Aachen, 1.9.2004 - Verleihung des Aachener Friedenspreises 2004 an Eren Keskin und die Petersburger SoldatenmütterBilder

Aachener Friedenspreis an Eren Keskin (Türkei) und die Petersburger Soldatenmütter

Programm mit Demonstration und Preisverleihung

Feierliche Verleihung des Aachener Friedenspreises an Eren Keskin (Türkei) und die Petersburger Soldatenmütter

17.30 Uhr, Willy-Brand-Platz
Antikriegstagstagskundgebung des DGB
Musikalisches Programm von und mit Klaus der Geiger

18.15 Uhr
Friedensdemonstration
mit Aixotic Sambistas vom Willy-Brandt-Platz zur Aula Carolina

19.00 Uhr, Aula Carolina, Pontstr. 7-9
Verleihung des Aachener Friedenspreises
  • Grußwort der Stadt Aachen: Oberbürgermeister Dr. Jürgen Linden
  • Begründungsrede: Otmar Steinbicker, Vorsitzender des Aachener Friedenspreis e.V.
  • Laudatio: Barbara Lochbihler, Generalsekretärin der deutschen Sektion von amnesty international
  • Dankreden der Preisträgerinnen Eren Keskin und Ella Polyakova (Petersburger Soldatenmütter)
  • Musikalisches Rahmenprogramm: Maria Palatin' (Harfe und Gesang), Ali Ihsan Dogan (Gesang und Saz)
anschließend: Gemeinsames Feiern in den Räumen der Katholischen Hochschulgemeinde (KHG), Pontstraße 74-76

Quelle: www.aachener-friedenspreis.de


Für ihren mutigen Einsatz für die Menschenrechte - für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure

Erklärung des Aachener Friedenspreis e.V. zur Preisverleihung an Eren Keskin (Istanbul/Türkei) und Petersburger Soldatenmütter (Russland)

Der Aachener Friedenspreis 2004 wird an die türkische Rechtsanwältin Eren Keskin und an die Petersburger Soldatenmütter.Otmar Steinbicker, Vorsitzender des Aachener Friedenspreis e.V. am Freitag vor der Presse in Aachen bekannt. Die Preisverleihung findet am 1. September in Aachen statt.

Die 45jährige Eren Keskin erhält den Aachener Friedenspreis 2004 für ihren mutigen Einsatz für die Menschenrechte. Mit öffentlichen Äußerungen zur türkischen Politik in Menschenrechtsbelangen und zum innerstaatlichen Frieden sowie ihrem besonderen Engagement für verfolgte Frauen hat sie sich selbst stark Gefährdungen ausgesetzt.

Die 1991 gegründete „Gesellschaftliche Rechtsschutzorganisation Soldatenmütter von Sankt Petersburg“ erhält den Aachener Friedenspreis 2004 für ihren mutiges Engagement für mehr als 100.000 russische Kriegsdienstverweigerer und Deserteure sowie für ihren Widerstand gegen den schmutzigen Krieg in Tschetschenien.

Eren Keskin arbeitet seit 1984 als Rechtsanwältin in Istanbul und ist seit der Gründung im Jahre 1986 aktives Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins IHD (Insan Haklari Dernegi), der mit 19.000 Mitgliedern größten Menschenrechtsorganisation der Türkei.

1997 gründete Eren Keskin zusammen mit anderen Rechtsanwältinnen das Projekt “Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell mißhandelt wurden”. Dieses Projekt leistet betroffenen Frauen kostenlosen Rechtsbeistand und unterstützt sie in ihren Klageverfahren gegen die Täter. Die meisten Frauen, die hier Hilfe suchen, sind Kurdinnen.

Anklagen, Verurteilungen (wegen unerlaubter Presseerklärungen), Haft und Morddrohungen gehören für Eren Keskin zum Alltag. Todesdrohungen gehen fast täglich in ihrem Büro ein. Mehrfach wurde sie zu Haftstrafen verurteilt, weil sie in Presseveröffentlichungen den Begriff „Kurdistan“ verwandte, was ihr von türkischen Gerichten als „Separatismus“ ausgelegt wurde. Im Jahre 2002 wurde ihr für ein Jahr die Zulassung als Rechtsanwältin entzogen. Mittlerweile darf Eren Keskin wieder als Rechtsanwältin arbeiten, aber weitere Verfahren drohen.

Petersburger Soldatenmütter: 1991 gründeten zehn Petersburger Bürgerrechtler die „Gesellschaftliche Rechtsschutzorganisation Soldatenmütter von Sankt Petersburg“. Die Petersburger Organisation hat bisher über 150.000 Personen beraten. Mehr als 100.000 Wehrpflichtige konnten mit ihrer Hilfe das gesetzlich verbriefte Recht, nicht zu dienen, durchsetzen, und mehr als 5.000 Deserteure wurden dank ihrer Unterstützung vorzeitig aus der Armee entlassen. Ihre Arbeit gewinnt ihre Bedeutung vor allem vor dem Hintergrund zahlloser Menschenrechtsverletzungen in den russischen Streitkräften. Eine hohe Zahl junger Soldaten kommt Jahr für Jahr während des Wehrdienstes durch Prügel, Totschlag, Folter, Selbstmord und Amoklauf von Kameraden zu Tode. Rund 1.200 Tote waren es nach offiziellen Angaben allein im Jahre 2002.

Rund 1.000 Personen lassen sich jeden Monat von den Petersburger Soldatenmüttern beraten: Angehörige, Wehrpflichtige und auch Wehrdienstleistende, die ihr Einheiten verlassen haben, weil sie die Quälereien nicht mehr aushielten. Allein 2002 sind 6 000 Soldaten desertiert.

Eigenverantwortung und Zivilcourage, die Abschaffung der Zwangseinberufung und der Aufbau einer zivilen Gesellschaft, das sind die Prinzipien und Ziele, denen sich die Petersburgerinnen verpflichtet haben. Dabei haben die Soldatenmütter nicht nur ihre Söhne im Blick. „Wir bitten Tschetschenien um Vergebung, weil auch wir schuld daran sind, was die Armee und der Geheimdienst dem kleinen tschetschenischen Volk antun“, erklärte Ella Poljakowa, eine der beiden Vorsitzenden der Organisation.

Die feierliche Preisverleihung findet, wie in den Vorjahren, am 1. September statt.

Quelle: www.aachener-friedenspreis.de


Geben wir dem Frieden eine Chance

Dr. Jürgen Linden, Oberbürgermeister der Stadt Aachen, Grußwort der Stadt Aachen zur Verleihung des Aachener Friedenspreises am 1. September 2004 in der Aula Carolina, Aachen

Liebe Friedensfreunde, meine sehr verehrten Damen und Herren,

in diesen Tagen jährt sich zum 60. Mal die Befreiung Europas von der Nazi-Diktatur, das Ende des Zweiten Weltkrieges, in diesen Tagen erinnern wir uns noch einmal der grausamsten Form von Gewaltherrschaft, Terror, Menschenverachtung, millionenfacher Verfolgung und Ausrottung, millionenfachem Tod,. Heute herrscht wieder Krieg an vielen 80 Standorten weltweit. Die Menschheit ist immer noch nicht in der Lage, aus den brutalsten Erfahrungen ihrer Geschichte Lehren zu ziehen. Friedensarbeit ist deshalb so notwendig wie eh und je, zugleich so schwierig und kompliziert wie immer zuvor.

