Operation Nordafrika |
Libyen: Überlegungen über den drohenden 'Preis der Freiheit' Joachim Guilliard, 9.4.2011 Libyen hat den höchsten Lebensstandard in Afrika. Das „Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen“ (UNDP) bescheinigte dem Land beste Aussichten, die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen bis 2015 zu erreichen. Der NATO-Krieg dürfte diese Hoffnungen bereits zerstört haben. Dem Land droht nun ein Absturz wie im Irak. Wenig hat man in den letzten Jahren über Libyen gehört, das Verhältnis zum Westen hatte sich entspannt, europäische Regierungschefs trafen sich nun oft mit ihrem libyschen Kollegen, Muammar al-Gaddafi, die Geschäfte blühten. Im Zuge der Kriegsvorbereitung wurde das Land in plötzlich zur übelsten Diktatur. Auch viele Kriegsgegner übernehmen die Charakterisierung und wünschen den Sturz des „Tyrannen“ Gaddafi. Doch lässt sich das libysche Gesellschaftssystem tatsächlich auf „Revolutionsführer“ Gaddafi reduzieren, sind die Verhältnisse in Libyen tatsächlich schlimmer als in hundert anderen Ländern und gibt es nicht wesentlich mehr Faktoren, die die Lebensverhältnisse eines Landes bestimmen, als die bürgerlichen Freiheiten? Für Richard Falk, den UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte in Palästina ist „der „Grad der Unterdrückung“ in Libyen nicht „durchdringender und schwerer“ als in anderen autoritär regierten Ländern. (1) Auch nach den Länderberichten von Amnesty International unterscheidet sich die Menschenrechtssituation Libyens kaum von unzähligen anderen Staaten, bei arabischen Verbündeten in der Nato-Kriegsallianz, wie Saudi Arabien, ist sie wesentlich schlimmer. Der UN-Menschenrechtsrat hat das Land im Bericht zur jüngsten „allgemeinen regelmäßigen Überprüfung“ Libyens, die Ende letzten Jahres vorgenommenen wurde, sogar für seine Fortschritte bei den Menschenrechten gelobt. Zahlreiche Länder – darunter Venezuela und Kuba, aber auch Australien und Kanada – hoben in ihren Erklärungen einzelne Aspekte noch besonders hervor. (2) Für westliche Medien ist dieser Bericht, dessen abschließende Diskussion nun kurzfristig von März auf Juni verschoben wurde (3), ein Skandal (für sie eine Folge der vielen, selbst noch „wenig zivilisierten“ Mitglieder des Menschenrechtsrats aus dem Süden). Doch betrachtet dieser die Lebensverhältnisse nur unter einem anderen Blickwinkel und legt sehr großes Gewicht auf die Verwirklichung sozialer Rechte, d.h. auf das was für meisten Menschen die größte Bedeutung hat: die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse, ausreichendes Einkommen, Nahrung, Wohnung, Gesundheitsversorgung und Bildung. Auch in dieser Hinsicht ist die Situation in Libyen, angesichts von Korruption oder hoher Jugendarbeitslosigkeit, durchaus nicht befriedigend. Im Vergleich mit anderen Ländern stehen die Libyer aber dennoch recht gut da und haben sehr viel durch die NATO-Intervention zu verlieren. So wird zwar oft auf eine Jugendarbeitslosigkeit von 15 bis 30 Prozent hingewiesen, aber nicht erwähnt, dass in Libyen im Unterschied zu anderen Ländern dennoch alle ihr Auskommen haben. Der relativ hohe Lebensstandard erklärt auch, warum Gaddafi durchaus noch Rückhalt im Land hat – besonders, so der Libyenexperte Andreas Dittmann, unter den älteren Generationen, die sich noch an die früheren Zeiten erinnern. (4) "In Libyen gibt es vielleicht Millionen Menschen, die Gaddafi nicht mögen, aber sehr