. Wie sehr muss man denn die Bodenhaftung verloren haben, um vor solch einem Hintergrund eine solche Politik zu machen?

Jetzt wird die Arbeitslosenhilfe gestrichen. Drei Millionen Menschen und ihre Angehörigen werden von 2005 an in ein noch nicht existierendes Fürsorgesystem überführt. Und viele von ihnen werden einen drastischen Rückgang der Unterstützung zu beklagen haben. Fünf Milliarden Euro sollen dabei jedes Jahr eingespart werden - genauso viel, wie die Spitzenverdiener dank der Senkung des Spitzensteuersatzes an Steuern sparen.

Wie passt das zusammen?

Und es geht weiter: Vom nächsten Jahr an sollen Erwerbslose jede Arbeit annehmen müssen. Andernfalls droht massive Leistungskürzung. Als zumutbar gilt dann auch ein Arbeitsplatz mit einem Lohn 30 Prozent unter dem ortsüblichen Niveau.

So wird der Druck auf die Löhne derer verstärkt, die Arbeit haben.

So wird der Lebensstandard abgesenkt. So wird Kaufkraft gedrosselt - und dann wundern sich die Verantwortlichen, dass die Binnennachfrage lahmt und die Wirtschaft trotz Exportrekorden nicht aus dem Quark kommt.

Wir reden im Osten von Löhnen mit 4,62 Euro die Stunde - und die sollen noch um 30 Prozent nach unten getrieben werden!

Ja, wir haben Probleme. Ja, wir haben Reformbedarf. Auch im Bildungssektor.

Da wird die Weiterbildung für Arbeitslose massiv runtergefahren und gleichzeitig singen die Verantwortlichen das Hohelied auf Wissen und Bildung.

Da grassiert an den Hochschulen der Rotstift, werden Studiengänge geschlossen und Studiengebühren gefordert - und gleichzeitig fabulieren die Verantwortlichen über Elite-Unis.

Kolleginnen und Kollegen, das passt nicht zusammen, so kann es nicht funktionieren! Und so kann es vor allem nicht weitergehen.

Deshalb treten wir dafür ein, dass die Richtung der Politik geändert wird.

Nötig ist:
  • die Sicherung auskömmlicher Mindestniveaus bei Lohn und Rente,
  • die Ausweitung öffentlicher Investitionen vor allem in Bildung und Kinderbetreuung,
  • die Diskussion über eine Bürgerversicherung und
  • eine stärkere Heranziehung des großen Geldes zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben.
Nun hört man, dass bei Rot-Grün über eine Anhebung der Steuer auf große Erbschaften nachgedacht wird, um Bildungsinvestitionen bezahlen zu können. Nur zu!

Auch die Ausbildungsplatzumlage soll kommen. Gut so - sie ist wirklich lange überfällig.

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf soll verbessert, das vorschulische Betreuungsangebot ausgebaut werden - gut, wenn das jetzt angepackt wird. Hoffentlich energisch. Da sind wir dabei. Da werden aber 1,5 Milliarden Euro pro Jahr nicht reichen!

Was es braucht, ist eine grundlegende Änderung der Richtung: Wir brauchen eine andere Politik. Eine Politik, die die Weichen richtig stellt. Dafür stehen wir hier!

Wir kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen, Gruppen und Bewegungen:
  • aus Gruppen, die für eine andere Art der Globalisierung eintreten,
  • aus Vereinigungen von Studentinnen und Studenten,
  • aus Sozialverbänden,
  • aus kirchlichen Gruppen,
  • aus Gewerkschaften,
  • aus Fraueninitiativen.
Ich denke, aus dieser Vielfalt können wir Stärke wachsen lassen - am besten, wenn wir einander ernst nehmen, voneinander lernen, verschiedene Organisationskulturen und Erfahrungen respektieren.

Uns alle eint, dass wir den Menschen über den Profit stellen. Uns eint, dass wir das Eigentum in die soziale Verantwortung nehmen wollen - hier in Deutschland, in Europa und weltweit.