Der Frieden braucht, soll er Wirklichkeit werden, Visionen und Visionäre, er braucht Menschen, die das Ideal verwirklichen wollen, denkend, handelnd vor allem mit vielen anderen zusammen. Der Frieden braucht auch Pragmatiker, die das Zusammenleben von Kontrahenten gestalten. Die Saat des Friedens geht nicht von alleine auf. Der Antikriegstag und die Verleihung des Aachener Friedenspreises mahnen uns, unserer Verantwortung für den Frieden gerecht zu werden. Auch die diesjährigen Friedenspreisträger mahnen uns; denn: sie wirken unermüdlich in diesem Sinne.

Mein Gruß und Respekt gilt den Petersburger Soldaten-Müttern, deren Einsatz nicht nur von Angst um ihre Söhne in der russischen Armee geprägt ist, sondern die sich in die Politik einmischen, gegen Unterdrückung, gegen Gewalt und für Demokratie eintreten. Ihr Engagement zeigt, dass Friedenserhaltung auch ein Thema der Innenpolitik ist. Dazu braucht man im heutigen Russland Mut, unerschütterliche Überzeugung, Stärke und Hoffnung. Die Soldaten-Mütter sind Hilfe für viele Einzelschicksale in der Armee; sie sind aber in besonderer Weise ein Symbol für den Frieden.

Mit großer Freude und Bewunderung grüße ich für die Stadt Aachen auch Eren Keskin, die mit ihrem Eintreten gegen den Militarismus in der Türkei, die damit verbundene, verbreitete Gewalt insbesondere gegen Frauen kämpft und selbst ihre persönliche Verfolgung in Kauf nimmt. Die Anklagen, die Einkerkerungen, die Ächtung und auch die Repressalien, die sie erleidet, zeigen, dass man sich für den Frieden nicht verbiegen lassen muss. Die Menschenrechte sind unveräußerlich – auch in der Türkei.

Ich gratuliere für die Friedensstadt Aachen den Preisträgern. Ich freue mich, dass es den Friedenspreis in Aachen gibt. Auch der Preis selbst ist ein Symbol der Hoffnung, eine Einladung für Mut und persönliches Engagement. Das Eintreten für die Menschenrechte ist eine weltweite Aufgabe – auch in Aachen. Geben wir dem Frieden eine Chance.

Quelle: www.aachener-friedenspreis.de


Beitrag für Frieden und Gerechtigkeit

Otmar Steinbicker, Vorsitzender des Aachener Friedenspreis e.V., Begründungsrede zur Verleihung des Aachener Friedenspreises am 1. September 2004 in der Aula Carolina, Aachen

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

für viele von Ihnen bin ich noch ein ungewohntes Gesicht. Nach Bianka Buddeberg, Albrecht Bausch und Gerhard Diefenbach bin ich der vierte Vorsitzende in der Geschichte des Aachener Friedenspreis e.V. Ich empfinde es als eine große Ehre, heute unseren Preis überreichen zu dürfen.

Zum 17. Male verleihen wir heute den Aachener Friedenspreis.

Mit dieser Auszeichnung würdigen wir in jedem Jahr am 1. September, dem weltweiten Antikriegstag, Frauen, Männer oder Gruppen, die von ‚unten her‘ dazu beigetragen haben, der Verständigung der Völker und der Menschen untereinander zu dienen sowie Feindbilder ab- und Vertrauen aufzubauen. Zivilcourage, Gewaltlosigkeit sowie ein unerschrockenes Engagement für Frieden und Menschenrechte zeichnen die Aachener Friedenspreisträgerinnen und Friedenspreisträger aus.

Wenn wir als Bürgerinitiative aus der Aachener Friedensbewegung unseren Preis verleihen, dann stammt unser Preisgeld ausschließlich aus den Beiträgen unserer Mitglieder und erreicht damit natürlich keine Rekordhöhe. Größere Unterstützung erfahren unsere Friedenspreisträgerinnen und Friedenspreisträger durch die Aufmerksamkeit, die ihnen und ihrem Anliegen durch diese Auszeichnung in Deutschland, aber auch in ihren Heimatländern zuteil wird.

Heute verleihen wir den Aachener Friedenspreis an Frau Eren Keskin, die stellvertretende Vorsitzende des Menschenrechtsvereins der Türkei. Sie vertritt als Rechtsanwältin in Istanbul nicht nur professionell politische Angeklagte vor Gericht, sondern hat auch gemeinsam mit Kolleginnen ein Projekt gegründet, das ohne Honorar jenen Frauen in der Türkei kostenlos Rechtsbeistand gewährt, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell misshandelt wurden. Dieser Tabubruch sowie ihr politisches Engagement für die Rechte der kurdischen Bevölkerung in der Türkei haben Eren Keskin Haftstrafen und zeitweiliges Berufsverbot eingebracht. Eren Keskin hat sich nicht brechen lassen. Sie kämpft weiter und wir wollen sie mit der Verleihung des Aachener Friedenspreises in diesem Kampf für Menschenrechte und friedliche Verständigung unterstützen.

Gerne hätte ich unseren Friedenspreis heute auch an eine Mandantin von Eren Keskin persönlich übergeben: An Leyla Zana, die diesen Preis 1995 nicht selbst in Empfang nehmen konnte, weil sie in der Türkei in Haft saß. Vor wenigen Monaten wurde sie frei gelassen, doch sie ihre Gesundheit lässt die Reise nach Deutschland noch nicht zu. Wir holen das nach!

Wir verleihen in diesem Jahr den Aachener Friedenspreis gleichzeitig an die Petersburger Soldatenmütter, die ihre Söhne dem Zugriff des russischen Militärs entziehen und anderen Müttern mit umfassender Rechtsberatung helfen, es ihnen nachzutun. Sie schützen damit ihre Söhne vor einem Militär, das in seinen Kasernen unmenschliche Übergriffe gegen Wehrpflichtige duldet und das in Tschetschenien unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus einen schmutzigen Krieg gegen ein ganzes Volk führt mit Massenverhaftungen von Unbeteiligten, mit Folter und Mord an Zivilpersonen. Wir bewundern die Zivilcourage und die Zähigkeit, mit denen die Petersburger Soldatenmütter für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung streiten und öffentlich dem regierungsamtlichen Feindbild des „terroristischen Tschetschenen“ entgegentreten. Auch dann, wenn Anschläge mutmaßlich von tschetschenischen Terroristen begangen wurden, differenzieren die Soldatenmütter deutlich zwischen diesen militanten Gruppen und dem tschetschenischen Volk.

Das bewundernswerte Engagement von Eren Keskin und den Petersburger Soldatenmüttern in ihren jeweiligen Ländern ermutigt uns, als Angehörige der deutschen Friedensbewegung, auch einen kritischen Blick auf das eigene Land zu werfen. Nicht im Vergleich mit der Situation in der Türkei oder in Russland, wohl aber in Sorge um Deutschlands Beitrag zum Frieden in der Welt und in Sorge um den sozialen Frieden im eigenen Land.

