Köln, 8.5.2005 - Gedenken zum 60. Jahrestag der Befreiung von Krieg und Faschismus |
Feiern wir den 8. Mai als Auferstehung der Menschenwürde und des Friedens! Rede von Dr. Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen, heute jährt sich das Kriegsende in Europa zum 60. Mal. 60 Jahre nach der Kapitulation ist es für alle Demokraten klar: der 8. Mai ist der Tag der Befreiung, der Freude über die wiedergewonnene Demokratie, er ist auch der Tag gegen das Vergessen. Vergessen wir deshalb zunächst einmal nicht, dass dieser von den Deutschen angezettelte Krieg in Japan, China, Indonesien, auf den Philippinen und vielen anderen Staaten Südostasiens erst mit dem Abwurf der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki im September 1945, also vier lange Monate später, sein Ende fand. Hunderttausende Menschenleben wurden auch nach dem 8. Mai für einen sinnlosen Krieg von verantwortungslosen Machthabern geopfert. Unter den schrecklichen Nachwirkungen der Atombomben leiden viele missgebildete Kinder noch heute. Und die politischen Nachwehen haben wir in Form von Demonstrationen in China und dem Bemühen um Beschwichtigung Japans erst in den vergangenen Wochen erlebt. Es geht also heute auch um die Erinnerung an Menschen, die am 8. Mai noch nicht von den Amerikanern, Briten und Franzosen befreit wurden. Denken wir auch an sie und denken wir an die vielen jungen Soldaten, auch die russischen und alle anderen, die im Krieg gegen die deutsche Wehrmacht ihr Leben ließen, damit wir befreit wurden. Denn mit dieser Schmach werden für immer leben müssen: die Deutschen haben sich nicht selbst von der Diktatur der Nazis befreien können; sie mussten unter großen Opfern militärisch besiegt werden. Für uns Deutsche, zumal für diejenigen, die im Westen lebten, war deshalb der 8. Mai ohne wenn und aber ein Tag der Freude, der Befreiung von Angst, vom Nazi-Terror und auch ein Tag der militärischen Niederlage, also des Besiegtseins. Gott sei Dank auch ein Tag der Niederlage! Denn ohne die Beendigung des Sterbens vor allem für die 15,- 16 und 17- jährigen Kindersoldaten, die man am Ende noch als Kanonenfutter an die Front geschickt hatte, wären Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte viel später und unter weiteren Opfern wieder zu uns gekommen. Was nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik für alle Zeiten erkämpft schien, war 1933 bereits wieder verloren. Und die Mehrheit der Deutschen war nicht bereit, gegen die schon frühzeitig erkennbare Diktatur-Absicht der Nazis zu kämpfen. Alle, die dies bis 1933 getan hatten, wurden verfolgt, gefoltert oder gar ermordet, wenn sie nicht rechtzeitig emigrieren konnten. Erinnern wir uns an diesem Tag an tapfere Sozialdemokraten, die das Land verlassen mussten oder verhaftet und getötet wurden; erinnern wir uns an mutige Kommunisten, an Kirchenmänner und an Frauen, die vergeblich gewarnt hatten vor den Folgen des Faschismus. Gedenken wir der Toten des Spanischen Bürgerkrieges, des letzten internationalen Aufflammens von Widerstand gegen Willkür und Terror! Und gedenken wir ermordeten Menschen jüdischen Glaubens aus Deutschland und ganz Europa, der Roma und Sinti und denken wir an die psychisch Kranken, die einer Tötungsorgie von amtlich bestellten Ärzten zum Opfer fielen, obwohl diese Ärzte zu ihrer Heilung bestellt waren und – beschämend genug - noch Jahrzehnte später in der Bundesrepublik unbehelligt ihren Dienst versehen durften. Lassen Sie uns an alle Opfer des Terrors der Nazis denken! Für die Überlebenden bleibt dann kein Zweifel mehr, welche Bedeutung der 8. Mai 1945 hat. Dürfen wir neben dem Erinnern, dem Gedenken an die Opfer diesen Tag auch feiern? Ich meine ja, uneingeschränkt ja! Denn wir feiern den Neuanfang einer Republik, der deutschen Demokratie; wir feiern das Aufatmen der europäischen Völker, weil der Wahnsinn aus Nazi-Deutschland ein Ende hatte. Am 8. Mai stand der Beginn einer neuen Gesellschaft. Der