Berlin, 14.1.2006 - XI. internationale Rosa-Luxemburg-KonferenzBilder

Lafontaine setzte Maßstäbe

Peter Wolter in 'junge Welt' vom 16.1.2006

Chef der Linksfraktion kritisiert auf der XI. Rosa-Luxemburg-Konferenz Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Mit 1850 Gästen neuer Teilnehmerrekord

Den Regierungssozialisten der Linkspartei.PDS weht ein scharfer Wind entgegen: Oskar Lafontaine ging am Samstag bei der XI. Rosa-Luxemburg-Konferenz deutlich auf Distanz zur Politik des »rot-roten« Senats von Berlin. Er kritisierte die Zustimmung des Berliner Landesverbandes der Linkspartei zur Privatisierung kommunalen Wohneigentums. Im Falle einer erneuten Koalition müsse dieser »Fehler« korrigiert werden, sagte der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag unter großem Applaus. »Wir dürfen uns auf keinen Fall an einer Regierung beteiligen, die öffentliche Dienstleistungen privatisiert.«

Die Verhinderung weiterer Privatisierungen kommunaler Dienstleistungen und Einrichtungen werde die »rote Linie« der neuen Linkspartei sein, zu der sich PDS und WASG zusammenschließen wollen, versprach Lafontaine und bat die Anwesenden, die Fusion auf dieser Basis zu unterstützen.

Er hoffe, daß die bemerkenswerte Rede Lafontaines aufgezeichnet wurde, bemerkte der Philosophieprofessor Hans Heinz Holz in der anschließenden Diskussion. Als sich der Beifall gelegt hatte, ergänzte er: »Damit wir sie Ihnen vorhalten können, wenn Sie einmal Bundeskanzler werden sollten.« In der Tat, die Rede wurde aufgezeichnet.

Auch im außenpolitischen Teil nahm Lafonataine kein Blatt vor den Mund. Er kritisierte, daß der Westen im Umgang mit dem iranischen Atomprogramm »doppelte Standards« anlege. Der von Teheran unterzeichnete Atomwaffensperrvertrag gestatte dem Iran die friedliche Nutzung der Kernenergie. Daher werde sich die Linkspartei für eine atomwaffenfreie Region im Nahen und Mittleren Osten einsetzen - was die Abrüstung Israels einschließe. Der Krieg der USA gegen den Irak sei »völkerrechtswidrig«, die Angriffe auf die Zivilbevölkerung seien nichts anderes als »Staatsterrorismus«. Die junge Welt, ergänzte Lafontaine, sei die einzige deutsche Tageszeitung, die die US-Streitkräfte im Irak konsequent als »Besatzungstruppen« bezeichne.

Eine Rede dieses Kalibers hätte man gerne schon zu der Zeit gehört, als Lafontaine noch SPD-Vorsitzender war, konstatierte Patrik Köbele. »Das war eine gediegene linkssozialdemokratische Rede«, so der Bezirksvorsitzende der DKP Ruhr-Westfalen. »Damit hat Lafontaine auch gegenüber Gregor Gysi und denjenigen Abgeordneten seiner Fraktion, die nach Regierungsbeteiligungen schielen, eine klare Position bezogen.«

Die Teilnehmer der Konferenz verabschiedeten eine Solidaritätsbotschaft an die Belegschaft der Firma Gate Gourmet in Düsseldorf, die am Samstag genau 100 Tage lang im Streik waren. Mit großem Beifall aufgenommen wurde außerdem eine Resolution zur Freilassung der letzten noch einsitzenden RAF-Gefangenen.

Erstmals wurden bei einer Rosa-Luxemburg-Konferenz auch Skulpturen gezeigt. Im Innenhof der Humboldt-Universität stellte der Mecklenburger Bildhauer Günter Schumann überlebensgroße Darstellungen von Folterszenen aus dem US-Gefängnis Abu Graib in Bagdad aus. Eine andere Figurengruppe zeigte die Erschießung des angeblichen Terroristen Wolfgang Grams auf dem Bahnhof von Bad Kleinen im Jahre 1993.

Die von der Tageszeitung junge Welt organisierte Veranstaltung war die am besten besuchte der bislang elf Rosa-Luxemburg-Konferenzen. Nach Angaben von Geschäftsführer Dietmar Koschmieder wurden 1 850 Eintrittskarten verkauft, rund 150 Helfer waren im Einsatz. Das Audimax der Humboldt-Universität war überfüllt, auch der Filmsaal, in den die Veranstaltung per Video übertragen wurde, platzte aus allen Nähten. Wie in den Vorjahren hatten zahlreiche Gruppen, Verlage und Buchhandlungen aus dem linken Spektrum in den Vorräumen Info- und Bücherstände aufgebaut.

Quelle: www.jungewelt.de


»Kein schlechter Anfang«

Auszüge aus der Podiumsdiskussion mit Angela Klein (Sozialforum Deutschland), Hans Heinz Holz (Philosoph), Oskar Lafontaine (Fraktionsvorsitzender 'Die Linke' im Bundestag), Heinz Dieterich (Soziologe) und als Moderatoren Arnold Schölzel (jW-Chefredakteur) und Jürgen Elsässer (Publizist, jW-Autor) auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz, Berlin, 14.1.2006 - zusammengestellt von Jürgen Elsässer - aus 'junge Welt' vom 16.1.2006

Oskar Lafontaines Vorstöße waren Bezugspunkt der Abschlußdebatte auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz: Wie kann die Machtfrage mit der Eigentumsfrage verbunden werden?

* Klein: Die neoliberale Hegemonie ist nicht allein der Stärke des Kapitalismus geschuldet. Sie ist mindestens genauso geschuldet dem Zusammenbruch dessen, was ich jetzt einmal freundlich den Zusammenbruch des ersten sozialistischen Experiments auf diesem Planeten nennen möchte. (...) Wir realisieren, daß es jeden Tag wachsende Infragestellung der Gesellschaft gibt, in der wir leben, aber ein völlig leeres Blatt, was denn an deren Stelle treten könnte. (...) Es gibt eine Alternative zum Kapitalismus. Wo setzen wir an? Ich will das an zwei Beispielen verdeutlichen. Alle Regierungen in der Bundesrepublik huldigen dem Credo, daß wir sparen müssen. Jetzt gibt es darauf die Antwort, wir müssen umverteilen, Wiedereinführung der Vermögenssteuer und so weiter. Ich glaube, daß das zu kurz greift. (...) Wie können wir aus solch einer Logik heraustreten? Das Lohnsteueraufkommen gehört eigentlich den abhängig Beschäftigten Wir müssen den Anspruch formulieren: Die abhängig Beschäftigten haben das Recht zu bestimmen, was mit ihrem Lohnsteueraufkommen passiert, und zwar in unmittelbarer Art und Weise und nicht vermittelt durch die Regierung, wie das jetzt passiert (...). Ich gebe ein zweites Beispiel: Eigentlich müßte man ein Gesetz erlassen, das besagt: Unternehmen, die Gewinne machen, dürfen nicht entlassen. Auf welcher Basis kann man das tun? Zum Beispiel auf Grundlage eines Artikels, den wir im Grundgesetz haben - Sozialpflichtigkeit des Eigentums. (...) Warum ist es denn normal, daß über den Reichtum, den die Beschäftigten schaffen, ausschließlich die Kapitaleigner verfügen? Das ist nicht normal! Ich bin überzeugt, daß Lösungen im nationalen Rahmen nicht mehr möglich sind. Egal, was wir anpacken, brauchen wir globale und auch europäische Antworten. (...)