Die bittere historische Erfahrung und das Leid in zwei Weltkriegen, die von deutschem Boden ausgingen, die Weltwirtschaftskrise und die Verbrechen des Naziregimes haben die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes bewogen, einige eherne Grundsätze in die Verfassung unseres Landes zu schreiben. Dazu gehört - und das scheint gegenwärtig in Vergessenheit zu geraten - die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und dazu gehört als unabdingbare Voraussetzung deutscher Außenpolitik das strikte Verbot eines Angriffskrieges.

Wir teilen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund in der Region NRW-Südwest und mit vielen Menschen in unserer Stadt und in unserem Land die Sorge, dass Maßnahmen, die die soziale Gerechtigkeit in Frage stellen, - ich nenne hier nur als Stichwort „Hartz IV“ - unsere Gesellschaft spalten und den inneren und sozalen Frieden gefährden.

Und wir sehen mit Entsetzen, dass die politisch Verantwortlichen unseres Landes sich in ihrer Militärplanung nicht mehr - wie vom Grundgesetz verlangt - auf die Landesverteidigung beschränken, sondern im Widerspruch zur Verfassung die einstige Verteidigungsarmee Bundeswehr nach ihren Kriegseinsätzen im Kosovo und in Afghanistan umstrukturieren, um eine Eingreiftruppe für weltweite Interventionen bereit zu stellen.

Wir haben als Aachener Friedenspreis in den vergangenen Monaten in mehreren Erklärungen unter anderem in unser Kritik an der EU-Verfassung dazu deutlich Position bezogen. Wir tun es heute erneut anläßlich der Verleihung des Aachener Friedenspreises an Eren Keskin und die Petersburger Soldatenmütter. Und wir werden es weiter tun. Es ist unser Beitrag für Frieden und Gerechtigkeit.

Quelle: www.aachener-friedenspreis.de


Feindbilder abbauen, Vertrauen aufbauen

Barbara Lochbihler, Generalsekretärin der deutschen Sektion von amnesty international, Laudatio zur Verleihung des Aachener Friedenspreises am 1. September 2004 in der Aula Carolina, Aachen

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Frau Elena Filanowa, Frau Ella Poljakowa, Frau Eren Keskin, Herr Steinbicker, liebe Damen und Herren,

es ist mir eine Ehre und eine große Freude heute ihrer Einladung nachzukommen und die Laudatio auf die Preisträgerinnen des diesjährigen Aachener Friedenspreises zu halten. Als Vertreterin einer Menschenrechtsorganisation bin ich mir bewusst darüber, dass, wie es der UN Generalsekretär Kofi Annan sehr trefflich gesagt hat, die Menschenrechtsverletzungen von heute die gewalttätigen Konflikte und Kriege von morgen sind.

Menschenrechtsarbeit ist auf das engste verbunden mit den Zielen des Vereins Aachener Friedenspreis, der den Frieden fördern, bestehende Feindbilder abbauen, sowie gegenseitiges Vertrauen aufbauen will und sich gegen jede Form von Militarismus, Rassismus, Nationalismus, Faschismus, Ausländerfeindlichkeit sowie gegen Ausgrenzung von Minderheiten wendet.

Viele von ihnen, meine Damen und Herren, haben heute an der Anti-Kriegsdemonstration teilgenommen. Sie sind auf die Straße gegangen, um ihren Protest auszudrücken, gegen den Krieg und aktuell gegen die verfehlte Kriegspolitik der USA und ihrer Verbündeten, deren entsetzlichen Folgen wir fast täglich in den Medien sehen können. Ein Besatzungskrieg, wie er im Irak geführt wird, zeigt uns mit aller Deutlichkeit die Brutalität und Zerstörungswut eines Krieges, die zu immer weiterem Hass und Grausamkeiten führt.

Menschen in der ganzen Welt, auch in Russland und in der Türkei, sind gegen diesen Krieg auf die Strasse gegangen und fordern von ihren Regierungen die Rückkehr zur Einhaltung und Stärkung des internationalen Rechts und eine ganz entschiedene Abkehr vom Recht des Stärkeren. (400.000 Demonstranten in den USA sind ein positives Zeichen) Für uns Deutsche ist der 1. September Anlass zur Erinnerung an den Überfall auf Polen durch die deutsche Armee, an den Beginn des zweiten Weltkrieges. Wir erinnern uns an die unvorstellbaren Grausamkeiten die dieser Krieg über die Menschen in Europa und in der ganzen Welt gebracht hat. Wir erinnern uns und fragen, warum so viele in unserer Eltern- und Großelterngeneration nicht aufgestanden und den Verbrechern der nationalsozialistischen Diktatur in den Arm gefallen sind. Und wir erinnern uns an die wenigen, die außerordentlichen Mut und menschliche Größe bewiesen und aktiven Widerstand geleistet haben.

Eine von ihnen, die junge Münchner Studentin Sophie Scholl, Mitglied der Widerstandsgruppe Weiße Rose, möchte ich heute besonders hervorheben, weil sie ganz entschieden den autoritären Militarismus kritisiert hat. Als am 01.09.1939 der zweite Weltkrieg begann, hat sie die jungen Männer in ihrer Umgebung, darunter auch deutsche Offiziere, gedrängt, das kriminelle Regime in keiner Weise mehr zu unterstützen. Im Winter 1941/42 wurde die deutsche Bevölkerung aufgefordert, warme Mäntel, Decken, Socken, etc. an die deutschen Truppen zu schicken, die vor Leningrad und Moskau am Erfrieren waren. Sophie Scholl weigerte sich. Sie leugnete nicht, dass es für einen Deutschen gerade so schlimm war wie für einen Russen zu erfrieren, aber sie beharrte darauf, das einzige was zähle sei, dass Deutschland den Krieg so schnell wie möglich verliere - Wollsocken für die deutschen Truppen konnten ihn nur verlängern. Bis zu ihrer Hinrichtung 1943 forderte sie in Briefwechseln und in Flugblättern, dass es einen starken und unnachgiebigen Geist braucht und sanfte Herzen erfordert, um dem autoritären Militarismus zu widerstehen.

Ein unnachgiebiger Geist und ein sanftes Herz ist auch den beiden Preisträgerinnen zueigen. Bei all den Unterschiedlichkeiten in ihrer Persönlichkeit, in ihrer Arbeit, in den unterschiedlichen Entwicklungen ihrer Länder, gibt es doch viel Verbindendes zwischen ihnen.

Ihre Arbeit setzt an bei konkreten Menschenrechtsverletzungen. Ein konkreter Missstand ist Auslöser für mutiges Engagement, das sich ausweitet auf die Frage nach den Ursachen für dieses Unrecht und damit wenden sie sich einer breiteren gesellschaftlichen Realität zu.

Sie beweisen außerordentlichen Mut in der Auseinandersetzung mit Militarismus und dessen Auswüchsen. Als Frauen diskutieren und kritisieren sie Zustände in von patriarchalem Denken durchdrungenen Politikbereichen, wie Sicherheitspolitik und nationale Einheit.

Sie machen anderen Mut, sind ein Vorbild für Männer und Frauen in ihren eigenen Ländern und weit über deren Grenzen hinaus.

Und nicht zuletzt beteiligen sie sich aktiv an der Suche und Gestaltung von friedlichen, politischen Lösungen für die gewalttätigen Konflikte in ihren jeweiligen Ländern, sei es in der Türkei, sei es in Russland.

