Berlin, 2.11.2013 - Dr. Seltsams Angst vor den Drohnen - am Platz der Luftbrücke |
Heydrichs Schatten oder: Zweierlei Terror Eine Geschichte, mit der Dr. Seltsam im Jahr 2002 vor NSA und Drohnen gewarnt hat Am 10. Juni 2002 war der Gedenktag von Lidice, eines der grausamsten Naziverbrechen: Die Ausradierung einer ganzen Stadt als Rache für Heydrichs Tod in Prag. Aus diesem Anlaß hielt ich im Berliner Haus der Demokratie einen Vortrag unter dem Titel: "Die Hinrichtung Heydrichs, oder: Lob des Terrorismus". Heydrich war bekanntlich der Organisator der Judenmorde und der Wannsee-Konferenz, Eichmanns direkter Vorgesetzter, Gestapochef, Sadist, gefürchteter Frauenprügler im SS-Salon Kitty, Folterer und, laut Geheimdienstchef Walter Schellenberg, die "heimliche Achse des Dritten Reiches", der dritte Mann nach Hitler und Himmler, aber viel intelligenter als beide zusammen, ehrgeizig, informiert, gefährlich und mordbesessen wie kein zweiter. Er war "Reichsprotektor von Böhmen und Mähren" geworden, um dort den Arbeiterwiderstand in Blut zu ersäufen, denn bei den tapferen Tschechen war die Produktivität in der Rüstungsproduktion durch Streiks und durch Befolgung der kommunistischen Parole "Langsam Arbeiten!" um 30% gefallen. SS-Mann Heydrich wurde am 27. Mai 1942 von tschechischen Fallschirm-Springern, die aus London kamen, in seinem offenen Mercedes ermordet. Genau genommen wurde er von seinem Mercedes getötet, denn die Handgranate der Attentäter war auf den Rücksitz gefallen und nur einige Splitter hatten Strohteile aus der Polsterung in Milz und Nieren des Henkers gejagt, der eine Woche lang schmerzhaft starb. Von diesem Tag an gelang den Nazis nichts mehr so richtig, jeder anständige Mensch in Europa atmete einen Moment lang auf, Thomas Mann jubelte. Hitler fauchte, Heydrichs Tod sei schlimmer als eine verlorene Division, und der mußte es schließlich wissen. Für mich ist das Attentat auf Heydrich eines der historischen Beispiele für nützlichen Terrorismus, eine Feierstunde für jeden echten Humanisten. Anschließend in der Kneipe gab es wie üblich heiße Diskussionen Pro und Contra. Man sprach über arabische Selbstmord-Attentäter in Israel und USA. Einer kannte sich gut aus in Kirchen-Geschichte und überraschte uns mit der Rechtfertigung des Tyrannenmordes durch die Jesuiten im 17. Jahrhundert gegen Henry Quatre. Demnach wäre es so moralisch wie notwendig, einen Herrscher rechtzeitig umzubringen, der die Welt in grausame Kriege stürzen wird. Gemeint war natürlich der Alkoholiker George Dabbelju Bush mit seinem unstillbaren Durst auf Öl. Also sprachen wir über Afghanistan und die vielen zivilen Opfer der Bundeswehr, von denen man nichts erfährt, weil die Presse total versagt. Einer am Tisch war zusammen mit Bommi Baumann dort gewesen und schwärmte vom "Kiffen in Herat". - "Aber da haben die US-Raketen jetzt auch alles kaputt gemacht...", sagte Lothar versonnen, und da fiel mir meine Verabredung ein und ich bat mir sein Handy aus und rief meine Freundin an. Wir hatten Probleme mit dem Auspuff an unserem Opel und das Gespräch ging etwa folgendermaßen: "Oh nee, das kannste nicht machen, die Hitzeentwicklung ist zu stark; wenn das immer am Motor anschlägt, wird das auf einmal so heiß und der ganze Tank explodiert. Also lass uns die ganze Sache verschieben, Mutter kann auch ohne uns zum Flughafen kommen – Nee laß uns darüber jetzt nicht weiter reden, nicht am Telefon, das ist nicht mein Handy. Also bis nachher. Tschühüs - ja gut wir treffen uns bei Döner-Effendi und besprechen alles genauer. Ja, ich komme wie ne Rakete, versprochen. Bis gleich. Also Tschaui denn!" Soweit ziemlich wortgetreu die Vorgänge dieses Abends. Dann kam der Tagesspiegel-Verkäufer und plötzlich erschien mir unser harmloser Kneipenabend in einem ganz anderen Licht! Unser Freund George Warhead Bush gab bekannt, dass die USA sich fortan beim Kampf gegen den Terror nicht mehr um Bürgerrechte scheren würden, und um Grenzen auch nicht, dass die USA ihre Armeen weltweit an jedem Fleck der Erde