* Elsässer: (...) Für mich gibt es auf dem Podium folgende Spannbreite: Auf der einen Seite, sagen wir: ganz links, Hans Heinz Holz, der gesagt hat: Über Demokratisierung können wir erst dann vernünftig reden, wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft ist. Heinz Dieterich ging dagegen von einer Gleichrangigkeit der demokratischen Umwälzung und der Abschaffung des Kapitalismus aus. Dann die unterschiedlichen Forderungen von Oskar Lafontaine und Angela Klein, über konkrete Verbesserungen im Hier und Heute, die Offensive des Neoliberalismus zu brechen. (...)

Dieterich: »Formale Eigentumsfrage irrelevant«

* Dieterich: Ich glaube nicht, daß Demokratie und Privateigentum so organisch und eng verbunden sind. Die formale Verfassung des Eigentums ist im Grunde irrelevant, nach den Erfahrungen, die wir mit den staatssozialistischen Ländern gemacht haben. Die entscheidende Frage der Ökonomie ist nicht, ob das Eigentum staatlich, kollektiv oder individuell-privatrechtlich ist, sondern die entscheidende Frage ist: Wer hat die ökonomische Macht, über die Mehrwertrate, die die Ausbeutung der Arbeitskraft bestimmt, und über die Festlegung der Preise z* bestimmen. (...) Nimmst d* dem Kapitalisten die Macht weg, dann nützt es ihm nichts, wenn auf dem Papier steht, die Fabrik gehört ihm. Wenn die Arbeiter die Fabrik besetzen, dann kann er nichts mehr machen, auch wenn er formell weiter der Besitzer ist. (...)

Marx hat definiert, daß Ausbeutung aus dem Privateigentum an Produktionsmitteln herrührt. Wir definieren das anders in der sogenannten Bremer Schule: Ausbeutung existiert, wenn jemand mehr aus dem gesamtgesellschaftlichen Warenkorb mehr herausholt, als er hineinpackt. (...) Oskar hat im großen und ganzen die Abwehrkämpfe dargestellt, er hat eine keynesianische Perspektive dargestellt. Damit können wir zusammengehen. Doch die Frage ist, ob diese defensive Komponente ausreicht. Meiner Ansicht nach nicht. (...) Das Problem seines Vorschlages sehe ich erstens darin, daß er einerseits national- oder europastaatlich begrenzt ist. Ich glaube nicht, daß es eine nationalstaatliche oder regionale Lösung für das Problem gibt, weil das Wertgesetz weltweit wirkt. Wir brauchen eine globalstaatliche Regierung, die aber nicht nur die Interessen der Ersten Welt, sondern auch die der Dritten Welt verteidigt. (...)

* Elsässer: Du hast gesagt: Es gibt nur noch eine internationale Perspektive. Das Problem dieses Begriffes ist aber: Entsteht dieser notwendige Internationalismus über eine Stärkung der nationalen Souveränität oder, wie die Neoliberalen behaupten, über eine Auflösung der nationalen Souveränität? (...)

Holz: »Macht beruht auf Eigentum«

* Holz: (...) Ich hoffe, daß der Vortrag von Lafontaine aufgezeichnet wurde. Ich würde ihn nämlich gerne, wenn er seine erste Regierungserklärung als Bundeskanzler im Bundestag abgeben wird, daran erinnern. Für eine Periode des Übergangs zwischen dem sich selbst zerstörenden Kapitalismus zum Sozialismus würde ich, wenn das in einer Regierungserklärung steht, für keinen schlechten Anfang halten. Allerdings stelle ich mir die Frage, ob wir den Übergang nur durch die eine oder andere Veränderung in der Struktur unseres Regierungssystems herbeiführen können, durch administrative Maßnahmen, oder ob hier nicht eine grundsätzliche Wandlung der den Typus einer Gesellschaftsformation bestimmenden Strukturen notwendig ist. Ich meine, daß der Übergang in eine andere Gesellschaft notwendig den Prozeß einleiten muß, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln Schritt für Schritt - und sicher nicht in einem einzigen Akt - aufgehoben wird. (...) Ich stimme Oskar Lafontaine durchaus zu, daß seine Gegenmaßnahmen ein mögliches Programm einer ersten Konfrontation mit diesem Neoliberalismus darstellen. Aber eines hat er nicht erwähnt: daß die neoliberalen Strategien zugleich die Indienststellung des Staates unter die Interessen des Kapitals mit einschließt. Das, was man in einer bestimmten Phase als staatsmonopolistischen Kapitalismus bezeichnet hat, hat jetzt eine andere Form bekommen, aber die Unterordnung des Staates unter Kapitalinteressen wird auch im Neoliberalismus fortgesetzt. Das ist eine Machtstruktur, die auf Eigentumsverhältnissen beruht, und die ohne einen Eingriff in diese Eigentumsverhältnisse auch nicht verändert werden kann. (...) Zu dieser Umwälzung reicht es nicht aus, daß wir auf der Ebene parlamentarischer Verwaltung dieses Systems operieren, sondern hier muß die revolutionierende Macht außerparlamentarischer Bewegungen ein Teil unseres politischen Lebens werden. (...)

* Schölzel: Ein konservativer Historiker hat schon vor vielen Jahren gesagt: Wer die Begriffe besetzt, beherrscht die Zukunft. Die Lage stellt sich für mich heute abend so dar: Heinz Dieterich weigert sich, den Begriff Eigentum zu besetzen; Hans Heinz Holz besetzt diesen Begriff; Oskar Lafontaine hat das Wort dieses konservativen Historikers in Anspruch genommen: Es geht darum, Begriffe zu besetzen. Die Frage ist: Gehört dazu auch das Eigentum?