St. Petersburger Soldatenmütter

Zunächst zu den Preisträgerinnen aus Russland, den Soldatenmüttern aus St. Petersburg, die sich 1991 gründeten. Sie kämpfen für all jene, die Opfer des russischen Militärsystems geworden sind oder noch zu werden drohen. Die Zustände in der russischen Armee sind katastrophal. Ein Problem ist das als „Dedowschtschina“ bekannte Rangordnungssystem unter den Soldaten, nach dem die älteren Rekruten alle Rechte haben und jüngere Soldaten oft unterdrücken, sadistisch quälen oder sogar ermorden. So werden neu angekommene Rekruten von dienstälteren Soldaten systematisch misshandelt und erniedrigt. Sie haben die schlechtesten Arbeiten auszuführen, wobei auf Versäumnisse drakonische Strafen wie Nahrungsmittel- oder Schlafentzug bis hin zu Schlägen mit Ketten oder Vergewaltigung stehen. Die hygienischen Verhältnisse in den Unterkünften sind miserabel; Kranke werden vor vollendeter Genesung wieder ins Feld geschickt. Ein Autor bezeichnete die Rekruten als Sklaven und ihre vorgesetzten Unteroffiziere als Leibeigene, die kaum eine andere Wahl hätten, als ihre Untergebenen zu schlagen, da es keine funktionierenden Sanktionsmechanismen gibt, und sie Angst haben gravierende Verstöße an ihre Vorgesetzten zu melden. Nicht selten versuchen Soldaten zu fliehen oder begehen Selbstmord. Da die Armee über eine eigene Justiz verfügt, werden weder die Täter noch die für diese Situation verantwortlichen Vorgesetzten je bestraft.

Weil sie das Leben in der Armee nicht mehr ertragen desertieren viele Männer. Eine Gesetzesneuerung gab es auf Druck der Soldatenmütter Russlands im Jahre 1998, in Härtefällen können Fahnenflüchtige nun straffrei ausgehen. Ein ganz beachtlicher Erfolg für die Organisation.

Nach Schätzungen sind rund 40.000 Deserteure „auf der Flucht“. Die Soldatenmütter setzen sich für diese Deserteure ein und erzeugen dadurch den Unmut der Armee und des Verteidigungsministeriums. Ihre Arbeit macht es jeden Tag ein bisschen schwerer Menschenrechtsverletzungen und menschenunwürdige Zustände in der Armee zu vertuschen. Erst diesen August wurde ein Ausbilder der russischen Armee verurteilt, weil über hundert Wehrpflichtige auf dem Transport zu ihrer Kaserne an Lungenentzündung erkrankt waren, ein junger Mann starb. Die Männer hatten bei Temperaturen von -25°C mehrere Stunden ohne Winterkleidung im Freien warten und in einer unbeheizten Baracke übernachten müssen. Gegen die Militärärzte, die sich zunächst geweigert hatten die Männer stationär zu behandeln wurden bislang nichts unternommen. Es ist jedoch eine absolute Ausnahme, dass solche Vorfälle überhaupt an die Öffentlichkeit, geschweige denn vor ein Gericht gelangen.

Die Soldatenmütter sind der Armeeführung auch deshalb ein Dorn im Auge, weil die ohnehin schon schwierige Rekrutierung von genügend jungen Männern (viele ignorieren des Einberufungsbefehl, kaufen sich Atteste etc.) durch die Unterstützung der Deserteure scheinbar noch schwieriger wird.

Eine der Hauptforderungen der Soldatenmütter ist die Abschaffung der Wehrpflicht. Ella Poljakowa, Mitglied der Soldatenmütter St. Petersburg schreibt zum russischen Wehrdienst folgendes: „Solange es dieses System noch gibt, in dem ein bestimmter Teil der Gesellschaft ausgegrenzt bleibt und keine Bürgerrechte genießt, solange gibt es einen Schlüssel zum Totalitarismus, so lange kann es bei uns keine Reformen geben. So lange wird uns die Armee immer wieder zurückreißen, auch wenn der fortschrittliche Teil der Gesellschaft nach vorne drängt.“

Die Soldatenmütter aus Petersburg haben sich nicht nur für die eigenen Söhne eingesetzt, sondern das Schicksal von sehr vielen jungen Russen an das Licht der Öffentlichkeit gebracht. Das ist auch einer der Gründe, warum man die Soldatenmütter als die Nichtstaatliche Organisation bezeichnen kann, die im unmittelbarsten Kontakt zur Bevölkerung steht und die dort deswegen am angesehensten ist.

Diese Arbeit erfordert Mut, denn gerade in jüngster Zeit waren Menschenrechtsorganisationen immer häufiger Angriffen der Staatsmacht ausgesetzt. So wurde seitens des Verteidigungsministeriums der Öffentlichkeit suggeriert, die Komitees der Soldatenmütter finanzierten sich aus dubiosen Quellen. Die Zeiten für unabhängige und kritische nichtstaatliche Organisationen in Russland sind nicht leichter geworden. Im Gegenteil, gerade die Organisationen, die sich dafür einsetzen, dass die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen staatlichen Funktionsträger zur Rechenschaft gezogen werden und die Opfer Zugang zur Justiz erhalten, können in Russland nicht mehr unbehelligt ihrer Tätigkeit nachgehen. Hier ist die internationale Solidarität von Organisationen und Menschen im Ausland gefordert und unsere Regierungen sind aufgefordert gegen diesen Missstand öffentlich bei ihren russischen Regierungskollegen zu protestieren.

Die Soldatenmütter von St. Petersburg haben es sich zur Aufgabe gemacht nicht nur Menschen in Not Hilfestellung zu leisten, sondern ihnen das Werkzeug in die Hand zu geben sich und anderen selbst zu helfen. Sie bieten Hilfe zur Selbsthilfe, Menschenrechtsbildung im eigentlichen Sinne. In ihren Sprechstunden werden betroffene Männer und ihre Familien über ihre Rechte aufgeklärt. Eine Aufgabe die auch gegen das weitverbreitete Denk-Schema angeht, dass sich Russen und Russinnen in erster Linie als passive Empfänger von Rechten ansehen, nicht als deren aktive InhaberInnen. Der Krieg und die Vorbereitung auf den Krieg verändert nicht nur die Soldaten. Die Soldatenmütter haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Menschen die durch die sog. Schule der russischen Armee gegangen sind eigentlich therapeutische Hilfe brauchen. Stattdessen werden sie in ein ziviles Leben entlassen, in dem sie sich nicht zurechtfinden können. Ihnen wurde die Fähigkeit sich sozial zu verhalten systematisch ausgetrieben und nun sollen sie als Ehemänner und Väter leben. In diesem Zusammenhang muss man sich nicht über die horrenden Zahlen wundern, die russische Frauenorganisationen in Bezug auf häusliche Gewalt in Russland nennen. So starben allein im Jahr 2002 rund 14.000 Frauen, die Täter waren ihre Ehemänner oder andere Verwandte.