wohl seine Errungenschaften schätzen" so der bekannte norwegische Friedensforscher Johan Galtung. (5) Sanktionen und niedriger Ölpreis bremsten Entwicklung Als 1969 der, von den USA und den Briten eingesetzte König Idris gestürzt wurde, war Libyen trotz der 1961 angelaufenen Erdölexporte noch ein armes, vom Kolonialismus schwer gezeichnetes, unterentwickeltes Land. Die schrittweise Nationalisierung der Ölproduktion ermöglichte eine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung und rasche Verbesserungen der Lebensbedingungen. Mit dem drastischen Einbruch des Ölpreises zwischen 1985 und 2001 geriet diese Entwicklung ins Stocken. Die 1993 verhängten UN-Sanktionen verschärften die wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch enorm. Das Bruttoinlandsprodukt BIP sank von 6.600 pro Kopf im Jahr 1990 auf 3.600 in 2002 und wuchs erst nach der Aufhebung der UN-Sanktionen im September 2003 wieder deutlich. (6) (Die USA hoben ihre unilateralen Sanktionen erst zwischen ab 2004 und Juni 2006 schrittweise auf. (7)) 2008 erreichte das BIP laut UNDP pro Kopf 16.200 US-Dollar. (Zum Vergleich das BIP von Ägypten betrug im selben Jahr 5.900, das Algeriens und Tunesiens ca. 8.000 Dollar. Saudi Arabien hatte ein BIP von ca. 24.000, Kuwait von 51.500 und Katar von 72.000 Dollar.) (8) Die Wirtschaftssanktionen blockierten eine Modernisierung der Infrastruktur und brachten insbesondere auch alle Pläne, neben dem Erdöl auch andere Industriezweige zu entwickeln, nahezu zum Erliegen. (9) Der wirtschaftliche Niedergang bremste natürlich auch die Entwicklung in sozialen Bereichen. Libyen sackte beim “Human Development Index” (HDI), der anhand einiger Basisindikatoren wie Lebenserwartung, Kindersterblichkeit und Alphabetisierung das Entwicklungs- und Lebensniveau eines Landes zu messen sucht, Mitte der 90er vom 67. auf den 73. Platz ab. Hoher Lebensstandard erreicht Nachdem die Staatseinnahmen, unterstützt durch den Anstieg des Ölpreises, wieder reichlich flossen, verbesserten sich auch die Lebensbedingungen wieder deutlich. Das Land liegt mittlerweile auf HDI-Rang 53, vor allen anderen afrikanischen Ländern und auch vor dem reicheren und vom Westen unterstützten Saudi Arabien. Mit „Regierungs-Subventionen in Gesundheit, Landwirtschaft und Nahrungsimport“, bei „gleichzeitiger Steigerung der Haushaltseinkommen“ konnte nun die „extreme Armut“ praktisch beseitigt werden, stellt die UNDP in ihrem Monitor der Millennium-Entwicklungsziele fest. (10) Die Lebenserwartung stieg auf 74,5 Jahren und ist damit jetzt die höchste in Afrika. Sie ist nun auch fast eineinhalb Jahre höher als in Saudi Arabien, nachdem es 1980 noch genau umgekehrt war. (11) Die Kindersterblichkeit sank auf 17 Tote pro 1000 Geburten und ist damit nicht halb so hoch wie in Algerien [41] und auch geringer als in Saudi Arabien [21]. (12) Libyen liegt auch bei der Versorgung von Schwangeren und der Reduzierung der Müttersterblichkeit vorne. Die Malaria wurde vollständig ausgerottet. Noch stellen, so die UNDP, mangelnde personelle Ressourcen im Gesundheitswesen ein Problem dar, „die graduelle Reintegration des Landes in die internationale Wirtschaft,“ nach Aufhebung der Sanktionen“ führte aber „zu einer besseren Verfügbarkeit der Gesundheitsversorgung. Die Regierung bietet allen Bürgern eine freie Gesundheitsversorgung und erreichte eine hohe Abdeckung in den meisten Basis-Gesundheitsbereichen. [[Die Regierung hob zudem das Entwicklungsbudget des Gesundheitswesens deutlich an und hat klare, umfassende Strategien gegen HIV/AIDS und Tuberkulose vorbereitet.