Lafontaine: »Macht und kommunales Eigentum«

* Lafontaine: Wenn ich genau zugehört habe, haben alle Beteiligten von der Machtfrage gesprochen. Das ist ja wirklich eine zentrale Frage. Denn alle unsere schönen Ideen nützen nichts, wenn wir keine Möglichkeit haben, irgend etwas davon umzusetzen. Ich mache das einmal ganz platt, aber Politik ist manchmal ganz platt: Der Stadtrat von Dresden muß die kommunalen Wohnungen nicht veräußern. (...) Das ist jetzt auch die Eigentumsfrage, von der die Rede ist. (...) In dem Sinne plädiere ich für eine politische Handlungsweise, die das Eigentum im Auge hat auf der kleinsten Ebene, auf der kommunalen Ebene. Das verbindet sich für mich auch mit den Irrtümern, die früher gemacht wurden im Sozialismus: Wenn man nur noch eine zentrale Stelle hat, in der alle Daseinsprojekte verwaltet und entschieden werden, dann ist das eben nicht Demokratie. (...) Also bin ich wirklich für Dezentralisierung und Demokratisierung. (...) Wir sind uns hier nicht uneinig darin, daß wir die Machtfrage mit der Eigentumsfrage verbinden. Die Frage ist: Wie gehen wir jetzt da ran? (...) Eine Frage, die mich umtreibt: Wie kriegst Du die Mehrheit, um irgend etwas zu verändern? Warum wählen viele Menschen Parteien, die ihre Renten kürzen, die ihre Interessen nicht berücksichtigen? Deshalb haben wir mal vorgeschlagen, daß man mit Wahlen Sachentscheidungen verbindet: Laß uns nicht nur Bundestagswahlen machen, sondern laß uns das mit einem Volksentscheid verbinden. (...) Der zweite Vorschlag: Warum kann man nicht Abgeordnete, die Wahlbetrug gemacht haben - (...) warum gibt es in unserem Wahlrecht kein Verfahren, diese Abgeordnete direkt danach wieder abzuwählen? (...)

* Klein: (...) Ich stimme mit dem Kurzzeitprogramm, das Oskar hier vorgetragen hat, zu 100 Prozent überein. Aber selbst wenn ich diese ganzen Maßnahmen durchsetze, dann lande ich ja bestenfalls in den siebziger Jahren, also beim Programm von Willy Brandt. Ich glaube nicht, daß das die Antwort auf unsere Probleme heutzutage ist. (...)

* Holz: (...) Ich bin sehr einig mit Lafontaine, daß die Demokratie auch mit der Dezentralisierung der Macht anfängt. Da ich in einem Land mit relativ dezentraler Struktur lebe, nämlich in der Schweiz, habe ich auch unmittelbare Erfahrung mit vorimperialistischer Demokratie. Da erlebe ich, daß tatsächlich das Referendum dahin führen kann, daß eine Nation mehrheitlich nein sagt zu Vorschlägen, die von allen Parteien unterstützt wurden. Das ist doch wunderbar. Selbst wenn die Entscheidung falsch wäre, würde ich mich darüber freuen, daß sie gefällt werden kann. (...) In diesem Sinne haben wir eine ganze Auswahl von Übergangsformen zwischen dem gegenwärtigen Stadium des Imperialismus und dem Eintritt in eine neue Gesellschaftsformation des Sozialismus/ Kommunismus. Dazu gehört für mich auch - es hat jemand die Frage der nationalen Souveränität angesprochen - die Erhaltung der nationalen kulturellen Vielheit. Ich möchte nicht eine Menschheit, die nur noch der Coca-Cola-Kultur unterworfen wird. (...)

Quelle: www.jungewelt.de


Grundlinien linker Politik

Rede von Oskar Lafontaine, Vorsitzender der Bundestagsfraktion 'Die Linke' aus 'junge Welt' vom 19./20.1.2006


Liebe Freundinnen und Freunde, vielen Dank für die Einladung zu dieser Konferenz. Ich bin gerne hierher gekommen, um unsere Vorstellungen - mit unsere meine ich die Linkspartei und die WASG - zur Entwicklung der Linken in der Bundesrepublik Deutschland auf dieser Konferenz vorzutragen. Ich glaube, es ist ganz gut, sich in Erinnerung zu rufen, was die Ausgangssituation war, bevor diese neue politische Gruppierung entstand. Ich will das in wenigen Worten tun.

Wir haben seit mindestens 20 Jahren eine neoliberale Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Diese neoliberale Politik hat unser Land erheblich verändert. Die Linke ist sehr stark auf dem Rückzug in den letzten Jahren, die Gewerkschaften sind es ebenso, und es war die Frage, ob es überhaupt noch einmal eine Gegenbewegung geben würde. Nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen haben einige sich zusammengetan und gesagt, es kann nicht so sein, daß für die Bundestagswahl die WASG und die Linkspartei.PDS getrennt antreten, mit dem Ergebnis, daß beide Parteien die Fünf-Prozent-Hürde verfehlen. Wir hatten dann einige Gespräche und haben uns entschieden, gemeinsam anzutreten. Und wir hatten das Ziel, Schwarz-Gelb zu verhindern und die Mogelpackung von Rot-Grün zu beenden. Beides ist gelungen. Aber diese 8,7 Prozent, die wir erreicht haben, sind kein Grund auszuruhen. Sie sind vielmehr ein Auftrag, uns Gedanken darüber zu machen, was die Wählerinnen und Wähler, die uns ihre Stimme gegeben haben, von uns in der Zukunft verlangen.

Es ist sicherlich richtig, wenn ich sage, daß dieses relativ gute Wahlergebnis auch damit zu tun hat, daß es Proteste gab gegen die Politik der Bundesregierung - ich denke an die großen Kundgebungen, an denen viele von uns teilnehmen konnten -, aber diese Proteste sind bekanntlich nie von Dauer, sie verebben schnell. Die Frage ist, was kann man tun, um diese Bewegung aufzunehmen und sie weiterzuführen. Ich glaube, daß es nicht gut ist, wenn die neue Gruppe, ihre Politik nur über die Ablehnung von Fehlentscheidungen der Vorgängerregierung oder der jetzigen Regierung definiert. Ich glaube, daß wir festhalten sollen an einer positiven Utopie der Gesellschaft. Ich knüpfe dabei immer wieder an die Utopie der Aufklärung an. Nach wie vor glaube ich, daß die Weltgesellschaft der Freien und Gleichen ein Ideal ist, an dem man sich orientieren kann und an dem sich auch nationale linke Gruppierungen orientieren können. Und ich glaube, daß wir hier in der Bundesrepublik Deutschland versuchen sollten, dazu beizutragen, daß wir ein Staat sind, der in der Außenpolitik anknüpft an die Politik Willy Brandts und der in der Sozial- und Wirtschaftspolitik versucht, eine Gesellschaft zu errichten, in der jeder Mensch sein Leben in Würde leben kann, frei von sozialer Not, und in der wir eine echte soziale Demokratie entwickeln.

