Schauplatz Tibet
Eine widerliche Variante von Rassismus gegen Chinesen
Ich bin gegen den Boykott der Olympischen Spiele in Peking - Jean-Luc Mélenchon, Mitglied des Senats (Oberhaus der französischen Nationalversammlung) für die Sozialistische Partei, 7.4.2008 - in der Übersetzung von Helmut Ettinger

Jean-Luc Mélenchon

Ich bin kein chinesischer Kommunist und ich werde nie einer sein. Aber ich bin nicht einverstanden mit den Aktionen für einen Boykott der Olympischen Spiele. Ich habe etwas gegen das Agieren von Robert Ménard [Generalsekretär von 'Reporter ohne Grenzen'] gegen diese Spiele. Ich lehne es ab, wie bei dieser Operation die Geschichte Chinas umgeschrieben wird. Ich teile nicht die scheinheilige Begeisterung für den Dalai Lama und das Regime, das er verkörpert. Für mich wäre der Boykott der Spiele ein ungerechter und verletzender Affront gegen das chinesische Volk. Wenn man das Regime von Peking generell in Frage stellen wollte, hätte man das in dem Moment tun müssen, als Peking die Olympischen Spiele zugesprochen wurden. Man hätte China als Kandidat ablehnen und dies China sagen müssen. Was jetzt geschieht, ist eine billige, ungerechte Beleidigung der Millionen Chinesen, die sich die Spiele gewünscht haben und sie jetzt aktiv vorbereiten. Für mich hat das Ganze einen üblen Beigeschmack von Rassismus.

Ein Vorwand

Wenn ein Boykott mit derart schwerwiegenden Folgen organisiert werden soll, dann dürfte der Sport, der etwas mit Offenheit und Verbrüderung zu tun hat, nicht der rechte Platz dafür sein. Warum kein Boykott im Bereich von Handel und Finanzen? Selbstverständlich schlägt keiner der prominenten Aktivisten dieser Kampagne etwas Derartiges vor. Wenn man wirklich etwas gegen die chinesische Regierung vorzubringen hat, warum wird dann das Mindeste, was zu normalen zwischenstaatlichen Beziehungen gehört, in diesem Fall nicht unternommen? Hat man sich an den Präsidenten der Volksrepublik China gewandt? Wie viele der Protestierer wissen überhaupt, wie er heißt? Hat man ihm Fragen gestellt? Was hat er geantwortet? Hat man sich an den chinesischen Ministerpräsidenten gewandt? (Wie hieß der doch gleich?) Ist der chinesische Botschafter in Frankreich einbestellt worden und hat man ein Gespräch mit ihm geführt?

Mit einem Dünkel, der einen rassistischen Beigeschmack hat, protestiert man gegen eine Regierung, deren führende Vertreter nicht beim Namen genannt werden und die man behandelt, als existiere sie gar nicht. Das arrogante Abendland bringt es nicht fertig, die Namen derer korrekt zu nennen, die die Schicksale eines Volkes von 1,4 Milliarden Menschen lenken. Letztere hält man für so schwach, dass sie sich nur von der politischen Polizei beherrschen lassen! Wenn ich das alles sehe, dann erinnert mich das irgendwie an die Verachtung, die die Kolonisatoren demonstrierten, als sie seinerzeit die Chinesen mit der Waffe in der Hand zum Opiumhandel zwangen. Wenn man sich gegen das politische Regime von Peking wenden will, dann sind die dafür angewandten politischen Mittel allein darauf gerichtet, die öffentliche Meinung des Westens zu diesem Thema nun endgültig gleichzuschalten.

Die Vorfälle in Tibet sind ein Vorwand. Ein Vorwand, geschaffen für ein Publikum, das gewohnt ist, die ständige Wiederholung von Bildern als Beweis zu nehmen, statt selber nachzudenken. Dabei ergibt schon ein genaueres Betrachten dieser Bilder, dass die „Vorfälle von Tibet“ mit einem Pogrom von „Tibetern“ gegen chinesische Händler begonnen haben. In welchem Land der Welt wird gegen solche Ausschreitungen nichts unternommen? Ist das Leben eines chinesischen Händlers weniger wert als das eines „tibetischen“ Demonstranten, der ihn mit dem Knüppel auf der Straße erschlägt? Hier Freundschaft für die Tibeter zu bekunden, ist nichts anderes, als eine widerliche Variante von Rassismus gegen Chinesen zu demonstrieren. Dieser wird von Fiktionen gespeist, die aus Unwissenheit herrühren. Dass die Gegenmaßnahmen hart waren, kann als gesichert gelten. Wie hat man sie zu bewerten? Die einzigen Zahlen, die gebetsmühlenartig wiederholt werden, sind die der „tibetischen Exilregierung“. Dabei hat die chinesische Regierung, wenn ich richtig informiert bin, selbst eine Zahl von Toten und Verwundeten genannt, die zeigen, dass auch sie den Ernst der Lage eingesteht. Unter allen Umständen sollte man diese Informationen vergleichen. Man sollte versuchen, den Ablauf der Ereignisse zu verstehen. Auch in französischen und amerikanischen Vorstädten werden Straßenkrawalle mit harter Hand unterdrückt. Das entschuldigt nichts. Aber es erlaubt, diese Vorgänge zu anderen ins Verhältnis zu setzen.

