Frankfurt, 25.2.2009 - 'Gaza-Krieg – Folgen und Folgerungen' - Veranstaltung mit dem Bericht des Chirurgen Dr. Muneer Deeb als Augenzeuge und Prof. Werner Ruf |
Information über Gaza aus erster Hand Presseeinladung und Terminhinweis der IPPNW zur Informationsveranstaltung 'Gaza-Krieg – Folgen und Folgerungen' am 25. Februar 2009 um 19 Uhr im Ökohaus KaEins, Kasseler Str. 1a, Frankfurt/Main (Nähe Westbahnhof) Sehr geehrte Damen und Herren, laut einem Anfang Februar in der britischen Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlichten Bericht wurden auf Gaza schätzungsweise 1,5 Millionen Tonnen Sprengstoff abgeworfen. Das macht pro Kopf der Bewohner in diesem äußerst dicht besiedelten Gebiet eine Tonne. Insgesamt wird die Zahl der Todesopfer auf Seiten der Palästinenser auf 1.350 geschätzt. Die Zahl der Toten steigt noch, weil neben den direkt Getöteten immer mehr Verwundete ihren Verletzungen erliegen. Laut dem Lancet-Bericht waren 60 Prozent der Getöteten Kinder. Unter den 5.450 Schwerverletzten befänden sich etwa 40 Prozent Kinder. 1.600 Schwerverletzte würden auf immer unter Behinderungen leiden (z.B. Amputationen, Kopfverletzungen, Rückenmarkverletzungen). Während des Krieges hatten JournalistInnen keine Möglichkeit, aus erster Hand über den Krieg zu berichten. Wir möchten Ihnen die Gelegenheit bieten, den Bericht eines Augenzeugen zu hören. Wir laden Sie herzlich zu unserer Veranstaltung über den Gaza-Krieg, die Langzeitfolgen für die Bevölkerung und die völkerrechtliche Bewertung des Konflikts mit anschließender Diskussion über die Handlungsmöglichkeiten für die Friedensbewegung ein. ReferentInnen:
Veranstalter:
Ein Chirurg als Augenzeuge während des Gaza-Krieges Dr. med. Muneer Deeb (Arzt für Chirurgie und Visceralchirurgie, Vorsitzender PalMedDeutschland e.V., stellvertr. Vorsitzender PalMedEurope) berichtet als Augenzeuge über die Zeit vom 12. bis 20.01.2009 in Gaza Der Gaza Streifen mit seinen 1,5 Mio. Einwohner auf einer Fläche von 37 km² das am dichtesten besiedeltes Gebiet der Erde. Als die israelische Militäroffensive am 28.12.2008 gestartet wurde, war das Gesundheitssystem durch den 18 Monaten andauernden Belagerungszustand bereits schwer angeschlagen. Es herschte ein Mangel an wichtige Medikamente wie Antibiotika, Anästhetika, Antihypertensiva und Analgetika, neben einfachen Laborreagenzien zur Messung von Elektrolyten, Herz-, u. Leberenzymen. Viele medizinische Geräte, wie z.B. Hämodialysegeräte, waren wegen Mangel Ersatzteilen, außer Betrieb. Ummittelbar nach Beginn der militärischen Operation waren die Krankenhäuser mit ihrem Personal schon nicht in der Lage die vielen Verletzen adäquat zu behandeln. Schnell waren die Ärzte durch den Dauereinsatz erschöpft und riefen international tätige Ärzteorganisationen zur Unterstützung. Wie viele andere Organisationen bildete die französische Ärzteorganisation `Help Doctors` zusammen mit der europaweit vertetenen `PalMed Europe` Organisation ein Chirurgenteam; bestehend aus einem Unfallchirurgen, zwei Handchirurgen, einem Viszeralchirurgen (Autor), einem Anästhesisten, sowie einem Katastrophenmediziner und einem Logistiker. Mit einem Konvoi der französischen Botschaft in Kairo wurden wir zum Grenzübergang `Rafah` an der Grenze zum Gaza Streifen gefahren. Nach langen sehr mühsamen und zähen 7 stündigen Verhandlungen gelangten wir endlich auf die palästinensische Seite der Grenze. Dort hat jeder eine Erklärung unterschrieben, auf eigene Gefahr in den Gaza Streifen einzureisen. Der häufigste Satz, den ich immer wieder zu hören bekam war: Niemand ist nirgendwo in Gaza sicher. