Köln, 28.12.2001 - Internationaler Tag für Frieden in Israel und Palästina - Kundgebung der 'Frauen in Schwarz'Bilder

Die Invasion in Bethlehem vom 19.-29. Oktober 20001

Aufzeichnungen von Faten Mukarker, Beit-Jala, Palästina, 31. Oktober 2001

Wie ich und meine Tochter elf Jahre alt wurden oder die Invasion von Bethlehem und Beit-Jala: Am 6. Juni 1967 wurde ich elf Jahre alt. Ich hatte schon alle meine Freundinnen eingeladen und mir viele Spiele ausgedacht, es sollte ein schönes Geburtstagsfest werden. Früh stand ich an diesem Tag auf. Ich wurde von dem Weinen meiner Mutter wach. Erschrocken fragte ich, was geschehen war. Doch anstatt mir zu antworten, weinte und jammerte sie noch viel lauter und schlug sich dabei auf arabische Weise abwechselnd auf Gesicht und Brust. Es muß jemand gestorben sein, kam mir in den Sinn, denn ich wusste, wie meine Mutter trauert. Doch da sagte sie, wir haben unsere Heimat verloren. Wer weiß, ob ich je meine Eltern und Geschwister wieder sehen werde. In Palästina ist Krieg.

An dem Tag wurde ich elf. Die Stunden vergingen. Es war schon bald Mittag. Leise fragte ich meine Mutter: Willst du nicht anfangen, Kuchen zu backen? Bald werden meine Freundinnen kommen. - Du bist ein großes Mädchen, sagte sie, du wirst verstehen, daß wir nicht deinen Geburtstag feiern können, wenn in unserer Heimat Krieg ist. Doch ich war weder groß noch habe ich es verstanden. Was sollte ich meinen Freundinnen sagen? Ich ging von Haus zu Haus, um sie auszuladen. Meine Mutter sei plötzlich sehr krank geworden, sagte ich, ohne ihnen dabei in die Augen zu schauen. Trauernd saßen wir bis in die Nacht hinein beisammen - meine Familie um unsere Heimat und ich um meinen Geburtstag.

Seitdem holt mich die Erinnerung jedes Jahr am 6. Juni zurück in meine Kindheit. Ich verlasse Deutschland mit zwanzig, um in meine unbekannte Heimat zu heiraten, so wie es meine Eltern für mich bestimmt haben. Die Jahre vergehen. Die israelische Besatzungsmacht ist immer noch in meiner Heimat.

Freitag, 19. Oktober 2001. Vierunddreißig Jahre nach meinem elften Geburtstag, meine jüngste Tochter wird elf. Seit Tagen fiebert sie diesem Ereignis entgegen. Ich war eingeladen von verschiedenen Gemeinden in Deutschland, um aus meinem Alltag in Beit-Jala zu berichten. Bei jedem Telefongespräch mußte ich ihr versichern, an ihrem Geburtstag wieder daheim zu sein. Die Geschichte wiederholt sich.

Am Donnerstag werden in Bethlehem drei Menschen von Scharon liquidiert. Am Freitag rollen Panzer in Beit-Jala und Bethlehem ein. Monika fragt mich angstvoll: Werden meine Freundinnen zu meinem Geburtstag kommen? Mein Herz krampft sich zusammen, denn ich höre schon von weitem die Schüsse. Maschinengewehrsalven, Granaten und Raketen wechselten sich plötzlich ab. Mein Mann schreit: Schmeißt euch alle auf die Erde“, denn schon oft war unsere Wohnung von Kugel getroffen worden. Die Erde unter uns bebte, die Fenster überlegten sich, ob sie zerspringen sollten. Monika krallte sich an mir fest und schrie. Werden sie jetzt in unser Haus reinkommen und uns erschießen?, fragte sie mich. Anstatt ihr zu antworten, halte ich sie ganz fest in meinen Armen, meine Tränen tropfen auf ihr Gesicht, ich weine um die geraubte Kindheit. Ich frage mich, wird man erwachsen mit den Jahren oder mit dem was man erlebt?