“ Libyen werde daher die Millennium-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen erreichen.]] (13) Der Analphabeten-Rate sank in Libyen auf 11,6% und liegt deutlich unter der von Ägypten (33,6%), Algerien (27,4%), Tunesien (22%) und Saudi Arabien (14,5%). (14) Der vom UNDP ebenfalls berechnete Bildungsindex, in den neben der Alphabetisierung auch die Zahl von Schülern in höheren Schulen und Studenten eingeht, liegt sogar über dem der kleinen superreichen Scheichtümer Kuwait und Katar, die man an sich kaum mit den arabischen Flächenstaaten vergleichen kann. (15) Die UNDP bescheinigt Libyen „auch einen signifikanten Fortschritt in der Gleichstellung der Geschlechter“, besonders im Bereich Bildung und Gesundheit, wobei bzgl. Repräsentation in Politik und Wirtschaft allerdings noch viel zu tun sei. (16) Mit einem relativen niedrigen „Index für geschlechtsspezifische Ungleichheit“ der UNDP liegt das Land bzgl. Gleichberechtigung auf Rang 52 und damit ebenfalls weit vor Ägypten (Rang 108), Algerien (Rang 70), Tunesien (Rang 56), Saudi Arabien (Rang 128) und Katar (Rang 94). Selbst in Argentinien (Rang 60) sieht es in dieser Hinsicht schlechter aus. Angesichts dieser Erfolge kann die positive Einschätzung der Entwicklung in Libyen im Menschenrechtsrat kaum überraschen. Das Beispiel Irak Auch der Irak hatte in 1980er Jahren einen relativ hohen Lebensstandard, höher noch als der Libyens. Dieser litt bereits schwer unter dem UN-Embargo. Ihre „Befreiung“ von Saddam Hussein stürzte die irakische Gesellschaft dann vollends in den Abgrund. Der Zerfall schreitet noch immer fort. Millionen Iraker hungern, und der Nahrungsmangel weitet sich sogar noch aus. Die Hälfte der knapp 30 Millionen Einwohner lebt nun in äußerster Armut. 55 Prozent haben kein sauberes Trinkwasser, 80 Prozent sind nicht an das Abwassersystem angeschlossen. Strom gibt es nur stundenweise, die einst vorbildlichen Gesundheits- und Bildungssysteme liegen am Boden. Die Kindersterblichkeit würde bei Fortsetzung der Entwicklung in den 1980er Jahren heute deutlich unter 20 pro 1000 Geburten liegen. (17) Tatsächlich stieg sie gemäß einer Studie der Hilfsorganisation „Save the Children“ bis 2005 auf 125. (18). Der Irak war 1987 von der UNESCO für sein Bildungswesen ausgezeichnet worden, der Analphabetismus war fast beseitigt gewesen. Nun stieg die Analphabetenrate bereits auf über 25%, in manchen Gegenden beträgt sie bei Frauen schon 40-50%. Generell haben die irakischen Frauen ihre einst recht gute Stellung in der Gesellschaft verloren. Gemäß UNDP-Index fielen sie auf das Niveau von Saudi Arabien. (siehe Irak - Die vergessene Besatzung) Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass ein von den Nato-Staaten durchgesetzter „Regime Change“ in Libyen viel besser für das Land ausgehen würde, (von einem langem Bürgerkrieg und einer Teilung des Landes ganz zu schweigen). Schließlich sind die angreifenden Mächte und ihre Agenda nahezu identisch und ähnelt auch die Führung der Aufständischen in vielem den Irakern, die die USA im Irak an die Regierung brachten – radikale islamische Organisationen und pro-westliche, neoliberale Verfechter einer vollständigen Öffnung und Privatisierung der Wirtschaft des Landes. Hinweis: Wikipedia taugt nur bedingt zum Beleg statistischer