Begriffe hinterfragen

Was ist die Linke? Zur Zeit könnte man sie vielleicht als eine aufkommende Widerstandsbewegung gegen den Neoliberalismus bezeichnen, weil der Neoliberalismus ein Angriff auf die Würde des Menschen ist, weil der Neoliberalismus ein Angriff auf die Demokratie ist und weil der Neoliberalismus ein Angriff auf die soziale Gerechtigkeit und den Sozialstaat ist. Wenn man dies so analysiert und wenn man sich vor Augen hält, welche Prinzipien der Neoliberalismus in den letzten Jahren verfolgt hat, dann kann man sehr leicht auch das Gegenkonzept entwickeln. Ich glaube, daß der Neoliberalismus bestimmt war von den Begriffen der Deregulierung, der Privatisierung und des Abbaus der Demokratie. Wenn man übereinstimmt, daß diese Begriffe das neoliberale Handeln charakterisieren, dann ist der Auftrag der Linken aus den Gegenbegriffen abzuleiten.Wir wollen nicht Deregulierung, sondern wir wollen Regulierung. Wir wollen nicht Privatisierung, sondern wir wollen die Ausweitung des öffentlichen Sektors. Und wir wollen nicht nur Demokratisierung, sondern wir wollen die Ausbreitung der sozialen Demokratie in unserer Gesellschaft.

Wenn wir uns diese Ziele vornehmen, dann glaube ich, daß wir erst einmal erkennen müssen, daß dies auch eine geistige Auseinandersetzung ist, die zunächst nichts zu tun hat mit praktischen politischen Schritten. Wir haben eine kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus. Und die neue Linke sollte sich die Aufgabe stellen, die kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus langsam aufzuweichen und allmählich zu einer Diskussion in der Bundesrepublik beizutragen, in der die tiefgreifende und langanhaltende kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus durchbrochen wird. Ich sage es immer so: Der Kapitalismus entfremdet nicht nur die Arbeit, er entfremdet vielmehr auch die Sprache und damit das Denken. Und das ist eine große Barriere, vor der wir stehen und der wir vielleicht in den letzten Jahren viel zu wenig Beachtung geschenkt haben.

Ich will drei Beispiele erwähnen, um deutlich zu machen, was ich meine: Der zentrale Begriff der Reformpolitik der letzten Jahre war der Begriff der Lohnnebenkosten. Und alle Parteien haben gesagt, zentrales Ziel unserer Politik ist es, die Lohnnebenkosten zu senken. Und auch die jetzige Regierung sagt immer wieder, die Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden. Und wenn man die Medienwelt in Deutschland betrachtet, dann hören und lesen wir jeden Tag Hunderte Kommentare, in denen gefordert wird, die Lohnnebenkosten zu senken. Dies ist ein klassisches Beispiel dafür, wie der Kapitalismus die Sprache beherrscht, wie diese Sprache von allen übernommen wird und wie alle nur noch in diesen Begriffen denken. Wenn man aber innehält, kommt man sehr leicht zu der Einsicht, daß kein Rentner auf die Idee käme zu sagen, meine Rente, das sind ja nur Lohnnebenkosten. Wenn man weiterdenkt, kann man sich auch nicht vorstellen, daß ein Kranker auf die Idee kommt und sagt, ich brauche jetzt Lohnnebenkosten, um die Rechnungen für meine Krankheit bezahlen zu können. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß die Arbeitslosen sagen, das Geld, das ich bekomme, sei es Arbeitslosengeld I oder Arbeitslosengeld II, um diese schrecklichen Termini wieder einmal in Erinnerung zu rufen, besteht aus Lohnnebenkosten. Man sieht also hier, daß dieser Begriff ein einseitiges Interesse reflektiert, nämlich das Interesse der Unternehmerschaft oder der Kapitalisten. Und deshalb ist es ganz nützlich, einmal darauf hinzuweisen, daß es bei den Lohnnebenkosten um Geld für Rentner, Kranke, Arbeitslose und Pflegebedürftige geht. Und wenn man den Begriff Lohnnebenkosten schlicht und einfach ins Deutsche übersetzt, dann heißt die zentrale Progammatik aller Parteien, die im Bundestag außerhalb der Fraktion der Linken vertreten sind: Wir wollen das Geld für Rentner, für Kranke, für Pflegebedürftige und für Arbeitslose kürzen - und damit hat man die gesamte Politik der letzten Jahre auf den Punkt gebracht. Denn nichts anderes ist geschehen. Und nichts anderes ist das Programm der großen Koalition.

Vom Kapitalismus sprechen

Der zweite zentrale Begriff der neoliberalen Hegemonie ist die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes - einer der schrecklichsten Begriffe der letzten Jahre. Und immer wieder hören wir, daß jeder, der meint, er müsse sich sachverständig zu ökonomischen Fragen äußern oder zur zukünftigen Entwicklung der Reformen der Bundesrepublik Deutschland, sagt: Wir brauchen eine stärkere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Und auch jetzt, wenn die Frage gestellt wird, nicht nur bei uns, sondern in Gesamteuropa, was können wir denn tun, um die Arbeitslosigkeit abzubauen, um wieder zu mehr Wachstum und Beschäftigung zu kommen, dann heißt es, wir brauchen eine stärkere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Auch hier hilft die Übersetzung weiter: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes heißt weniger Kündigungsschutz, heißt Arbeitszeiten rund um die Uhr ohne Rücksicht auf familiäre, soziale und kulturelle Traditionen und heißt niedrige Löhne, nach Möglichkeit immer näher an der Ein-Euro-Grenze. Das heißt Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Und ich pflege an dieser Stelle immer wieder darauf hinzuweisen, daß die Diskussion, die öffentlich geführt wird über den Fall der Geburtenrate in Deutschland, daß die Angst, die überall geschürt wird, daß wir aussterben, einfach mal mit der Tatsache konfrontiert werden muß, daß die Geburtenrate eines Volkes eine Antwort ist auf die Arbeitsmarktpolitik und auf die Sozialpolitik der Regierung dieses Volkes. Mit anderen Worten, wenn wir mit die niedrigste oder sogar die niedrigste Geburtenrate in Europa haben, dann liegt das schlicht und einfach daran, daß wir in der Sozialpolitik und in der Arbeitsmarktpolitik Fehler machen, die ein Ausmaß erreicht haben wie in keinem anderen europäischen Land. Es liegt bei uns nicht daran, daß die Familien nicht vielleicht da oder dort noch Sonderzuwendungen des Staates bekommen, daß immer weniger Kinder geboren werden. Es liegt schlicht und einfach an der sogenannten Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, daß immer weniger junge Leute Familien gründen können und immer weniger junge Leute sich zu Kindern entschließen. Wer nicht weiß, ob er in wenigen Monaten noch Geld auf dem Konto hat, der ist nicht in der Lage, eine Familie zu gründen, also Kinder in die Welt zu setzen.