Bereits früh protestierte die Organisation öffentlich gegen das Engagement der russischen Armee in Tschetschenien. Benennt mutig und deutlich diese schreiende Wunde in der russischen Gesellschaft und fordert eine politische und friedliche Lösung des Konflikts. Mir persönlich ist ganz nachträglich der Vortrag von Ella Polyakova im Gedächtnis, als ich mit dem Frauenfriedenszug der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit im August 1995 von Helsinki zur Weltfrauenkonferenz nach Peking reiste und wir in St. Petersburg von ihre Bewertung des Tschetschenienkonflikts erfuhren. Ganz unvergessen ist der Friedensmarsch von Moskau nach Grosny im März 1995 den sie organisierten und die konkrete Zusammenarbeit mit den Frauen aus Tschetschenien. Ihre Unerschrockenheit und Furchtlosigkeit vor den diffamierenden Angriffen der russischen Öffentlichkeit ist mir bleibend im Gedächtnis.

Und nicht nur mich hat die energische und entschlossene Haltung der Soldatenmütter aus St. Petersburg vieles gelehrt und ermutigt, wo auch immer gegen den Krieg und die Gräuel des Krieges aufzustehen. Die amnesty Koordinationsgruppe zu Russland hat mich ausdrücklich gebeten die besten Glückwünsche zur Preisverleihung zu überbringen und ganz herzlich zu danken, denn die vielen Gespräche mit den Soldatenmütter St. Petersburg haben dazu beigetragen, dass sich die deutsche Sektion von amnesty international seit einer langen Zeit intensiv mit der Menschenrechtsarbeit zu Russland beschäftigt. Wir erinnern uns gern an ihren Besuch auf der Jahresversammlung 1997 in Berlin.

Sie sind ein Vorbild und Inspiration für vielen Menschen in Russland und in der ganzen Welt geworden, die sich gegen die Allmacht von Militarismus und dominanter Kriegslogik einsetzen.

Eren Keskin

Die andere Preisträgerin Eren Keskin, ist ebenso eine sehr geschätzte Ratgeberin für amnesty international. Sie ist Menschenrechtspreisträgerin der deutschen Sektion und war mehrfach Gast bei ai Versammlungen, nicht nur in Deutschland. Eren Keskin arbeitet seit 1984 als Rechtsanwältin in der Türkei. Sie übernimmt die Verteidigung insbesondere in politischen Prozessen. Seit der Gründung im Jahre 1986 ist sie aktives Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins IHD. 1996 wurde Eren Keskin zur stellvertretenden Gesamtvorsitzenden des IHD gewählt. Lange Jahre war sie Vorsitzende der größten und aktivsten Zweigstelle des IHD in Istanbul.

1997 gründete Frau Keskin zusammen mit anderen Rechtsanwältinnen das Projekt „Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell misshandelt wurden“. Das Projekt leistet betroffenen Frauen kostenlosen Rechtsbeistand und unterstützt sie in ihren Klageverfahren gegen die Täter. Bei ihrem Projekt haben fast 200 Frauen (Stand Juni 04) einen Antrag auf Unterstützung gestellt, die Opfer von sexueller Gewalt durch staatliche Sicherheitskräfte geworden sind.

Immer wieder ist sie aus diesem Grund von staatlichen Stellen, den Medien und Berufskollegen diffamiert worden. Gerade wenn Frauen Menschenrechtsverletzungen an Frauen anprangern und die Täter nennen, dann müssen sie mit doppeltem Widerstand rechnen. Sie sollen nicht kritisch in der Öffentlichkeit sprechen und schon gar nicht über die oft noch tabuisierte sexuelle Gewalt. Damit wird ein viel weiteres Thema in die Diskussion gebracht, über das nicht geredet werden soll, nämlich der vorhandene Sexismus in einer Gesellschaft. Marie Luise Jansen Jurreit hat dies einmal sehr gut beschrieben: „Sexismus war immer Ausbeutung, Verstümmelung, Vernichtung, Beherrschung, Verfolgung von Frauen. Sexismus ist gleichzeitig subtil und tödlich und bedeutet die Verneinung des weiblichen Körpers, die Gewalt gegenüber dem Ich der Frau, die Achtlosigkeit gegenüber ihrer Existenz, die Enteignung ihres Körpers, den Entzug der eigenen Sprache bis zur Kontrolle ihres Gewissens, die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, die Unterschlagung ihres Beitrags zur Geschichte der menschlichen Gattung.“ All das berührt Eren Keskin auch, wenn sie über die sexuelle Gewalt durch staatliche Sicherheitskräfte spricht und damit es vielen Frauen erleichtert, über ihre Gewalterfahrungen nachzudenken und zu sprechen, in einer Gesellschaft in der die „Ehre“ einer Familie noch oft über die Verfügungsgewalt des weiblichen Körpers bestimmt wird.

Nach einem Auftritt in Köln im Jahr 2002, bei dem Eren Keskin über das Problem der sexuellen Misshandlung von Frauen durch Sicherheitskräfte in ihrer Heimat gesprochen hatte, wurde sie das Opfer einer Hetzkampagne in den türkischen Medien.

Ende 2002 hat ihr die nationale Anwaltskammer die Zulassung für ein Jahr entzogen - der erste Fall, in dem in der Türkei gegen eine Rechtsanwältin ein Berufsverbot aus politischen Gründen verhängt wurde. Die Begründung der Anwaltskammer war, dass Eren Keskin dem „Ansehen ihres Berufsstandes geschadet“ habe. Ich meine, genau das Gegenteil ist der Fall. Ihr Einsatz für Menschenrechte, ist eine ausgesprochene Zierde und hervorraagender Beitrag für das Ansehen dieses Berufsstandes.

Auch ihr Land, die Türkei, ist geprägt von einem Jahrezehnte dauernden gewalttätigen Konflikt um die Rechte der Kurden. Frau Keskin hat sich immer für eine friedliche Lösung des Kurden-Konfliktes und für die Rechte der Kurden eingesetzt. Seitdem sie den Führer der bewaffneten Oppositionsgruppe „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), Abdullah Öcalan, 1999 vor Gericht vertreten hat, haben die Drohungen gegen sie noch zugenommen. In unzähligen Gerichtsverfahren wurde ihr nicht zuletzt wegen ihres humanitären Engagements der Prozess gemacht. 1995 musste sie eine sechsmonatige Freiheitsstrafe antreten, weil sie in einem Brief an das belgische Parlament das Wort „Kurdistan“ benutzt hatte. amnesty international hat sie als gewaltlose politische Gefangene betrachtet, da sie allein aufgrund der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung verurteilt worden war.

Aber Eren Keskin wird wegen ihres mutigen menschenrechtlichen Engagements nicht nur mit Gerichtsverfahren überzogen, sondern seit Jahren wird auch ihr Leben bedroht. Immer wieder erhält sie Morddrohungen. Im Oktober 1994 schossen Polizisten auf sie, als sie mit einer Menschenrechtsdelegation in Diyarbakir war. Zweimal führte amnesty international für sie und andere Menschenrechtler eine Eilbriefaktion wegen Morddrohungen durch, zuletzt am 10. April diesen Jahres. Nachdem sie an einer Delegation teilgenommen hatte, die nach dem „Verschwinden“ von zwei Politikern der HADEP Recherchen in der Provinz Sirnak durchführte, nahmen die Drohungen gegen sie zu.

Sie kritisierte die Macht, die das Militär auf die türkischen Politik ausübt, ja diese bestimmt. Auch solche Kritik brachte ihr Prozesse wegen Verleumdung und Beleidigung der Streitkräfte ein.