Daten. Sobald sie in der aktuellen politischen Auseinandersetzung eine Rolle spielen, besteht die Gefahr der Manipulation. Nachdem David Rothscum am 23.2.2011 einen Artikel veröffentlichte, (19) in dem er u.a. schrieb, dass in Libyen prozentual weniger Menschen unter der Armutsgrenze leben, als in den Niederlanden, wurden die Angaben im Wikipedia-Beitrag „List of countries by percentage of population living in poverty“ auf den er sich bezog geändert. Wo am 15.2. noch ein Wert von 7,4 % stand, findet man seit dem 6.3. nun einen Verweis auf eine Fußnote, in der ohne Quellenangabe behauptet wird, dass „rund ein Drittel der Libyer an oder unter der nationalen Armutsgrenze“ leben würde. Fußnoten: [1] Richard Falk, Kicking the intervention habit, Aljazeera, 13.3.2011 [2] Report of the Working Group on the Universal Periodic Review of Libyan Arab Jamahiriya, HRC, 4.1.2011 siehe auch: UN Praised Libya's Human Rights Record, Mathaba, 8.4.2011 und Felicity Arbuthnot, Libya : Oil, Banks, the United Nations and America's Holy Crusade, Global Research, 5.4.2011 [3] Human Rights Council concludes sixteenth session, UNHRC, 25 Mar 2011 [4] Libyen-Experte sieht Proteste gegen Gaddafi als Jugendrevolte, Protestpotenzial aber nicht vergleichbar mit Nachbarländern, Andreas Dittmann im Gespräch mit Marcus Pindur, DRadio, 18.02.2011 [5] The West's War Against Gaddafi - Yet another long-lasting, tragic crime against humanity, IPS, Global Research, 6.4.2011 [6] GDP per capita in current US-Dollar, Weltbank, World Development Indicators data.worldbank.org [7] CIA World Factbook, Stand 16.2.2011 [8] GDP per capita 2008 PPP (Kaufkraftparität), UNDP, International Human Development Indicators, Database, abgerufen 1.4.2011 [9] Siehe u.a. Jean-Pierre Sereni, Am Anfang war der Rote Scheich – Eine kleine Geschichte des libyschen Öls, Le Monde diplomatique, 8.4.2011 [10] Millennium Development Goals -- Goal1 - Goal 8, UNDP-Büro Libyen, abgerufen 1.4.2011 s. auch die Factsheets des Millennium Development Goals Monitor. [11] UNDP, International Human Development Indicators a.a.O. [12] WHO, Global Health Indicators 2010 [13] Millennium Development Goals -- Goal1 - Goal 8, UNDP-Büro Libyen, abgerufen 1.4.2011 s. auch die Factsheets des Millennium Development Goals Monitor. [14] Human Development Report 2010, Webseite der UNDP Nach WHO GHI 2010 für 2000-2007: Libyen 13%, Ägypten 34%, Algerien 25%, Saudis 15% [15] siehe UNDP, Arab Human Development Reports 2009 sowie UNDP, Human Development Report 2009 [16] Millennium Development Goals -- Goal1 - Goal 8 a.a.O. [17] Humanitäre Hilferufe – Untersuchungsberichte von UN- und anderen Hilfsorganisationen über die Auswirkungen des Embargos, Göbel, Guilliard, Schiffmann (Hg.) "Der Irak – ein belagertes Land – Die tödlichen Auswirkungen von Krieg und Embargo, PapyRossa Verlag, Köln 2001 [18] State of the world's mothers 2007 - Saving the lives of children under 5, Save the Children, Mai 2007 Die WHO gibt zwar für 2008 mit 45 eine wesentlich geringere Rate an, doch auch diese Sterblichkeitsrate ist, wie auch die Müttersterblichkeit, zwei- bis dreimal so hoch wie in den Nachbarstaaten [19] David Rothscum, The World Cheers as the CIA Plunges Libya Into Chaos, davidrothscum.blogspot.com, 23.2.2011, Global Research, 2.3.2011 Quelle: www.antikriegsforum-heidelberg.de/afrika/libyen/libyen_preis_der_freiheit.pdf |
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