Beginn einer neuen Politik, die den geschundenen Menschen wieder in den Mittelpunkt ihres Handelns stellte. Und hier dürfen, nein müssen wir über den deutschen Tellerrand hinausschauen: der Tag der Befreiung legte vor allem anderen den Grundstein für ein Verständnis von internationaler Verantwortung und für die Notwendigkeit europäischen und multinationalen Handelns. Das Ende des Nationalstaats wurde eingeläutet. Und wer weint diesem Monstrum des Nationalstaates auch nur eine Träne hinterher? Einem Staatsverständnis, das Teutschland den Teutschen forderte, das den Völkern mit obskuren Floskeln, wie „Kaiser, Volk und Vaterland“ - wie „Führer, befiehl, wir folgen Dir“ - und mit der ewigen Angst vor dem jeweils anderen Jahrhunderte nur Krieg, Tod und Entrechtung einbrachte. Wie anders doch die französische und die amerikanische Revolution bereits im 18. Jahrhundert, die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und das Recht auf Glück versprachen! Nein, im Nationalstaat kann kein freier Mensch die Zukunft sehen. Wir müssen für die Niederlage von Nazi-Deutschland dankbar sein; dankbar, weil nur dadurch der Weg zu einem Europa frei wurde, das die Hoffnung auf eine dauernde Abwesenheit von Krieg nährt. Nur der Zwang zu internationaler Zusammenarbeit in Europa und in der Welt, das Eingebundensein in die Verantwortung für andere Völker, andere Länder und deren Probleme lässt uns hoffen, dass das Eintreten für die unveräußerlichen Rechte des einzelnen Menschen auf Dauer über allem stehen wird. Und dies darf, nein dies muss gefeiert werden. Natürlich wissen wir, dass um diese Hoffnung hart gerungen werden muss. Aber seien wir dankbar, dass wir durch die Befreiung vor 60 Jahren ein Teil derer sein dürfen, die in Frieden und Freiheit leben dürfen. Andere Völker, zumal in Afrika und Asien, warten sehnsüchtig auf diese Zeit; denken wir an den Sudan, an Nordkorea. Aber gute Beispiele bleiben nicht ohne gute Nachahmer; immer öfter ändern sich Gesellschaften friedlich: wir bewundern deshalb das Volk der Ukraine für seine erfolgreiche friedliche Revolution; wir vergessen nicht Michail Gorbatschow, der den Völkern Osteuropas den Weg in die Freiheit ermöglichte und nicht zuletzt den Deutschen die Wiedervereinigung brachte. Und wir sind froh über die zehn Jahre Frieden in Südafrika, die wir der Lichtgestalt eines Nelson Mandela verdanken. Der 8. Mai ist aber auch ein Tag gegen das Vergessen! Gegen das Vergessen, das wegen eines immer wieder neu aufflammenden Antisemitismus die Kinder unserer jüdischen Freunde unter Polizeischutz zur Schule gehen müssen. Vergessen wir nicht, dass die rechtsradikale Pest, die Allianz der Volksverdummer und Gewaltbereiten frech und radikal und unter dem Schutz des Grundgesetztes an diesem Tag ihr Unwesen treiben will, in Berlin, in München und anderswo in Deutschland. Vergessen wir nicht, dass ein Gesetz notwendig war, um die Opfer verhöhnenden und uns alle beschämenden Aufmärsche der Neonazis zumindest an Gedenkstätten zu verhindern. Sie sitzen im Kölner Stadtrat, sie sitzen im sächsischen Landtag, und sie werden für den Bundestag kandidieren. Meine Damen und Herren: Zeigen wir den rechtsradikalen Ewiggestrigen die rote Karte! Nur die allgegenwärtige Erinnerung, die stetige Aufklärung in den Schulen und an den Universitäten, die Ermutigung und Befähigung zur eigenen Meinung, zu Zivilcourage und zum politischen Engagement kann auf Dauer diese Demokratie, die wir am 8. Mai 1945 geschenkt bekamen, erhalten. Naiv, blauäugig werden wir es aber nicht schaffen. Wir müssen friedlich kämpfen mit den Mitteln der Demokratie, heute und morgen und wohl auch übermorgen: für ein europäisches Deutschland, ohne Antisemitismus, ohne Fremdenhass, ohne Rassismus, aber mit Toleranz, mit den Menschenrechten und in Freiheit und Verantwortung. In diesem Sinne: feiern wir den Tag der Befreiung, feiern wir ihn als Auferstehung der Menschenwürde und des Friedens! |