Sie hat über sich einmal sehr bezeichnend gesagt: „Meine Arbeit ist meine Lebenseinstellung, meine Lebensweise, meine Aufgabe. Dies ist mein Weg - für mich der einzig mögliche. Daher lasse ich mich trotz aller Bedrohungen und Widrigkeiten auch nicht von diesem Weg abbringen.“ Nicht aufzugeben trotz immer wieder auftauchender Behinderungen und Bedrohungen des eigenen Lebens, das ist es, was Eren Keskin zu einer solch herausragenden Persönlichkeit macht. In diesem Herbst, genauer Anfang Oktober, wird die EU-Kommission ihren Bericht zu den Perspektiven einer Aufnahme der Türkei in die EU veröffentlichen. Der Bericht soll die Empfehlung enthalten, ob die EU mit der Türkei konkrete Beitrittsverhandlungen aufnehmen soll oder nicht.

Die Beitrittsbestrebungen der Türkei und die von der EU aufgestellten Kriterien haben vor allem in den letzten zwei Jahren zu wesentlichen Schritten in Richtung auf eine bessere Wahrung der Menschenrechte in der Türkei geführt. So wurde die Todesstrafe in Friedenszeiten abgeschafft und die Spielräume für politische Meinungsäußerungen erweitert.

Dennoch reichen die vorgenommenen Änderungen noch nicht aus, um die Meinungsfreiheit und die freie Wahrnehmung der bürgerlichen Rechte in vollem Umfang zu garantieren. Oppositionelle Politiker, Journalisten und Menschenrechtler werden noch immer häufig drangsaliert, vor Gericht gestellt und zu Freiheits- und Geldstrafen verurteil. Kulturelle Rechte für die Kurden wurden bisher nur in minimalem Umfang gewährt; die schon in der gesetzlichen Regelung sehr begrenzten Möglichkeiten für kurdische Radio- und Fernsehsendungen wurden in der Praxis noch nicht umgesetzt. Kurden werden noch immer verfolgt, wenn sie - auf friedlichem Wege - politische Rechte für ihre Volksgruppe einfordern.

Die Türkei ist unabhängig von der Frage eines EU-Beitritts zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet. Die Beitrittsvorbereitungen sind jedoch ein wesentlicher Motor für Verbesserungen und amnesty international hofft daher, dass von Seiten der EU einerseits die Erfüllung der Menschenrechtskriterien konsequent eingefordert werden, andererseits aber auch der Anreiz der Beitrittsperspektive aufrecht gehalten wird.

Wie auch immer die Entscheidung der EU ausfällt, eines bleibt wichtig: die Menschenrechtssituation muss auch nach diesem Datum aufmerksam beobachtet werden und der Druck auf die Regierung gesetzliche Verbesserungen umzusetzen, darf nicht nachlassen.

Wir, Friedensaktivisten und Menschenrechtsverteidiger, sollten uns nicht in die Irre führen lassen, wenn sich Regierungen gegenseitig bestätigen, dass eine ordnende Hand notwendig ist, und Regierungen alles tun müssen um Sicherheit und Ordnung, insbesondere bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, zu gewährleisten. Zu durchsichtig sind die eigentlichen Motive derer, die nicht hinsehen was ist und über eine wirkliche nachhaltige Lösung nachdenken wollen. Es ist nicht akzeptabel, dass der deutsche Bundeskanzler Schröder Anfang Juli diesen Jahres dem russischen Präsidenten Putin gegenüber öffentlich sein Vertrauen in den russischen Rechtsstaat ausgesprochen hat. Für viele Menschen in Russland und besonders in Tschetschenien ist das geradezu eine Verhöhnung ihrer alltäglichen Lebens- und Überlebensrealität. Zwar bekennt sich Russland in Artikel 1 seiner Verfassung zur Rechtstaatlichkeit als Grundlage des Staatswesens und ist Mitglied im Europarat und erkennt somit die Vorherrschaft des Rechts an. Die Rechtswirklichkeit sieht jedoch leider anders aus. Ich habe dem Bundeskanzler anlässlich seines Besuchs in Sotchi gestern und vorgestern, in einem offenen Brief widersprochen und ihn nachdrücklich aufgefordert, die dringende Verbesserung der rechtsstaatlichen Verhältnisse in Russland offen mit Präsident Putin anzusprechen.

Sie können sich sicher sein, liebe Frauen aus St. Petersburg, dass es in Deutschland eine wache Zivilgesellschaft gibt, die die Äußerungen der Regierungsvertreter beobachtet und nicht unkritisiert lässt. Denn auch der russische Präsident soll wissen, dass die Friedens- und Menschenrechtsgruppen in Russland nicht alleine sind mit ihrer Arbeit, sondern auf die Solidarität und Unterstützung vieler Freunde, gerade im europäischen Ausland bauen können.

Der heutige Anti-Kriegstag hat seine Aktionen auch unter das Thema gestellt, die Europapolitik zu demilitarisieren, eine ganz wichtige und wesentliche Aufgabe für uns alle in der europäischen Friedens- und Menschenrechtsbewegung. Die unermüdliche Arbeit und die Erfolge der St. Petersburger Soldatenmütter und Erin Keskins in der Türkei sind für alle in der europäischen Zivilgesellschaft eine Bestärkung, Ermutigung, ein Vorbild und eine Hoffnung, dass es gelingen kann menschenwürdig und in Frieden ein gutes Leben zu leben, seien die gegenwärtigen Bedingungen auch noch so schwierig und unüberwindbar.

Beide Preisträgerinnen zeigen mit großer Selbstverständlichkeit, wie erfolgreich sie sich als Frauen in gesellschaftliche Debatten, in traditionelle Männerdomänen einmischen können. Sie definieren und erweitern Sicherheitspolitik, dass diese auch nicht-militärische Lebensbedürfnisse miteinschließt - Sicherheit vor Armut, Sicherheit vor Krankheit, Sicherheit vor Arbeitslosigkeit, Sicherheit vor Hunger, Sicherheit vor Analphabetismus. Sie legen ihrem Denken und Tun die Universalität der Menschenrechte zugrunde, huldigen nicht Nationalismen jedweder Art und lassen sich nicht abstumpfen von der sich immer wiederholenden Propaganda der Obrigkeit, dass Gewalt und ‚hartes Durchgreifen’ notwendig sind.

Sie haben den langen Atem und die Geduld, die notwendig sind, um die großen Widerstände und die zahlreichen Gegner eines friedlichen, menschenwürdigen Zusammenlebens, zu überwinden. Sie tun dies, ohne die Gefahren für sich selbst und ihre Familien zu unterschätzen. Sie sind Frauen die sich keine Illusion machen über die Strukturen und Dynamiken von Macht.

Sie erkennen Macht in ihrem Kern und treten doch ganz entschieden für die Ermächtigung, oder wie man heute sagt, das ‚empowerment’ der Frauen und Männer ein, einen Weg aus entsetzlichen Lebensumständen zu finden.

Sie sind Frauen die sich ihrer Macht bewusst geworden sind. Macht nicht verstanden als Macht zu zerstören, oder Macht zu töten, sondern Macht die bedeutet, anderen Leben zu ermöglichen und es in reicherem Maß zu ermöglichen. Oder wie es die niederländische Theologin Chatharina Halkes beschreibt: Macht verstanden als ein Mittel, andere machtvoll zu machen.