Dass wir uns heute zusammengefunden haben in Stuttgart, Köln und Berlin, aber auch in vielen anderen europäischen Städten, das kann der Beginn einer wirklichen Volksbewegung werden, einer Volksbewegung aus der Mitte der Gesellschaft heraus, einer Volksbewegung für soziale Gerechtigkeit.

Eine Bewegung, die für ebenso klare wie eindringliche Forderungen eintritt. Abschließend möchte ich vier herausstellen:

Erstens: Arbeit darf nicht arm machen. Der Lohn für Vollzeitarbeit muss zum Leben reichen. Das muss gelten für die Kollegin bei Schlecker oder Lidl genauso wie bei dem Mann im Bewachungsdienst oder beim Daimler. Deswegen diskutieren wir, wie wir verbindliche Mindestlöhne durchsetzen können, und bekämpfen die vom Bundestag beschlossene Zumutbarkeitsregelung - oder besser "Unzumutbarkeitsregelung" - für Arbeitslose.

Zweitens: Die gesetzliche Rente muss auskömmlich sein.

Drittens: Wir treten ein für ein Bildungssystem ohne Klassenschranken, das unseren Kindern eine gute Bildung ermöglicht und lebenslanges Lernen fördert.

Und schließlich viertens: Starke Schultern können und sollen mehr tragen als schwache Schultern.

Der Mensch und nicht der Profit muss im Mittelpunkt stehen. Wir wollen eine Gesellschaft, in der die Menschen für sich und füreinander Verantwortung übernehmen.

Wir halten daran fest, dass es eine staatliche und gesellschaftliche Verantwortung dafür gibt, Märkte zu regulieren, Ausgrenzungen zu verhindern, die großen Lebensrisiken solidarisch abzusichern und damit den Menschen selbstverantwortliche Entfaltungsmöglichkeiten zu erschließen.

Kolleginnen und Kollegen, so klar und einleuchtend diese Forderungen sind, so wenig selbstverständlich sind sie mittlerweile geworden. Umso wichtiger ist es, dafür ein- und aufzustehen! Wir setzen dafür heute ein Zeichen! Gemeinsam! Miteinander! Für soziale Gerechtigkeit und demokratische Teilhabe!

Quelle: www.verdi.de


Wir lassen uns den Reichtum nicht vorenthalten

Rede von Astrid Kraus, Mitglied im bundesweiten Attac-Koordinierungskreis in Stuttgart am 3. April 2004

wir sind hier, weil wir die Ausreden satt haben, mit denen den meisten von uns das vorenthalten wird, worauf alle Menschen weltweit einen Anspruch haben: ein gutes Leben in einem friedlichem Umfeld.

Wir sind hier, weil wir gemeinsam, soziale Bewegungen, Erwerbslose, Studierende, Teile der Kirchen und Gewerkschaften, für diesen Anspruch kämpfen wollen! Wir gehen heute hier in Stuttgart mit vielen Menschen in ganz Europa auf die Straße, weil wir eine andere Politik wollen.

Wir lassen uns nicht einschüchtern von der Scheinlogik der neoliberalen Globalisierung. Es gibt kein ökonomisches Naturgesetz, nach dem soziale Grundrechte aller Menschen den Renditeinteressen einer Minderheit geopfert werden müssen. Es gibt keinen Beweis dafür, dass mehr Markt und mehr Privatisierung der Mehrheit der Menschen nützen. Im Gegenteil: Die Schere zwischen Reich und Arm geht weiter auf, weltweit, in Europa und in der Bundesrepublik. Die Konzentration von Reichtum hat unvorstellbare Ausmaße erreicht. Ökologische Katastrophen sind an der Tagesordnung. Märkte werden von Militärs verteidigt, mit ausdrücklicher Zustimmung der großen Industrienationen. Ganze Kontinente werden von der Entwicklung abgekoppelt: Afrika ist abgeschrieben. Immer mehr Menschen sind auf der Flucht, vor Armut, vor Gewalt, auf der Suche nach einem Platz zum überleben.