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Unter den Palästinensern war allgemein bekannt, mit Einbruch der Dunkelheit verstärken sich die Angriffe und es wird besonders gefährlich. Als wir, zusammen mit anderen Ärzten aus verschiedenen Ländern, u.a. aus Griechenland, in die Krankenwagen (einziger und vermeintlich sicherster Transportmittel) einsteigen wollten, detonierten 2 große Explosionen, die so laut waren, dass wir jetzt erst erkannt haben, wie ernst die Lage ist. Später wurde uns erzählt, dass der Grenzübergang selbst getroffen war. Wir fuhren in einer Kolonne von Rotlichtern zum Krankenhaus `Alnajjar`in der Stadt Rafah, von dort aus fuhr unser Team weiter zur Südstadt `Khan Younis`. Da die israelischen Panzer mittlerweile die Verbindung zwischen den Süden und der Mitte des Gaza Streifens unter Ihrer Kontrolle brachten, durften wir erst nach Koordination mit dem internationalen Roten Kreuz einen Tag später nach Gaza Stadt passieren. Die Zeit in Khan Younis nutzten wir, um das `Nasser-Krankenhaus` zu besuchen. Dorthin wurden die meisten Verletzten aus dem Süden gebracht. Als wir dort ankamen, sahen wir, wie viele Menschen sich vor dem Kühlhaus versammelten. Unsere Begleiter erklärten uns, dass die Leute nach ihren verlorenen Angehörigen suchten. Nach einem kurzen Treffen mit dem Krankenhausdirektor, der uns über die katastrophale Lage mit überfüllten Betten und Operationssälen berichtete, führten wir einen Rundgang durch die Abteilungen. Auf der Dialysestation zeigte uns der 60 jährige Pfleger die wegen fehlenden Ersatzteilen stillgelegter Dialysegeräte. Auf der Intensivstation mit 9 Betten lagen die frisch Verletzten, einige kamen gerade vom Operationssaal, darunter eine elfjähriger Junge mit Kopfverletzungen. Unseren Durchgang mussten wir abbrechen, da plötzlich eine Meldung über mehrere Verletzte nach einem Luftangriff östlich von Khan Younis durchkam. Wir eilten zur Notaufnahme, dort waren die ersten Verletzten zum Teil mit privaten Pkws angekommen. Neben subtotal amputierte untere Extremitäten waren Kopfverletzungen und einen Verletzten mit einem offenen abdominellen Explosionstrauma. Als wir im Shefaa Krankenhaus ankamen, waren schon mehrere Chirurgenteams aus verschiedenen Ländern vor Ort und haben ihre Arbeit schon aufgenommen. Zur Entlastung anderer Kollegen in den umliegenden Krankenhäusern wurden wir als Team ins Al-Quds Hospital; ein 200 Betten Krankenhaus im südlichen Teil der Stadt Gaza geschickt. Nach unserer Ankunft führten wir mit den diensthabenden Kollegen eine ausführliche Visite bei allen Patienten durch. Die meisten Verletzungen waren I. bis III. gradig offene Trümmerfrakturen, die mit Fixateur externe versorgt waren. Wir besichtigten die 2 Operationssäle, die Notaufnahme, und die Intensivstation und erstellten einen Plan über die weitere operative und nichtoperative Versorgung der Patienten. Es schien in den ersten 3 Stunden; bis auf hin und wieder zu hörende Detonationen oder Kampfflugzeugen ; ruhig zu zugehen. Wir freuten uns auf die erste ruhige Nacht. Auch die Mitarbeiter im Krankenhaus waren zuversichtlich, endlich eine Nacht zu schlafen. Kaum war es Mitternacht, so begann ein schrecklicher Alptraum, nein es war Realität. Plötzlich waren alle möglichen Arten von Explosionen zu hören, diesmal ganz dicht, als ob sich das ganze unmittelbar um das Krankenhaus sich abspielte. Es war so heftig, dass wir uns auf den Fluren versammelt haben. Mit uns waren Familien mit Kinder aus den umliegenden