Ich danke den beiden Preisträgerinnen von ganzem Herzen für ihre Arbeit, ihren Mut und Ihre Zuversicht und ich beglückwünsche den Verein Aachener Friedenspreis e.V. zu seiner hervorragenden Entscheidung den Preis an Sie, Frau Keskin und an die St. Petersburger Soldatenmütter zu vergeben.

Ich danke Ihnen.

Quelle: www.aachener-friedenspreis.de


Für das heilige Menschenrecht auf Leben und die Schöpfung kämpfen

Ella Poljakowa, Petersburger Soldatenmütter, Preisträgerrede zur Verleihung des Aachener Friedenspreises am 1. September 2004 in der Aula Carolina, Aachen

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

Wir sind Ihnen unendlich dankbar für die mit diesem Preis verbundene große Wertschätzung unserer Arbeit! Der Aachener Friedenspreis ist für die Arbeit unserer vielen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die sieben tausend Mütter, die tagtäglich und uneigennützig den vielen jungen Männern, ihren Familien und Verwandten helfen, sich für ihre Freiheit einsetzen und so für die Würde jeder Persönlichkeit, das Recht auf Leben, Frieden und eine Zukunft kämpfen, die höchste Anerkennung.

Unsere Organisation „Die Soldatenmütter von Sankt Petersburg“ gibt es seit 1991. Angefangen haben wir mit einer kleinen Gruppe von Müttern. Damals hat eine kleine Gruppe von Müttern Zivilcourage gezeigt und den Machthabern deutlich gemacht: Heimat, das ist nicht nur die Macht in ihren Amtsstuben. Heimat ist auch die Familie, das Haus, in dem man geboren und aufgewachsen ist, die Kinder und Enkelkinder am sonntäglichen Tisch. Vor allem aber ist Heimat das, was jeder Mensch in seinem Herzen trägt und wofür zu leben sich lohnt.

Heute blicken wir auf eine mehrjährige Arbeit zurück: mehr als 100.000 jungen Männern haben wir geholfen, nicht in der Armee dienen zu müssen, mehr als 5.000 Soldaten sind wir beigestanden, haben ihr Leben und ihre Gesundheit geschützt und zu einer vorzeitigen Entlassung aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen verholfen.

Unsere Arbeit fußt auf der unbedingten Einhaltung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten, der Deklaration der Rechte und Freiheiten des Menschen, der Verfassung der Russischen Föderation und der Russischen Gesetzgebung. Seit mehreren Jahren arbeitet unter dem Dach unserer Organisation die Menschenrechtsschule „Wir schützen die Söhne“. Wer diese Schule besucht, erwirbt nicht nur juristische Kenntnisse, beschäftigt sich mit den rechtlichen Aspekten des Kampfes für die gesetzlich verankerten Rechte, Kenntnisse, die gleichzeitig ein Instrument sind, das den Besuchern dieser Schule in ihrem Kampf für ihre Ziele zur Verfügung steht. Diese Schule ist auch ein Ort, an dem sich junge Männer und ihre Eltern über ihre Erfahrungen und Erfolge austauschen. Die Kontakte gehen häufig über ein bloßes Kennenlernen hinaus, viele knüpfen Netzwerke zur gegenseitigen Hilfe, man unterstützt sich gegenseitig im nicht einfachen Kampf. Der Einsatz für die Menschenrechte ist nicht einfach, doch gleichzeitig kein Ding der Unmöglichkeit. Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass diese Aufgabe einfacher wird, wenn sich die gesamte Familie für die Einberufung interessiert, sich mit den entsprechenden gesetzlichen Grundlagen beschäftigt und es lernt, mit Behörden und Beamten zu verhandeln. Und so gelingt es vielfach, das gesteckte Ziel ohne den Rechtsweg über die Gerichte zu erreichen, etwas, was im modernen Russland nicht unwichtig ist. Heute ist die juristische Unterstützung junger Männer, die zum Wehrdienst einberufen wurden und der Soldaten, die wegen der Gewalt beim Militär aus ihrer Einheit geflohen sind, von ungeheurer Wichtigkeit. Leider ist es mittlerweile traurige Praxis, im Rahmen der Einberufung junge Männer buchstäblich von der Straße weg mit Gewalt in die Kasernen zu bringen. Ohne gesetzliche Grundlage wird hier jungen Männern die Freiheit geraubt, werden sie mit Gewalt zur Einberufungsbehörde gebracht. Man gibt ihnen dabei nicht einmal die Möglichkeit, sich an ein Gericht zu wenden. Mit Gewalt werden sie in eine militärische Einheit gebracht. Junge Männer, die in der Armee Opfer von Gewalt wurden, haben kein Recht auf eine kostenlose anwaltliche Verteidigung. Und die materiellen Möglichkeiten tausender Familien sind derart eingeschränkt, dass sie sich keinen Anwalt leisten können.

Trotz unserer Erfolge und unseres großen Erfahrungsschatzes werden die Schwierigkeiten, mit denen wir zu kämpfen haben, von Jahr zu Jahr größer. Seit 2000 hat sich die politische Situation in unserem Land grundlegend geändert. Die demokratischen Errungenschaften der Jelzin-Epoche, die Freiheit des Wortes, das Recht auf Information, das Versammlungs- und Demonstrationsrecht, das Recht auf eine gerechte Behandlung vor den Gerichten, machen dem zunehmenden Totalitarismus immer mehr Platz. Und so konnte sich bis heute in unserem Land keine Zivilgesellschaft herausbilden, das totalitäre Denken der Bevölkerungsmehrheit ist ungebrochen. Die Menschen haben Angst angesichts der Veränderungen, trauen sich nicht, Verantwortung für sich, ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Kinder zu übernehmen.

Und in dieser Situation sind Personen aus Armee und KGB-FSB an die Macht gekommen. Die Macht hatten sie mit der Zustimmung einer verängstigten Bevölkerungsmehrheit erlangt, sie hatten einen Krieg entfesselt, einen „Blitzsieg“ versprochen. Xenophobie, Rassismus griffen in erschreckendem Tempo um sich, es begann die Suche nach inneren und äußeren „Feinden Russlands“. Viele Vertreterinnen unserer Organisation machten sich auf den Weg nach Tschetschenien und Dagestan. Und dort haben wir mit eigenen Augen gesehen, unter welch schrecklichen Bedingungen die Zivilbevölkerung dort lebt, was für eine Rolle dort unsere Jungs spielen müssen.

In dieser Situation ist es unsere Aufgabe, jedes junge Leben davor zu bewahren, dieser Schande des Tschetschenienkrieges zum Opfer zu fallen. Ständig erklären wir, worum es in diesem schändlichen Krieg wirklich geht. Immer wieder bekommen wir von jungen Menschen und ihren Eltern ein „Russland den Russen!“ zu hören. Vor diesem Hintergrund ist es unsere Aufgabe, immer wieder unsere Arbeit zu erklären. Dies ist um so wichtiger angesichts der Tatsache, dass sich unsere Massenmedien immer mehr zu Massenagitationsmedien entwickeln. Faktisch gibt es in Russland nur noch eine unabhängige demokratische Radiostation, das „Echo Moskaus“. Doch das „Echo Moskaus“ sendet nicht russlandweit.

Und lediglich 5% der Bevölkerung in den großen Städten nutzt das Internet. Deswegen ist es das Ziel einer Menschenrechtsorganisation, um der Zukunft der Menschen willen, mit den Menschen zu arbeiten.