Es ist höchste Zeit, es einzugestehen: Das neoliberale Experiment ist weltweit gescheitert. Der Turbokapitalismus stößt an seine Grenzen. Es ist höchste Zeit für einen Politikwechsel.

Doch diese Einsicht hat sich noch lange nicht durchgesetzt. Die Frage, ob die derzeitige Krise nicht am weltweiten Ausbeutungssystem selbst liegt, wird erst gar nicht gestellt. Statt die sinnlose Anhäufung von immer mehr Reichtum in den Händen Weniger zu beenden, wird alles daran gesetzt, den Prozess zu beschleunigen. In diesem Sinn hat die Bundesregierung mit der Agenda 2010 ein gigantisches Massenarmutsprogramm aufgelegt. Selbst vor gesetzlichem Arbeitszwang schreckt rot/grün nicht mehr zurück. Wer noch nicht selbst betroffen ist, kann es jederzeit werden. Jeder für sich selbst, heißt die Devise. Das ist die endgültige Aufkündigung des gesellschaftlichen Solidarpaktes.

Auf europäischer Ebene sieht es nicht anders aus: In ganz Europa wetteifern die Regierungen um den radikalsten Sozialkahlschlag. In dem mörderischen Wettbewerb um die besten Anlagebedingungen bleiben die Interessen der Mehrheit der Menschen auf der Strecke. Im internationalen Handel schreien IWF, Weltbank und WTO nach immer weniger Regulierungen. Am besten soll alles weltweit ohne Beschränkung handelbar gemacht werden, soziale und ökologische Standards sind da nur Handelshemmnissen.

Eines wird deutlich: Die Liste der Verlierer ist lang. Aber ich will auch von den Gewinnern reden. Reiche und superreiche Unternehmer und Anleger, die sich auf dem weltweiten Markt der Möglichkeiten die günstigsten Angebote für ihre Investitionen und Spekulationen aussuchen. Wenn die WTO Kapitalanlagegarantien von den ärmsten Ländern für Investitionen fordert, profitieren fast nur große Konzerne. Wenn die Renten weiter privatisiert werden, spült das noch mehr Geld in die internationalen Finanzmärkte. Der Druck auf die Politik, durch unternehmensfreundliche Regelungen mehr Profite zu garantieren, wächst weiter. So macht viel Reichtum viele arm. Das ist die zynische Logik der neoliberalen Globalisierung.

Wir brauchen eine starke Bewegung von unten, die dagegen hält! Denn wir sind die vielen! Es ist unser Reichtum! Und es gibt genug davon, dass alle Menschen in Würde leben können. Hier und anderswo. Die Bundesregierung lügt, wenn sie sagt, dass zu wenig da ist für alle. Es ist nicht nur eine Frage der Verteilung. Es geht darum, ob wir ein System wollen, dass wenige Menschen reich macht und viele arm oder ob wir für Alternativen streiten. Die neoliberale Globalisierung nicht alternativlos. Ihre Folgen sind keine Sachzwänge. Wir sagen es immer lauter und immer wieder: Es geht auch anders!

Wir wollen, dass der Aberglaube an die neoliberale Globalisierung enttarnt wird. Wir wollen, dass Politik nicht für die Interessen von Reiche und Unternehmen gemacht wird. Wir wollen, dass den Ländern des Südens ihre Schulden erlassen werden. Wir wollen, dass soziale Sicherung wirklich absichert und nicht nur die Menschen vor dem Verhungern rettet. Wir wollen, dass Steuerschlupflöcher gestopft werden Wir wollen, dass eine andere Welt keine Utopie bleibt. Wir wollen eine solidarische und friedliche Weltordnung.

Wir lassen uns den Reichtum nicht vorenthalten. Wir haben ein Recht darauf, ihn uns wiederzuholen. Lasst uns dafür gemeinsam kämpfen. In Stuttgart, in Europa, überall. Wir haben genug: Genug von dieser Politik. Denn es ist genug für alle da.

Quelle: www.attac.de