einzusetzen gedenken, zum Beispiel um angeklagte Marines aus dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag raus zu hauen. Oder eben Leute, die sie für Terroristen halten, an ihre neuen geheimen Sonder-Militärgerichte zu überstellen und über sie revisionsfreie Todesurteile zu verhängen. Und ab wann jemand für Amerika ein Terrorist ist, konnte ich auch gleich lernen: Der Justizminister John Ashcroft hatte hochdramatisch von Moskau aus bekannt gegeben, dass sie schon seit einem Monat den 31jährigen Jose Padilla gefangen halten, auf einer geheimen Marinebasis, ihn dort ohne Anwälte verhören und verhören und möglicherweise auch ein ganz klein wenig foltern, weil der möglicherweise an Gesprächen beteiligt war, bei denen über die Möglichkeit gesprochen wurde, einen Sprengsatz mit radioaktivem Müll in eine Großstadt zu legen, die Diskussion sei allerdings erst "in einem sehr frühen Anfangsstadium" gewesen. Und der Deutsche Geheimdienst hatte beim Scannen, also beim flächendeckenden Abhören von Milliarden Handytelefonaten folgendes abgehört (Tagesspiegel, 13.6.2002, Seite 1, Kasten) "Sofort verschwinden". Das abgehörte Gespräch führten "Hamsa" und "Tabbah". Hamsa: "Die Hitzeenwicklung der Triebwerke ist so gross, dass man das Flugzeug mit Wärmesensoren nicht verfehlen kann." Tabbah: "Interessant ist die Lage der Flugschneisen und die Möglichkeit, sofort zu verschwinden. Im Hotel siehst du dann im Fernsehen, ob du Erfolg hattest" Hamsa: "Das ist nur eine Sache der Planung" Tabbah: "Hamsa nicht hier. Wir können am Montag bei Effendi reden" Soweit der aktuelle Tagesspiegel. Wie Schuppen fie1 es mir von den Augen, in welcher Gefahr ich schwebte: Ich hatte an einer Veranstaltung teilgenommen, bei der terroristische Aktivitäten verherrlicht wurden. Ich saß dabei, wie ein Attentat auf Bush geplant wurde - zwar nur "in einem sehr frühen Anfangsstadium", aber diese feinen Unterscheidungen zählten ja seit heute nicht mehr! Und hieß die Kneipe nicht "Basis", also auf Arabisch Al Kaida oder so ähnlich? Dann hatte ich auf einem Handy telefoniert, das mit seinem Besitzer schon in Afghanistan herumgereist war. Würde ich beim verschärften Verhör durch NSA und Sondergerichte ohne Anwalt auf einer geheimen karibischen Marinebasis wochenlang meine eigene Version durchhalten können, dass Lothar Ebert, stadtbekannter Friedensaktivist, Antiamerikaner seit Vietnam und Mitanmelder der Bush-Demo damals in Herat nicht etwa den Bösen Taliban gesucht hatte, sondern den Schwarzen Afghan? Von gesprengten Tanks hatte ich geredet, von Hitzeentwicklung und Flughafen und Raketen, hatte die Decknamen "Mutter" und "Effendi" benutzt und schnell Schluss gemacht, als das Gespräch detailliert wurde - natürlich aus Konspiration! Das alles wäre nur allzu offensichtlich für einen typisch amerikanischen Geheimagenten, den ich mir etwa ebenso unterbelichtet vorstelle wie seinen Regierungschef. Seitdem erwarte ich ständig, dass eine Einheit Marines über meinem Kopf abspringt und mir einen schwarzen Sack über den Kopf zieht. Oder dass eine leise Drohne aus der Stratosphäre mich atomisiert. Oder dass verbündete willige Vollstrecker vom SEK hinter der nächsten Ecke auf mich lauern um mich auszuliefern. Das war The Day that Changed my Life, denn seitdem lebe ich in Vorsicht und böser Erwartung. Und es gibt keine Stelle, wo man sich verstecken oder von der Verfolgung freikaufen kann, Kafka pur. Tja - das wars dann auch für euch, liebe Leser/Zuschauer! Euer Leben wird ab heute nie mehr sicher sein: Nach den gegenwärtigen Kriterien der US-Armee seid ihr nunmehr alle Mitwisser und Mitglieder im terroristischen "Dr.-Seltsam-Basis-Netzwerk", einer gefährlichen Terror-Organisation "in einem sehr frühen Anfangsstadium!" Guantanamo, Bagram warten auf euch. "Bei Sonne soll es dort ja ganz schön sein." Der weltweite Gestapostaat steht in der Tür. Heydrichs Schatten gewinnt Kontur. Dr. Seltsam, Kabarettist in Berlin. Dr. Seltsams Wochenschau, 5. Juni 2005 Copyright beim Autor, Erstdruck Junge Welt 21.Juni 2002 |