Das dritte zentrale Wort der Reformpolitik ist die Globalisierung. Ich plädiere dafür, es in Zukunft bei unseren Debatten immer zu ersetzen durch das Wort Kapitalismus. Wenn man das nämlich macht - und ich muß sagen, ich bin relativ spät darauf gekommen, ich habe auch oft das Wort Globalisierung gebraucht, so wie ich auch in früheren Reden das Wort Lohnnebenkosten gebraucht habe, ohne selbst zu merken, wie ich diesen Wörtern schlicht auf den Leim gegangen bin - wenn man also das Wort Globalisierung durch Kapitalismus ersetzt, dann stellt man fest, daß der Kontext wieder stimmt. Es wird dann deutlich, daß ein solches System auf Expansion drängt, daß es grenzüberschreitend ist, daß es alle vorherrschenden Bindungen aufbricht, und das genau das in diesem einen Wort begründet ist, was allgemein als negative Begleiterscheinung der Globalisierung von uns und von vielen anderen beklagt wird. Also nennen wir doch einfach die Globalisierung Kapitalismus - und dann sind wir immer auf der richtigen Seite.

Schützende Gesetze

Nun habe ich gesagt, daß ein zentrales Wort des Neoliberalismus die Deregulierung ist. Und wir haben das ja oft gehört und können es immer wieder nachlesen. Und der Deregulierung möchte ich jetzt nicht einen Klassiker des Sozialismus entgegensetzen, sondern ich möchte diesem Begriff Rousseau entgegensetzen, einen Denker der Aufklärung. Er sagte einmal: Zwischen dem Starken und dem Schwachen befreit das Gesetz, während die Freiheit unterdrückt. Ich wiederhole diesen historischen Satz Rousseaus noch einmal, weil er wirklich eine Handlungsanleitung ist für vieles, was wir in Zukunft zu tun haben: Zwischen dem Starken und dem Schwachen befreit das Gesetz. Der Schwache braucht das Gesetz, um überhaupt in Freiheit leben zu können, um sich überhaupt gegenüber dem Stärkeren behaupten zu können, während die Freiheit unterdrückt, weil dann der Stärkere sich durchsetzt und die Schwächeren an die Wand drückt. Und wenn man sich die Weltpolitik einmal ansieht, und wenn man unsere Sozialgesetzgebung, den Kündigungsschutz und so weiter betrachtet - immer wieder stoßen wir auf dasselbe Prinzip: der Abbau von Regeln, der Abbau von Gesetzen nützt dem Stärkeren und schwächt die Schwächeren - also müssen wir das umgekehrt handhaben. Wir müssen immer wieder darauf drängen, daß Regeln, national und international, eingehalten werden zugunsten der Schwachen - und dabei sind wir mitten in der praktischen Politik.

Internationaler »Terrorismus«

Wir hören auch heute wieder, daß Frau Merkel mit Herrn Bush sich darüber unterhalten hat, wie man denn im Kampf gegen den Terrorismus gemeinsam zusammenarbeiten könne. Ich habe kürzlich den Deutschen Bundestag provoziert, indem ich gesagt habe, ihr kämpft alle gegen den internationalen Terrorismus. Ihr habt euch aber bisher die Pflicht geschenkt zu sagen, was eigentlich Terrorismus ist. Wie kann man gegen irgend etwas kämpfen, von dem man noch nicht einmal in der Lage ist zu sagen, was es denn eigentlich ist? Und wenn ihr euch der Mühe unterziehen würdet zu sagen, was denn Terrorismus ist, dann würdet ihr sehr schnell mit der Tatsache konfrontiert, daß euer eigenes Handeln oft ganz in der Nähe, wenn nicht direkt terroristisches Handeln ist. Ich will keine umfassende Definition des Terrorismus hier vortragen, das wäre sicherlich vermessen, aber für mich ist ein Kernelement folgender Gedanke: Terrorismus ist immer das Töten unschuldiger Menschen, um politische Ziele zu erreichen. Das gilt aber nicht nur für einen Teil dieser Welt, das gilt für die ganze Welt - und wenn wir beispielsweise Kriege führen, in denen viele unschuldige Menschen ums Leben kommen, dann ist das Staatsterrorismus. Das muß in aller Klarheit gesagt werden.

Ihr werdet es nicht erleben in den nächsten Wochen und Monaten, daß einer, der sich an der öffentlichen Debatte beteiligt und die bisherige Außenpolitik rechtfertigt, in der Lage ist zu sagen, was er unter Terrorismus versteht. Das gilt im übrigen nicht nur für die handelnden Politiker, das gilt für die schreibende Zunft, und das gilt auch überhaupt für all diejenigen, die in den Medien argumentieren. Überall werden die Begriffe verwandt, ohne daß man sich die Mühe macht, sie überhaupt zu definieren. Und ein Grund für mich, hierher zu kommen, war auch, daß in der jungen Welt immer steht: Besatzungstruppen und nicht US-Truppen, wenn über Afghanistan oder den Irak berichtet wird.

Wenn wir also den Rousseauschen Gedanken aufgreifen und ihn als verbindliche Handlungsmaxime für die Linke definieren, dann heißt das in der Außenpolitik zunächst einmal, strengstens auf das Völkerrecht zu achten und für das Völkerrecht einzutreten. Wenn die Staaten des Westens dies beherzigen würden, sähe die gesamte Außen- und Weltpolitik völlig anders aus. Die Beachtung des Völkerrechts ist dringende Voraussetzung für jede Form linker Außenpolitik. Das galt und gilt für Jugoslawien, das gilt für Afghanistan, das gilt für den Irak und das gilt auch, um ein aktuelles Thema anzusprechen, für den Iran. Es ist doch unglaublich, wie die westliche Staatengemeinschaft sich gegenüber dem Iran verhält! Alle Staaten haben den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet. Dieser Vertrag hat klare Regeln, und er verpflichtet alle Signatarstaaten, diese Regeln zu beherzigen. Die Politik der westlichen Welt beruht aber darauf, daß die Atommächte nicht gehalten sind, die Regeln des Atomwaffensperrvertrages einzuhalten, nämlich kontrolliert und vollständig abzurüsten - das haben sie unterschrieben -, während sie gleichzeitig dem Iran Technologien vorenthalten oder verbieten wollen, die nach dem Vertragswerk genehmigt sind. Auf dieser Grundlage kann man international keine Verständigung über diese schwierige außenpolitische Frage erreichen. Wir haben vor gut 20 Jahren die Antiatombewegung in der Bundesrepublik Deutschland gehabt. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, daß es atomare Abrüstung nur geben kann, wenn sich alle Staaten daran beteiligen. Die Lektion der Außenpolitik, die die arabischen Staaten und viele andere Staaten aus der Politik der einzig verbliebenen Supermacht ziehen, ist die: Solange du keine Atomwaffen hast, läufst du Gefahr, angegriffen zu werden, falls dein Land Öl- oder Gasvorräte hat. Deshalb kann die Antwort nur die sein: Wir brauchen eine atomwaffenfreie Zone im Vorderen Orient. Das gilt dann aber für alle, und das setzt voraus, daß die jetzigen Atommächte sich im Rahmen des Atomwaffensperrvertrages daran machen, kontrolliert und vollständig abzurüsten.