Hochhäusern, die Zuflucht im Krankenhaus gesucht haben. Wir warteten nur noch darauf, entweder von einer Granate getroffen zu werden, oder dass das Krankenhaus von den Soldaten gestürmt wird. Dieser Zustand dauerte die ganze Nacht und setzte sich am nächsten Tag fort. Die meiste Zeit verbrachten wir damit, Kinder und Frauen zu beruhigen und zu unterhalten. Doch die Angst war so groß, dass viele mit Sedativa versorgt werden mussten. Am nächsten Tag wurde gegen 09:00 das Lagerhaus des aus 3 Gebäuden bestehenden Krankenhauses offensichtlich von einer Granate und stand in Flammen. Eine zweite Granate schlug in die Krankenhausapotheke ein. In den Gängen des Krankenhauses verbreitete sich ein intensiver Gasgeruch, so dass wir Mundschutzmasken verteilt haben. Auf dem Hinterhof wurden viele verstreute brennende Körper mit starker weißer Rauchentwicklung gesichtet und von uns fotografiert. Das Klinikgebäude war mit dem Lagerhaus über ein mittleres Gebäude verbunden. Da das Feuer nicht unter Kontrolle zu bringen war, die Feuerwehr und ICRC verweigerten sich nähern und die Kämpfe draußen weitergingen, befürchteten wir ein Massaker im Krankenhaus. Nach der Evakuierung aller Patienten und Flüchtlinge in den Erdgeschoss, sicherten die Fluchtwege und appellierten über die Presse an die internationale Gemeinschaft, sich einzubringen, um ein Desaster zu verhindern. Zum Glück gab es offensichtlich gegen Mittag eine Feuerpause, so dass die Einwohner in Uno-Fahrzeugen in den umliegenden UNO-Schulen evakuiert wurden, und die Feuerwehr das Feuer löschen konnte. Jetzt wurden auch die Verletzten ins Krankenhaus gebracht. Zusammen mit dem lokalen Ärzteteam konnten wir trotz des Mangels an Instrumenten und Medikamenten mehrere erfolgreiche Operationen durchführen. So verbrachten wir den ganzen Abend im Operationssaal. Unter den operierten Fällen war ein 7 jähriges Mädchen, das von 2 Granatsplittern erfasst wurde. Ein Splitter trat in ihrem Körper von der Re. Flanke, ging durch das Retroperitoneum, das kleine Becken, verletzte das Rektum und blieb am in den Beckenknochen stecken. Eine 2. Splitter traf sie am Unterkiefer, führte zu einer Trümmerfraktur der Mandibula und zerstörte Unterkieferzähne. Während der Operation war das Geschrei der Mutter vor dem Operationssaal zu hören. Nach der Blutstillung im Bauchraum verlegten wir das Kind ins Zentralkrankenhaus zur Versorgung seiner Unterkieferfraktur. Am nächsten Tag hörten wir, das Kind sei dort 12h später auf der Intensivstation verstorben. Gegen Mitternacht wollten uns ein wenig ausruhen. Plötzlich brach erneut Panik aus. Ein neues Feuer erfasst diesmal das Dach des 5 stöckigen Klinikgebäudes, indem wir uns in 2 Stock befanden. Mitarbeit und eine neue Gruppe zufluchtsuchender Familien wollten sich auf die Straße flüchten, wo neue Kämpfe entstanden waren. So waren wir gezwungen, trotz der unsicheren Lage auf der Straße, alle Patienten, auch die bettlägerigen in ihren Betten auf die Straße zu tragen. 3 Frühgeborgene in ihren Inkubatoren und 3 künstlich beatmete Patienten aus der Intensivstation wurden ebenfalls evakuiert. So sind wir in einer Kolonne von ca. 400 Seelen mitten in der Nacht auf der Asphaltstraße in Richtung Shefaa Krankenhaus marschiert. Darunter weinende Frauen, schreiende Kinder, hilflose alte Frauen und Männer, schmerzgeplagte bettlägerige Patienten, die auf unebene Straße geschoben werden. Nach ca. 400m kamen endlich mehrere Krankenwagen und evakuierten die hilfslosen Menschen. Zum Glück wurde kein Patient zurückgelassen. Eine erneute Katastrophe konnte