Wir wissen aus der Geschichte: es gibt nur einen Weg die Zivilisation zu erhalten. Und zu diesem Weg gibt es keine Alternative: es ist der Weg der Gewaltlosigkeit, der Toleranz und der Anerkennung des absoluten Wertes des menschlichen Lebens. Keine Interessen der Machthabenden rechtfertigen Tränen von Müttern, die Augen von verwaisten Kindern und Gräber. Mit nichts lassen sich Tod, Leid, Zerstörung und Verzweiflung rechtfertigen. Und so werden wir weiterhin unermüdlich für das Leben, das Leben von unseren und ihren Kindern, die Freiheit, das heilige Menschenrecht auf Leben und die Schöpfung kämpfen.

Quelle: www.aachener-friedenspreis.de


Glauben an Demokratie, Frieden und das Selbstbestimmungsrecht der Kurden

Eren Keskin, Istanbul, Preisträgerrede zur Verleihung des Aachener Friedenspreises am 1. September 2004 in der Aula Carolina, Aachen

Verehrte Menschenrechtler und Friedensfreunde,

der mir heute, am 1. September, dem Weltfriedenstag, verliehene Preis ehrt und würdigt mich sehr. Preise dieser Art haben für Menschenrechtsverteidiger einen hohen ethischen Wert und zusätzlich gegenüber dem totalitären und unterdrückenden Regime eine schützende Funktion.

Ich fühle mich sehr glücklich, dass ich lebe und diesen Preis bekomme. Ich sage deshalb „Ich lebe“, weil in der Türkei und in Kurdistan von Seiten des Militärs und der Kontraguerilla viele unserer Freunde und Wegbegleiter umgebracht wurden.

Wegen unserer Ideen wurden wir inhaftiert, wir waren Ziel von bewaffneten Angriffen und es gab Bombenattentate auf unsere Vereinssitze: aber wir haben den Kampf nicht aufgegeben.

Der Staat der Türkischen Republik wurde als ein Nationalstaat gegründet, aber seit der Gründung wurden mit der türkischen und der muslimischen Identität andere Ethnien und Identitäten zunichte gemacht, so dass die Türkei im Augenblick wie ein Friedhof der Kulturen ist.

Obwohl in der Türkei zivile politische Parteien an der Macht zu sein scheinen, bleibt im Grunde das Militär die waltende Macht. Die Innen- und Außenpolitik der Türkei wird vom Militär bestimmt. Und dies muss man einfach wissen: in der Türkei gilt immer noch eine Verfassung, die ein Produkt des Militärputsches von 1980 ist.

Die Grundfrage in der Türkei ist zur Zeit: die kurdische Frage.

Seit der Gründung der Türkischen Republik wird Kurdistan (der türkische Teil Kurdistans, Anm. des Übers.) mit Sondergesetzen verwaltet. Besonders nach dem Militärputsch 1980 kamen in Kurdistan etwa zehntausend Menschen durch Kräfte der Kontraguerilla um. Von Polizei und Militär wurden tausende Menschen verhaftet, die nie mehr zurück kamen. In Kurdistan kam es zu Zwangsumsiedlungen aus über 4000 Dörfern durch das Militär, ein Teil der Dörfer wurde verbrannt. Diese Zwangsumsiedlung der Kurden war Ursache für die großen Zerstörungen und den Verfall der Region.

Unter diesen ganzen Rechtsverletzungen haben besonders die kurdischen Frauen leiden müssen. Wir wissen das alle ganz genau: in allen Kriegen werden die Frauen als Kriegsbeute betrachtet. Indem die gegnerischen Soldaten sexuelle Gewalt gegenüber Frauen anwenden, nutzen sie die Moral des Patriarchats aus, um dem Gegner eine zweite und noch stärkere Niederlage zuzufügen.

In den Zeiten des bewaffneten Kampfes wurden in Kurdistan tausende Frauen durch staatliche Kräfte sexuell angegriffen oder misshandelt. Aus diesen Gründen haben wir vor acht Jahren begonnen, das Mandat für Frauen zu übernehmen, die Opfer staatlich-sexueller Gewalt waren. In diesen acht Jahren kamen 200 Frauen in unser Büro, die meisten von ihnen waren kurdische Frauen. Andere Frauen wurden Opfer dieser Gewalt wegen ihrer politischen Identität. Ein Teil der Hilfe suchenden Frauen sind wegen anderer Delikte festgenommen worden, wurden aber auch Opfer sexueller Gewalt in Haft oder beim Verhör.

Leider ist die Türkei immer noch kein Rechtsstaat. Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Wortlaut Gesetzes und der Anwendung. Folter ist eine verbotene Verhörmethode in der Türkei. Aber sie ist in der Realität noch eine staatliche Verhörmethode. Wegen der Anwartschaft zur Aufnahme in die Europäische Union wurde die Untersuchungshaftzeit auf vier Tage maximal begrenzt. Die Verkürzung dieser Untersuchungshaftzeiten führte dazu, dass die Anzahl der „inoffiziellen Festnahmen“ und „Entführungen“ stark anstieg. Im letzten Jahr wurden sieben Frauen entführt: ihnen wurden die Augen verbunden und sie wurden sexuell missbraucht.

Ich denke, das Grundproblem der Türkei ist der Prozess der zivilen Demokratisierung. So lange der Druck des Militarismus auf die zivile Politik weiter besteht, glaube ich nicht, dass es in der Türkei große demokratische Veränderungen geben wird. Im Gegenteil, in der Türkei kann man nicht von einer demokratischen Lage sprechen. Gleichzeitig ist das Militär Teil des Wirtschaftssystems. OYAK, die Heer-Solidaritätsgemeinschaft, die Militärbank, Versicherungsgesellschaften, Nahrungsmittelfabriken – in 38 Geschäftsfeldern ist das Militär aktiv. Also, Militär und Kapital sind in einer Hand. Dieser Zustand macht das System noch beängstigender.

Heute wird diskutiert, ob die Türkei in die EU aufgenommen oder nicht aufgenommen wird. Als Menschenrechtlerin möchte ich hier die Haltung der EU kritisieren. Heute verlangen die Staaten der Europäischen Union von der Türkei die Lösung der Menschenrechts-, der kurdischen und der Demokratiefrage. Kann aber dabei vergessen werden, dass sie gleichzeitig an die Türkei Waffen verkaufen, mit denen die Türkei in Kurdistan einen Krieg führt?

Nun ja! Was soll man zu der Tatsache sagen, dass viele europäischen Länder gemeinsame Geschäfte mit Firmen des türkischen Militärs abwickeln?

Wir als Menschenrechtler und Friedensaktivisten wissen ganz genau, dass zwischenstaatliche Beziehungen darauf beruhen, dass gegenseitige Interessen geschützt werden. Aber die Beziehung zwischen uns Menschenrechtlern und Friedensaktivisten basiert auf Liebe, Respekt und den Glauben an eine freie Welt.

Aus diesem Grund hat dieser an mich verliehene Preis meinen Glauben an die Demokratie, den Frieden und das Selbstbestimmungsrecht der Kurden, sowie der Frauen und Homosexuellen und aller unterdrückten Identitäten gefestigt.

Noch einmal dankeschön. Tausend Dank…
Eren Keskin, Rechtsanwältin

Quelle: www.aachener-friedenspreis.de