Ich verlasse aus Zeitgründen das Feld der Außenpolitik, soweit es militärische Interventionen angeht, und komme zur internationalen ökonomischen Entwicklung. Auch hier hilft die Rousseausche Regel weiter. Der Neoliberalismus hat sich ausbreiten können, weil es zwei entscheidende Strukturveränderungen in der Welt gab, die die Linke viel zu wenig diskutiert hat. Das eine war die Aufgabe der festen Wechselkurse, der Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods, das andere war die Freigabe des Kapitalverkehrs, also die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte. Wenn man diese Analyse teilt, so kann man aus dem, was ich bisher vorgetragen habe, ableiten, daß die Linke dafür eintreten muß, daß die internationalen Finanzmärkte wieder re-reguliert werden müssen. Das heißt, es muß wieder feste Wechselkurse und eine Kontrolle des Kapitalverkehrs geben, sonst entsteht eine immer größere Spekulationsblase, die dann, wenn sie platzt, die schwächsten Staaten dieser Welt trifft. Wenn man diesen Gedanken aufnimmt, weiß man, daß die schwachen Staaten hinsichtlich ihrer Volkswirtschaften Regeln brauchen. Regeln, auf die wir uns auch in früheren Jahren, als unsere Volkswirtschaften noch nicht so entwickelt waren, berufen haben. Die schwächeren Staaten brauchen Zölle, sie brauchen das Recht, Zölle einzuführen, um in ihrem eigenen Land autonom Produktionen aufzubauen. Das haben alle Industriestaaten so gemacht, warum will man das den sogenannten schwächeren Staaten verwehren? Was sie nicht brauchen, ist eine Weltwirtschaftsordnung, in der die starken Staaten Zollwände errichten, um die Produkte der Schwachen nicht reinzulassen und in der sie auf Weltebene alles daran setzen, die geringen Schutzmauern, die die Schwachen noch haben, einzureißen. Das ist regelrecht pervers! Hier ergibt sich die Notwendigkeit, immer wieder für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu streiten.

Nein zur EU-Verfassung

Was die europäische Ebene angeht, so auch hier aus Zeitgründen nur wenige Worte. Ich bin stolz darauf, daß ich im bescheidenen Umfang mit dazu beitragen konnte, daß die EU-Verfassung in Frankreich abgelehnt worden ist. Denn das Nein der Franzosen und der Niederländer war keine Absage an die europäische Idee. Das Nein der Niederländer und Franzosen war eine Absage an die praktische Politik in Europa, die durch die Verfassung festgeschrieben werden sollte, an eine Politik des Lohn-, Sozial- und des Steuerdumpings. Eine solche Politik dürfen wir niemals akzeptieren. Deshalb muß die Linke, so wie sie auf internationaler Ebene für eine globale Regulierung des Kapitalverkehrs und der Wechselkurse eintreten muß, auf europäischer Ebene eintreten für Mindeststandards bei Löhnen, sozialen Leistungen, Steuern und Umwelt. Ohne diese Mindeststandards wird es kein gutes Zusammenleben der europäischen Staaten geben. Ohne diese Mindeststandards werden sich auch die Menschen in allen Mitgliedsländern nicht für die europäische Idee erwärmen können. Denn nur diese Mindeststandards stellen sicher, daß der eine den anderen nicht niederkonkurriert, und daß es letztendlich möglich ist, schrittweise mehr Wohlstand und soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Deutlich machen können wir diesen Gedanken am Protest gegen die Bolkestein-Richtlinie, die nichts als eine Kopfgeburt des Neoliberalismus ist, um Löhne weiter nach unten zu treiben. Die Linke muß dagegen Widerstand leisten. Um das konkret auch in unsere kontroversen innerparteilichen Diskussionen zu übersetzen, möchte ich hier sagen: Wenn es wiederum einen Anlauf gibt, diese EU-Verfassung doch noch in Kraft zu setzen, dann müssen wir darauf drängen, daß Länderregierungen, an denen die Linkspartei beteiligt ist, dieser Verfassung nicht zustimmen und dies auch klar zum Ausdruck bringen im Gespräch mit ihrem jeweiligen Koalitionspartner. Wenn wir nämlich so etwas erreichen wollen wie die kulturelle Hegemonie, von der ich gesprochen habe, ist das ein ganz, ganz langer Weg. Um die ungeheuren Sprachbarrieren zu durchbrechen, denen wir alle unterworfen sind - deswegen habe ich ja eigene Irrtümer eingeräumt - wird es eine ganze Zeit brauchen. Aber wir können vielleicht etwas erreichen, wenn wir uns um eines bemühen, was genau so wichtig ist wie die richtige Erkenntnis, nämlich um Glaubwürdigkeit. Wir dürfen die Ziele nicht zu hoch setzen. Aber wenn wir Grundsätze reklamieren, dann müssen wir bei diesen Grundsätzen in unserem praktischen Handeln in den Parlamenten und in den Regierungen glaubwürdig sein.

Neoliberale Deregulierung

Damit komme ich zur deutschen Innenpolitik. Deregulierung - Deregulierung heißt Abbau des Kündigungsschutzes und der Tarifverträge. Deregulierung heißt, nur noch befristete Arbeitsplätze anzubieten und bedeutet Minijobs und Leiharbeit bereitzustellen usw. usf. An dieser Stelle kann man auch erkennen - und ich sage das hier, auch wenn der eine oder andere dem nicht zustimmen kann -, daß auch die Befürworter dieser Maßnahmen in der Situation sind, daß sie gar nicht so richtig wissen, was sie tun. Wenn beispielsweise der Bundeswirtschaftsminister Glos jetzt für höhere Löhne plädiert, dann habe ich stark den Eindruck, daß er nicht weiß, was die Sozialgesetzgebung der letzten Jahre eigentlich für Verwüstungen angerichtet hat. Damit meine ich insbesondere die Hartz-IV-Gesetzgebung, den Abbau des Kündigungsschutzes usw. Wir müssen doch sehen, daß Arbeitnehmer, die Angst haben, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit auf Hartz IV zurückzufallen, keine Widerstandskräfte mobilisieren, und daß sie jeder Erpressung mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind. Das heißt, die große Koalition der letzten Jahre - die besteht ja nicht erst seit ein paar Monaten - hat durch ihre verfehlte Sozialgesetzgebung die Grundlage dafür geschaffen, daß die Löhne in Deutschland immer weiter nach unten gehen und die Arbeitnehmer immer mehr erpreßt werden. Daher brauchen wir auch hier Re-Regulierung. Diese Debatte geht hinein nicht nur in die beiden Parteien, für die ich hier spreche, sondern auch in die Gewerkschaftsbewegung, für die ich mich als einfaches Mitglied hier auch äußern kann.