Wir hören die Panzer näher kommen. Angst - Todesangst überkommt mich. Ich kann nicht mehr klar denken, meine Knie werden weich. Die Einschläge sind ganz nah an unserem Haus, mein Mann macht ein Kreuzzeichen, ich habe nicht mehr die Kraft dazu. Unser Nachbarhaus ist getroffen. Ich höre die Kinder schreien, sechs Kinder, das jüngste ist ein Jahr alt. Sie haben erst vor zwanzig Tagen ihren Vater verloren. Ein Unfall in der Nähe von Jericho. Der Krankenwagen wurde am Checkpoint von den israelischen Soldaten nicht durchgelassen. Er verblutete. Wir kriechen aus unserer Wohnung in das Treppenhaus, weil dort weniger Fenster sind. Da habe ich noch nicht geahnt, daß unser Leben sich seitdem auf der Treppe abspielen wird. Die Nachricht von einem jungen Mann aus Beit-Jala erreicht uns, man hatte ihn in seiner Wohnung erschossen. Nach dem deutschen Arzt Harry Fischer, der zweite, der in Beit-Jala getötet wird. Neunzehn Jahre war er alt, in einer Sekunde durch eine Kugel war sein Leben erloschen.

Die nächste Hiobsnachricht, die uns erreicht: die Kusine meiner Schwägerin hatte sich aus dem Haus gewagt, um Milch für ihre zwei kleinen Kinder zu kaufen. Sie wird nie wieder zurückkehren. Vierundzwanzig Jahre alt, auf dem Nachhauseweg wurde sie erschossen. Von zwei anderen Frauen in Bethlehem ist die Rede, eine hat acht Kinder, eine sechs Kinder. Zivilisten werden einfach auf den Straßen getötet. Wo ist die Weltgemeinschaft, frage ich mich? Dreiundzwanzig Menschen hat man in Bethlehem und Beit-Jala in dieser Woche erschossen, über fünfzig in ganz Palästina. Wie viele Menschenleben braucht Scharon noch, um den Tod seines extremen Ministers aufzuwiegen?

Plötzlich hören wir Panzer in unsere Straße rein rollen. Soldaten steigen aus und schlagen mit dem Kolben ihrer Maschinengewehre an unsere Haustür. Wir halten den Atem an. Vor lauter Angst weinen die Kinder nicht mehr. Du musst aufmachen, sagt mir mein Mann. Ich?, fragte ich als wenn ich nicht gehört hätte. Wir Männer werden uns verstecken und ihr Frauen macht auf. Mir kommt in den Sinn, daß das eigentlich gegen unsere arabische Tradition ist, weil sonst, wenn fremde Männer uns besuchen, mein Mann aufmacht. Die Schritte zu unserer Haustür kommen mir vor wie jemand, der zu seinem Todesurteil geht. Ich öffne die Tür, sechs Soldaten dringen in unser Haus ein. Was sucht ihr?, frage ich sie, doch ich bekomme keine Antwort. Die Schlafzimmertür ist abgeschlossen. Sie warten nicht, bis ich sie aufschließe, sie treten die Tür ein. Sie finden bei uns nicht was sie suchen. Ihre Wut darüber lassen sie an unserem Auto aus. Sie zerschießen die Fensterscheiben. Ich laufe in unsere Wohnung zurück, da pfeift es an meinem Kopf vorbei. Sie hatten in das Schlafzimmer meiner Tochter geschossen. Das Fensterglas und ihr Kleiderschrank haben ein Loch. Ich frage mich, wer auf dieser Welt Terror definiert?

In der Nacht kommen sie wieder doch diesmal zu unseren Nachbarn. Nachdem sie ihnen die ganze Wohnung auf den Kopf stellen und in der Küche Mehl, Linsen und Reis vermischen und damit ihre letzten Vorräte unbrauchbar machen, fangen sie an, auf die zwei Familienväter vor den Augen ihrer Frauen und Kinder einzuschlagen. Sie verbinden ihnen die Augen und nehmen sie mit. Am Nachmittag wird ein Siebzehnjähriger vor der Geburtskirche in Bethlehem erschossen, die Kirche selber wird auch getroffen. Vielleicht wird das Menschen in der westlichen Welt aufrütteln, daß sie wenigstens Angst um die älteste Kirche der Christenheit haben.