Eine suspekte Person

Ich bringe hier meine klaren Vorbehalte zu den politischen Aktionen von Robert Ménard, dem Hauptorganisatoren der antichinesischen Kundgebungen in Frankreich, zum Ausdruck. Angeblich spricht er im Namen der „Reporter ohne Grenzen“. Aber diese Organisation scheint im Moment allein aus Herrn Ménard zu bestehen. Viele ehemalige Mitglieder des Verwaltungsrates könnten eine Menge über das Demokratieverständnis dieses Herrn gegenüber seinem eigenen Verband erzählen. Maxim Vivas hat eine sehr beunruhigende dokumentarische Analyse über Ménard und dessen Finanzierungsquellen erarbeitet. Wie dem auch sei, er scheint heute im Namen aller zu sprechen – des Journalistenverbandes, der internationalen Menschenrechtsorganisationen und selbst Amnesty International. Manchmal spricht er sogar für den Dalai Lama. Er fordert den Boykott der Spiele, was der Dalai Lama nicht tut. Der hat, im Gegenteil, erklärt, das chinesische Volk verdiene diese Spiele. Robert Ménard ist ein Verteidiger der Menschenrechte mit sehr variabler Geometrie. Hat er eine einzige Aktion gestartet, und sei sie auch nur symbolischer Art, als die USA die Folter legalisiert haben? Hat er sich ein einziges Mal dafür eingesetzt, dass die Häftlinge von Guantanamo das Recht auf anwaltlichen Beistand erhalten? Robert Ménards Verhalten wirft schwerwiegende Fragen danach auf, von welchen Motiven er sich leiten läst.

Das theokratische Regime ist nicht zu verteidigen

Tibet gehört seit dem 14. Jahrhundert zu China. Lhasa stand schon unter chinesischer Hoheit, lange bevor Besançon oder Dôle unter die des französischen Königs kamen. Ein Ereignis der chinesischen Revolution als „Einmarsch“ von 1959 zu beschreiben, ist irreführend. Spricht jemand davon, dass Frankreich in die Vendée „einmarschiert“ sei, als die Armeen der Republik dort den Aufstand der Royalisten niederwarfen? Der Dalai Lama und andere tibetische Würdenträger haben alles akzeptiert, was das kommunistische China ihnen nach 1951 angeboten hat. So hat zum Beispiel „Seine Heiligkeit“ es nicht verschmäht, den Posten des stellvertretenden Vorsitzenden des Nationalen Volkskongresses (Parlament) auszuüben. Das lief so bis 1956, als das kommunistische Regime beschloss, in Tibet und den angrenzenden Gebieten die Leibeigenschaft zu beseitigen. Mit dem Bruch einer Tradition, den ich voll und ganz billige, haben die Kommunisten Vorschriften abgeschafft, die die Bevölkerung in drei Kategorien und neun Klassen einteilten, wo das Menschenleben von sehr verschiedenem Wert war. So hatten die Besitzer der Leibeigenen und Sklaven das Recht der Entscheidung über deren Leben und Tod, einschließlich der Folter. Heute spricht niemand mehr davon, welchen Status die Frauen im alten Tibet hatten. Aber man kann sich darüber informieren, wenn es einen interessiert. Der kommunistische Staat hat den gewaltsamen Kämpfen zwischen Lokalfürsten des angeblichen Paradieses der Gewaltlosigkeit ein Ende gesetzt, ebenso den blutigen Strafen, die die Mönche an Verletzern der von ihnen gehüteten religiösen Vorschriften vollzogen. Die tibetische Version der Scharia hat erst mit den Kommunisten ein Ende gefunden.

Der Aufstand von 1959 wurde von den USA im Rahmen des kalten Krieges vorbereitet, bewaffnet, unterstützt und finanziert. Der schreckliche „Einmarsch“ setzte der gesegneten Tradition des Regimes des Dalai Lamas ein Ende. Seitdem gehen 81 Prozent der Kinder in Tibet zur Schule, während es in der Zeit der Tradition nur zwei Prozent waren. Die durchschnittliche Lebenserwartung der ehemaligen Leibeigenen des Tals der Tränen von 35,5 Jahren ist in der heutigen chinesischen Hölle auf 67 Jahre gestiegen. Ebenso wie sich die „Vernichtung“ der Tibeter darin zeigt, dass ihre Zahl seit 1959 von einer Million auf 2,5 Millionen angestiegen ist. Aus all diesen Gründen ist mehr Umsicht und mehr Respekt für die Chinesen angesagt als die Verbreitung lächerlicher Klischees durch Leute, die weder für sich selbst, noch für ihre Frauen und Kinder ein so jammervolles Regime wünschen, wie das der buddhistischen Mönche von Tibet eines war.