Der Neoliberalismus hat in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur Parteien infiziert, einschließlich der beiden, für die ich hier spreche - ich will das ausdrücklich sagen -, er hat auch die Gewerkschaftsbewegung infiziert, weil Deregulierungen von den Gewerkschaften akzeptiert worden sind, die notwendigerweise zu einem immer weiteren Abgleiten der Löhne führen müssen. Es kommt doch nicht von ungefähr, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg im letzten Jahr fallende Bruttolöhne hatten. Fallende Reallöhne haben wir schon seit zehn Jahren. Dieser Prozeß setzt sich fort. Eine der Ursachen - und deshalb spreche ich hier die Gewerkschaften an - sind die Bündnisse für Arbeit. Das ist wirklich Orwell in Reinkultur. Diese Bündnisse für Arbeit - die aus der Idee heraus entwickelt worden sind, daß es Betriebe geben kann, die kurz vor dem Bankrott stehen und wo man versucht, alles Geld zusammenzukratzen und wo auch die Belegschaft bereit ist, Beiträge in Form von Verzicht zu leisten - haben sich mittlerweile in der ganzen Bundesrepublik ausgebreitet. Auch in Betrieben, die beträchtliche Gewinnmargen haben, die also nur auf den Aktienkurs starren und die dann noch hingehen und die Arbeitnehmer verhöhnen, indem sie ihnen zuerst Verzicht abpressen und dann die eingegangenen Versprechen brechen. Beispiel Siemens oder Continental. Das können wir nicht weiter akzeptieren, und hier muß sich die Gewerkschaft eine Gegenstrategie einfallen lassen, um diese verhängnisvolle Entwicklung zu stoppen. Die Bündnisse für Arbeit sind Bündnisse gegen Arbeit, weil sie eine Lohnspirale nach unten in Gang setzen. Es gibt keine einzige Volkswirtschaft der Welt, die ökonomisches Wachstum und mehr Beschäftigung erreichen konnte bei sinkenden Löhnen.

Privatisierungspolitik

Ich komme nun zum Begriff Privatisierung. Die Privatisierung ist ein Zurückdrängen der Demokratie - davon sprach ich bereits. Sie ist aber auch eine Enteignung des einzelnen und des gesamten Volkes. Zunächst einmal zur Enteignung des einzelnen: Hartz IV hat viele negative Folgen. Das Gesetz bringt auf den Punkt, wohin sich die Bundesrepublik entwickelt hat. Diejenigen - ich denke jetzt etwa an die Matadoren der Rot-Grünen-Regierung, die ich mitverbrochen habe, ich senke hier mein Haupt in Scham - also diejenigen, die dort die Entscheidungen mitzuverantworten hatten, die rannten früher rum und haben die linke Faust geballt und gerufen »Enteignet die Banken, enteignet Springer!«, und am Schluß haben sie die älteren Arbeitnehmer enteignet. Wo sind wir eigentlich gelandet? Dies zeigt, wie wenig Macht Arbeitnehmerorganisationen noch haben. Der Sachverhalt ist ja bekannt: Bezogen auf den Durchschnittslohn hat der Arbeitnehmer 60000 Euro eingezahlt. Wenn er dann arbeitslos wird und 53 Jahre alt ist, kriegt er ein Jahr Arbeitslosengeld, also 10000 Euro zurück. Dann wird er auf das Sozialamt geschickt oder auf die Agentur für Arbeit. Dort soll er alles offenbaren und seine Lebensversicherung, sein Auto oder sein Häuschen verscherbeln, um in den Genuß des sogenannten Arbeitslosengelds II zu kommen. Sie sagen doch jeden Tag, jeder soll Eigenverantwortung tragen, jeder soll in eigener Verantwortung für sein Alter vorsorgen. Und dann gehen sie hin und nehmen denen, die jahrzehntelang gearbeitet haben, viel Geld weg und machen sich gewissermaßen über sie lustig, indem sie sie zum Arbeitsamt schicken. Das ist pervers, liebe Freundinnen und Freunde!

Natürlich gehört in diesen Kontext auch die Privatisierung kommunaler Dienstleistungen. Die Linke macht ihre Politik immer an zwei Fragen fest: an der Verteilungs- und an der Eigentumsfrage. In der Verteilungsfrage sind wir für Mindestlöhne und steigende Arbeitnehmereinkommen. Zur Eigentumsfrage möchte ich nur sagen: Wir brauchen über die Frage, ob wir vielleicht die Banken stärker regulieren oder die Deutsche Bank verstaatlichen sollten, und wir brauchen auch über die Verstaatlichung der Grundstoffindustrie usw. gar nicht zu reden, solange wir blauäugig zugucken, wie immer mehr kommunale Dienstleistungen privatisiert werden, bis die Stadträte zuletzt überhaupt nichts mehr zu entscheiden haben in ihrem jeweiligen Stadtrat. Deshalb muß die Linke darauf achten, daß der Prozeß der Deregulierung umgewandelt wird in die Wiederherstellung von Schutzrechten und Regeln für die Schwächeren. Desweiteren muß sie darauf achten, daß der Prozeß der Privatisierung kommunaler Dienstleistungen wieder umgekehrt wird. Es ist doch pervers, wenn man anfängt, Wasser zu privatisieren. Dann kann man doch nur noch sagen: Die haben nicht mehr alle Tassen im Schrank, ein solches Grundelement der menschlichen Versorgung zu privatisieren. Das gilt auch für den Wohnbereich. Und deshalb war es ein Fehler, wenn hier in Berlin im Wohnbereich privatisiert worden ist. Und es ist ein Fehler, wenn in der Stadt Dresden ebenfalls versucht wird, Wohnungen zu privatisieren, die auch noch Ertrag für die Kommune abwerfen. Das darf so nicht weitergehen. Wer ernsthaft sagt, wir wollen die Gesellschaft sozial gestalten, der darf nicht Kernbereiche gesellschaftlicher Verantwortung in den Gemeinden und in den Ländern immer weiter privatisieren. Das muß die Grundlinie für die neue Linke sein, sonst wird sie unglaubwürdig.