Sonntag, der neue Propst soll in Jerusalem eingeführt werden. Im Programm steht, daß auch in Beit-Jala in der evangelischen Kirche ein Gottesdienst sein wird. Hoher Besuch wird von Deutschland erwartet. Bischof Koppe, Bischöfin Maria Jepsen und Bischof Huber aus Berlin. Ob sie es wohl wagen werden zu uns zu kommen? Da ich nicht in die Erlöserkirche nach Jerusalem gehen kann, will ich es hier versuchen. Mein Man ist ganz entsetzt, er will mich nicht gehen lassen. Ich verspreche ihm vorsichtig zu sein. Zwei Panzer kommen mir entgegen, ich verstecke mich hinter einem Auto. Der kleine Bus mit den Geistlichen kommt gleichzeitig mit mir an der Kirche an. Propst Ronecker und seine Frau sind auch dabei, nach zehn Jahren werden sie uns verlassen. Der Abschied von ihnen ist nicht leicht. Der Gottesdienst mit der Predigt von Bischof Huber, wobei er davon spricht, das Böse mit Gutem zu vergelten, bekommt mit den Maschinengewehrsalven und Einschlägen im Hintergrund eine noch tiefere Bedeutung für mich. Der Besuch aus Deutschland in einer so gefährlichen Zeit hat ein Zeichen von Solidarität gesetzt.

Danach gehen sie zum Trauergottesdienst der erschossenen Frau in die orthodoxe Kirche. Mit Respekt wird es von den Anwesenden wahrgenommen. Wieder zu Hause, wartet eine schlechte Nachricht auf mich. Die Schwiegermutter meiner Schwester ist durch einen Streifschuß verletzt, sie hat großes Glück gehabt, daß sie nicht tot ist.

Ein israelischer Freund ruft mich an. Ich sage ihm, was alles passiert ist. Warum sollten wir die Menschenrecht wahren, wenn Amerika sie nicht wahrt, wer soll denn jetzt noch Scharon aufhalten? meint er. Niedergeschlagen legte ich den Hörer auf. Die Nachrichten sagen, daß zwei Krankenhäuser und die Universität getroffen sind. Jeden Tag werden Menschen begraben. Bis wann, frage ich mich?

Zwei Hotels werden in Bethlehem von israelischen Soldaten besetzt. Von dort aus haben sie einen Überblick auf die zwei Flüchtlingslager in Bethlehem. Das Zerstören beginnt. Mit Granaten, Raketen und Panzern werden viele Häuser dort zerstört. Die israelischen Nachrichten sprechen von einem Luxuskrieg, weil ihre Soldaten in Fünf-Sterne-Hotels schlafen. Die Palästinenser haben für diese Art von Humor nicht viel übrig. Noch am gleichen Tag steht das Paradise Hotel in Flammen.

Wir haben kein Wasser mehr im Haus: das hatte uns gerade noch gefehlt! Wer weiß, wann sie uns wieder welches zuteilen werden? Das Wasser kommt alle zwei bis drei Wochen einmal. Es wird auf dem Doch in Blechkanistern gesammelt. Die Israelis zapfen uns das Wasser unter unseren Füßen weg, denn wir dürfen keine eigenen Grundwasserbrunnen bohren. Zurück bekommt ein Palästinenser ein sechstel von dem, was ein israelischer Siedler bekommt. Kein Trinkwasser, kein Spülwasser, kein Badewasser, kein Waschwasser, kein Toilettenwasser... Die Situation im Haus bei drei großen Familien wird unerträglich. Ich schäme mich, zu dieser Gesellschaft zu gehören, sagt mir meine jüdische Freundin am Telefon. Bitte laß deinen Sohn nie zum Militär gehen, flehe ich sie an. Er hatte schon zu oft mit Monika gespielt.

Endlich, am Freitag, nach einer Horror-Woche, in der wir kaum geschlafen haben, heißt es, sie werden abziehen, doch erst nach dem Schabat, wenn er vorüber ist. Am Schabat sollst du ruhen, sagt die Tora, doch nicht das Militär. Wir verbringen diesen Tag genau so im Treppenhaus wie die anderen Tage und Nächte. Der Schabat geht zu Ende - sie sind nicht abgezogen! Ich kämpfe mit den Tränen. Ein Lied ´Von guten Mächten treu und still umgeben´ von einem evangelischen Pfarrer geschrieben, über einen katholischen Pfarrer zu mir gefaxt, gibt mir als orthodoxe Christin Trost und Hoffnung.

Doch dann, Sonntagnacht, wir hören die Panzer abziehen. Auch das Haus hinter uns, was sie eingenommen und von dem sie auf Bethlehem geschossen haben, räumen sie. Montag Morgen, nach zehn Tagen Invasion durch die israelischen Panzer sind wir frei. Der Preis war hoch: dreiundzwanzig Menschenleben, zweihundert Verletzte, über zwanzig Millionen Dollar Sachschaden. Ich weiß, daß die Panzer nur die Straße hoch in die C-Zone gefahren sind. Doch trotzdem freue ich mich, wieder auf die Straße gehen zu können.

Salam - Faten Mukarker


Links

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