zum Glück abgewendet werden. Wir nahmen unsere Arbeit in Shafaa Krankenhaus am nächsten morgen wieder auf. Dort behandelten wir, zusammen mit anderen Ärzteteams, viele Verletzungen. Unsere Beobachtungen ergaben folgende Arten von Verletzungen: 1. total oder subtotal amputierte untere Extremitäten, wobei die amputierte Extremität ausgedehnte tiefe Weichteildefekte von Haut, Subcutis und Muskulatur mit Verbrenungsnekrosen, die bis auf das Periost reichen. Die Knochen zeigen Mehretagentrümmerfrakturen. Die Weichteile proximal der Amputationsstelle weisen ebenfalls weit verstreute unterschiedlich tiefe Verbrennungen der Weichteile mit ausgestanzten Defekten. Klinisch und radiologisch konnten keine Splitter nachgewiesen werden. 2. kreislaufinstabile Verletzte mit sehr hohem Transfusionsbedarf ohne äußerlich sichtbare großflächigen Verletzungen. Wegen der rapiden Verschlechterung des Kreislaufs und der fehlenden diagnostischen Mittel wie Sonographie wurden diese Patienten einer explorativen Laparotomie und manchmal auch Thorakotomie. Bei einigen Patienten wurden IV. Gradige Leber oder Milzrupturen festgestellt, bei vielen anderen konnten keine makroskpoischen Blutungsquellen festgestellt. Bei diesen Patienten sahen Hinweise auf diffuse mikroskopische Gewebszerstörung mit Organeinblutungen, wie z.B. bei der Lunge. Das Lungenparenchym war eingeblutet, ohne Verletzung großer Pulmonalgefäße. Solche Verletzungen könnten auf sog. `Blust Injuries` hindeuten. 3. großflächige Verbrennungen, die z.T. tief bis zum Knochen reichen. Diese Patienten wurden , soweit sie keine weiteren Verletzungen hatten, direkt auf die Verbrennungsstation verlegt. Andere Verletzungen wie Kopfverletzungen, Inhalationstraumata, Augenverletzungen, Frakturen und Verletzungen im Gesichtsbereich wurden von entsprechenden Spezialisten behandelt. Auf den Rundgängen durch die überfüllten Stationen mussten wir erleben, wie das Leiden der Verletzten sich fortsetzte. Fehlendes Verbandsmaterial und katastrophale Hygiene prägten das Bild in den Patientenzimmern. Übelriechende nässende Wunden konnte man schon vor Abnahme der Verbände riechen. Schmerzgeplagte Patienten mussten ohne Schmerzmittel auskommen, auch aufwendige Verbände wie an offenen Amputationsstümpfen wurden ohne jegliche Analgesie durchgeführt. Nach einer ereignisreichen stressigen schlaflosen Woche waren wir auch erschöpft. Unsere Erlebnisse trugen nicht gerade zu Freude bei. Unheimlich erleichternd war die Erklärung des Waffenstillstands. Jetzt können wir ein wenig aufatmen und beginnen die liegengebliebenen vernachlässigten Patienten zu versorgen. Wir stellen einen 24 stündigen Operationsplan in 2 Schichten und verteilten entsprechend die freiwillig eingereisten Spezialisten in 2 Schichten, um die ganzen Folgeoperationen und Revisionen durchzuführen. Leider endete unsere Mission am 19.01.2009. Wir verließen den Gaza Streifen mit einem schweren Herz, weil wir um die kaum bewältigbare medizinische Herausforderung zur Aufarbeitung der Kriegsfolgen wissen. Mehr denn je ist uns bei diesem Einsatz unter extremen z.T. lebensgefährlichen Bedingungen unsere humanitäre Verpflichtung und Verantwortung gegenüber hilfloser unschuldiger ziviler Kriegsopfer klar geworden. Unser Team sowie andere waren zum Schluss entschlossen, in den Gaza Streifen zurückzukehren und beim Wiederaufbau des Gesundheitssystems zu helfen. Autor: Dr. med. Muneer Deeb Arzt für Chirurgie und Visceralchirurgie Vorsitzender PalMedDeutschland e.V. Stellvertr. Vorsitzender PalMedEurope m.deeb@palmedeurope.net |