An dieser Stelle kann man auch die vieldiskutierte Frage, ob man sich an der Regierung beteiligt, festmachen. Für mich war das nie eine Frage, die man im Grundsatz mit Ja oder Nein beantworten kann. Aufgrund meines politischen Lebens war das für mich immer die Frage, unter welchen Bedingungen gehst du Kompromisse ein, wenn du Kompromisse eingehen mußt? Wo ist deine Grenze? Max Weber hat einen Politiker einmal so definiert, daß man ihn nicht dadurch bestimmen könne, daß man in Zukunft immer sagen kann, was er vielleicht machen wird, sondern er hat jemanden, der politische Qualitäten hat, so definiert, daß man immer wissen muß, was der oder die in keinem Fall machen wird. Für die Linke muß gelten, daß wir dadurch Glaubwürdigkeit gewinnen, daß wir uns auch in Zukunft an Regierungen oder Gemeindeverwaltungen in keinem Fall beteiligen, wo öffentliche Dienstleistungen privatisiert werden. Das ist die Grundlinie, für die wir jetzt einmal einstehen müssen.

Ich würde an dieser Stelle gerne etwas über die Regulierung des Bankensektors sagen. Jeder weiß, welche realistische Perspektive solche Forderungen in der Bundesrepublik haben. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, daß es noch nicht allzulange her ist, daß auch der Bankensektor in Europa reguliert war. In Frankreich beispielsweise - und es jährt sich jetzt der Regierungsantritt der Parti Socialiste vor über 20 Jahren - war es zur damaligen Zeit üblich, daß Sparzinsen durch den Staat festgesetzt worden sind. Nun mag man sagen, daß ist ziemlich uninteressant, aber es wäre doch reizvoll, auf der kommunalen Ebene - da gibt es ja noch ein paar Sparkassen, die noch nicht privatisiert sind - einmal folgenden Skandal für die Linke zu thematisieren: Daß die Zinsgestaltung so ist, daß die ärmsten der Armen die höchsten Wucherzinsen bezahlen müssen, wenn sie einmal ihr Konto überziehen, während die Wohlhabenden nicht nur höhere Sparzinsen bekommen als die Inhaber kleiner Sparkonten, sondern auch, wenn sie mal Kredite aufnehmen, einen Bruchteil von dem bezahlen, was man den Ärmsten einfach abzieht, wenn sie ihr Konto einmal überziehen. Kommunale Sparkassen dürfen doch nicht platte Umverteilungsmaschinen von Arm zu Reich sein. Dann könnte man sie wirklich privatisieren. Nein, sie brauchen einen anderen Auftrag. Und bei Sparzinsen und bei den Dispozinsen muß man anfangen.

Sozialismus und Demokratie

Der Freund aus Portugal (Aurélio Monteiro dos Santos, Mitglied des ZK der portugiesischen KP, d. Red.) hat vorhin von Sozialismus und Kommunismus gesprochen. Er hat immer wieder gesagt, daß auch seine Partei sich nicht vorstellen könne, daß die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft ohne weitere Demokratisierung sozial gestaltet werden kann. Das sage ich dann gerne auch im Hinblick auf Fehlentwicklungen der Linken in den vergangenen Jahrzehnten oder im letzten Jahrhundert. Die Linke muß unverbrüchlich auf die Demokratisierung setzen, will sie die Fehler nicht wiederholen, die gemacht wurden und die vielleicht auch die sozialistische Idee diskreditiert haben. Für mich - und ich möchte in diesem Falle ausdrücklich unserem Freund aus Portugal zustimmen -, für mich gehören Sozialismus und Demokratie untrennbar zusammen. Und gerade auf der Tagung in Erinnerung an Rosa Luxemburg möchte ich sagen, das ist schon ein Leitstern: »Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden.« Wir dürfen diese Lehre der Geschichte niemals vergessen!

Liebe Freundinnen und Freunde, ich möchte nicht zuviel Redezeit in Anspruch nehmen. Ich glaube, daß einigermaßen klar geworden ist, an welchen Prinzipien entlang wir unser Programm entwickeln sollten. Und ich freue mich, daß doch viele von Euch diesem Programm zustimmen können. Aber ich sage noch einmal: Wir werden nicht weiterkommen, wenn wir nicht bestimmte Grundlinien einziehen, die wir bei unserem praktischen Handeln in den Parlamenten, in den Regierungen nicht opportunistisch zur Disposition stellen dürfen. Denn ohne Glaubwürdigkeit wird die Linke niemals Terrain gewinnen. Ihre Anhänger sind da nämlich viel, viel gnadenloser. Wenn die Rechte unglaubwürdig ist und vor Wahlen lügt und nach den Wahlen das Gegenteil macht, dann gehört das fast zum Alltag. Wenn die Linke das aber macht, verliert sie so sehr an Glaubwürdigkeit, daß sie Jahre braucht, bis sie sich wieder erholt.

Was ich vorgetragen habe, ist noch nicht ein ausformuliertes Programm. Es sollte aber deutlich machen, aufgrund welcher Prinzipien wir versuchen wollen, die Politik der nächsten Jahre zu entwickeln. Und hier spricht nicht jemand, der nicht Fehler gemacht hat in der Vergangenheit. Und es spricht nicht jemand, der sich nicht auch bei vielen Kompromissen später immer wieder gefragt hat: War das notwendig, solche Kompromisse einzugehen? Aber eines habe ich doch aus der Vergangenheit gelernt - und hier erinnere ich an die Friedens-, die Dritte-Welt-, die Umwelt- und an die Frauenbewegung vor gut 20 bis 30 Jahren. Es nutzt nichts, wenn man sich in solchen Bewegungen zu bestimmten Prinzipien bekennt, sondern man muß auch gegen Widerstände immer wieder die Kraft aufbringen, diese Prinzipien im praktischen Handeln und Denken durchzuhalten. Oder anders formuliert: Die Linkspartei und die WASG sind aufgebrochen, eine neue Linke zu bauen, und ich lade viele ein, daran mitzuwirken, weil es wirklich Kraft erfordert, daß wir nicht da landen, wo SPD und Grüne gelandet sind. Daß nämlich aus einer Partei oder aus Parteien, die einmal für Frieden und soziale Gerechtigkeit standen, Parteien geworden sind, die heute für völkerrechtswidrige Kriege und für Sozialabbau stehen. In diese Lage dürfen wir nicht geraten, und ich bitte Euch, dabei mitzuhelfen.

Quelle: www.jungewelt.de