Ich kann der „tibetischen Exilregierung“, in der Seine Heiligkeit fast in allen Fragen das Sagen hat, keine Sympathie abgewinnen. Auch nicht der Tatsache, dass ihr Mitglieder seiner Familie angehören, was für eine Regierung, auch im Exil, doch sehr ungewöhnlich ist, von Schlüsselposten in Finanzen und Verwaltung ganz zu schweigen. Ich respektiere das Recht Seiner Heiligkeit, an das zu glauben, was er verkündet. Aber ich nehme mir das Recht, das Konzept seines theokratischen Regimes grundsätzlich in Frage zu stellen. Ich bin auch total dagegen, Menschen schon im Kindesalter in Klöster zu stecken. Ich bin gegen die Leibeigenschaft. Ich bin durch und durch ein Verfechter der Trennung von Kirche und Staat und damit auch gegen jede politische Machtausübung durch Religionsführer. Ich missbillige grundsätzlich die Stellungnahmen des „Gottkönigs“ gegen die Abtreibung und gegen die Homosexuellen. Wenn diese auch so gewaltfrei klingen und stets von einem Lächeln begleitet sind, so halte ich sie für ebenso archaisch wie sein ganzes theokratisches Konzept. Ich bin zwar gegen den Schah von Iran gewesen, habe aber auch niemals Ayatollah Chomeini unterstützt. Daher kann ich auch den Dalai Lama nicht unterstützen oder ermutigen, weder in seiner Religion, die mich nichts angeht, noch in seinen politischen Ansprüchen, die ich missbillige, oder gar seinen separatistischen Ambitionen, die ich verurteile. Für mich erhebt sich zum Beispiel die Frage, wozu der Dalai Lama einen Staat braucht, wenn er seine Religion ausüben und seine Gläubigen führen will? Einen Staat, den zu errichten, bedeutete, von China ein Viertel des heutigen Territoriums abzutrennen! Würde seine moralische und religiöse Autorität leiden, wenn er kein Gottkönig wäre?

Kriegshetze

Was das Völkerrecht und die Geopolitik betrifft, so ist das Tibetprojekt, wie es heute so vehement verfochten wird, ein Faktor von Gewalt, Krieg und Destabilisierung, der mit den Vorgängen auf dem Balkan vergleichbar ist. Was für ein Tibet wird hier eigentlich gefordert? „Groß-Tibet“, einschließlich der Provinzen Yunnan und Sichuan, wo im ehemaligen Herrschaftsbereich der Mönche gleichzeitig mit Lhasa Unruhen organisiert wurden? Zweifellos will kaum einer von denen, die sich heute so über Tibet erregen, wirklich wissen, was dies in der Praxis bedeutet. Nichts charakterisiert besser den neokolonialistischen Paternalismus der probtibetischen Kampagne als die Gleichgültigkeit gegenüber solchen Fragen, die Millionen von Menschen und Jahrhunderte chinesischer Geschichte und Kultur einfach so in Frage stellen.

Ich habe gelesen, dass die französischen Sportler ein T-Shirt mit einer sehr allgemeinen Aufschrift tragen werden, die als politischer Protest gedacht ist. Ich weiß sehr gut, dass das Motto „Für eine bessere Welt“ dort nicht rebellischer klingt als hier. Aber es könnte von den Chinesen als unfreundlicher Akt aufgefasst werden, wenn es als eine pro-Dalai-Lama-Losung präsentiert wird. Ohnehin liegt es ziemlich neben den Regeln und Gebräuchen des internationalen Sports. Erinnern wir uns, dass der Europäische Schwimmverband den Serben Milorad Cavic von der Europameisterschaft im Schwimmen ausgeschlossen hat, weil er bei der Siegerehrung ein T-Shirt mit der Aufschrift „Das Kosovo ist serbisch!“ getragen hat. Wird das berücksichtigt werden? Werden französische Medaillengewinner, die mit einer als politisch präsentierten Losung auftreten, von den Spielen ausgeschlossen? Natürlich nicht! Dabei bedeutet Tibet für die Chinesen mindestens so viel wie das Kosovo für die Serben. Vielleicht hinkt ja dieser Vergleich, außer, man berücksichtigt die Absicht, den Gegner zu zerstückeln und sich selbst in Szene zu setzen. Dabei ist durchaus wahrscheinlich, dass am Ende die Angreifer das Nachsehen haben. Das wünsche ich sehr. Ich weiß, dass die Interessen meines Landes und seine Werte nicht die sind, die man uns gegenwärtig gern einreden möchte.

Quelle der französischen Originalversion: jean-luc-melenchon.fr


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